Anlässlich der Anschlagsserie in Paris am gestrigen Abend stellt sich nach der Trauer und der Fassungslosigkeit die Frage nach der richtigen Reaktion auf das Unfassbare. Im Juni 2013 habe ich folgenden Text verfasst, der zwei Jahre später leider nichts an Aktualität verloren hat. Wer Fortschritt will, schrieb ich damals, darf sich nicht mit Entsetzen und Wegschauen zufriedengeben. Meine Gedanken sind mit den Angehörigen der Opfer von Paris, Beirut und dem Sinai.

 

Ich dachte, mich könnte nichts mehr erschrecken. Ich dachte, wir hätten alles schon gesehen. Zerfetzte Körper, blutüberströmte Straßen, tote Babys in den Armen schreiender Mütter. Bis ich heute via Facebook einen Link zu einem Video geschickt bekam, das mir fast den Verstand geraubt hat.

Es trägt den abstoßenden Titel »Vergewaltigung von Christinnen am helllichten Tag unter Jubelschreien.« Leider zeigt es nichts anderes, als der Titel in erschreckender Weise nahe legt: Die Vergewaltigung von Frauen durch eine Gruppe Männer mitten auf einer Straße – während die Umstehenden dazu »Gott ist groß!« skandieren. Es braucht wenig Phantasie, um zu verstehen, warum ich dieses Video nicht zu Ende sehen konnte. Warum ich aufstehen musste und mir den Mund zuhielt vor Entsetzen. Und warum ich, mit einer plötzlichen Wut im Bauch, gen Himmel schrie: »Wieso lässt du so etwas zu? Verbiete es ihnen! Verbiete ihnen, so etwas in deinem Namen zu tun!«

Die Hilflosigkeit, die mich überkam, war überwältigend. Ja, theoretisch wissen wir, wozu Menschen fähig sind. Aber es so unmittelbar vorgeführt zu bekommen, darauf bereitet uns keine noch so nüchterne Erkenntnis vor. Ein ähnliches Gefühl hatte ich, als ich vor ein paar Monaten ein anderes Video sehen musste: Es zeigte ein Gebäude, aus dem Schreie und eine flehende Stimme drangen. Plötzlich erschien ein Körper am Fenster. Verzweifelt klammerte sich ein Mann mittleren Alters am Fensterrahmen fest. Doch es half ihm nichts – der Eindringling in Flecktarn warf den Mann einfach aus dem Fenster auf die Straße; er war sofort tot. Danach hörte man, wie der Filmer in die Kamera sprach: Nehmt Euch in Acht, das werden wir mit jedem von Euch machen.

Theoretisch wissen wir, wozu Menschen fähig sind. Aber es so unmittelbar vorgeführt zu bekommen, darauf bereitet uns keine noch so nüchterne Erkenntnis vor.

Die Verrohung, die in diesen kurzen Augenblicken für eine weltweite Öffentlichkeit festgehalten wird, ist an sich nichts Neues. Wir wissen von ähnlichen Szenen aus allen Epochen der Geschichte. Was neu ist: Wir können zuschauen, ohne direkt beteiligt zu sein. Wir, die wir nicht durch jahrelange Krisen und Kämpfe darauf vorbereitet sind, solche Gewaltausbrüche zu beobachten, werden kalt von ihnen erwischt. Was fangen wir mit diesem Wissen an? Was können wir daraus ziehen außer Übelkeit und blankes Entsetzen? Wem ist geholfen mit dieser Ohnmacht und dieser Wut im Bauch, die uns solche Einblicke in unsere Gegenwart bereiten?

Mit dem Frieden, den wir in Europa fast schon für selbstverständlich halten, hat das erschreckend wenig zu tun. Plötzlich wird offenbar, wie brüchig all der Fortschritt ist, den wir in unseren Breitengraden für das natürliche Produkt unserer Entwicklung halten. Frieden, Lächeln, Bürgerinitiativen, Rechtsstaat mit Knast für den Mörder und Knöllchen für den Parksünder: So sieht Leben im 21. Jahrhundert aus, voilà! Doch diese Perspektive ist spürbar beschränkt.

Was also können, ja müssen wir aus all dem Grauen lernen, dem wir täglich in den Medien begegnen? Ja, können, müssen wir überhaupt daraus lernen, oder sollten wir einfach wegschauen, so wie es sich nicht gehört, die Folgen eines Verkehrsunfalls zu begaffen, weil wir mit unserer Mischung aus Voyeurismus und Hilflosigkeit den Schaden eher noch vergrößern? Ich meine, dass wir sehr wohl etwas aus solchen Videos lernen können.

Was also können, ja müssen wir aus all dem Grauen lernen,
dem wir täglich in den Medien begegnen?

Die philosophische Lehre lautet: Es ist an der Zeit, »Kultur« neu zu definieren. Wir haben den Gedanken der Entwicklung so sehr an technischen Fortschritt geknüpft, dass wir übersehen, dass wir inmitten unserer Smartphones und eBooks menschlich betrachtet noch ziemlich alt aussehen. Es ist eine Binsenwahrheit, dass wir mit der materiellen Entwicklung um uns herum psychisch kaum Schritt halten können; warum also nicht innehalten und darüber nachdenken, wie wir unsere Freiheiten sinnvoll dazu nutzen können, uns als ethische und soziale Wesen weiterzuentwickeln?

Die praktische Lehre lautet: Jede Form der Sicherheit, der gefühlten Überlegenheit, der Unbeteiligtheit ist Illusion. Syrien, Mali, Afghanistan: All diese Länder sind nur geographisch weit weg. Man muss kein Buddhist sein, um zu begreifen, dass wir alle im selben Boot sitzen. Dass dort Menschen wie du und ich leiden und zum Täter werden; dass dort du und ich leiden und zum Täter werden, wenn so etwas in unserer Zeit, vor unseren Augen geschieht. Und das bedeutet, dass wir verantwortlich sind. Nicht in einem vergeistigten, intellektuellen Sinne, sondern ganz konkret.

Die praktische Lehre lautet: Jede Form der Sicherheit, der gefühlten Überlegenheit, der Unbeteiligtheit ist Illusion.

Die globale Gesellschaft bedeutet nicht nur, dass wir alles mitbekommen – wir können auch alles beeinflussen. Also: Genau hinsehen und protestieren. Sich engagieren, ob politisch oder sozial. Druck aufbauen auf jene, die in unserem Namen Weltpolitik gestalten. Wir bestimmen, wer Waffen liefert und wer Resolutionen verhindert. Wir bestimmen, wer von Frieden spricht, aber hintenrum Geschäfte machen will. Wir bestimmen, wie das Geschehen auf der Welt beurteilt wird. Durch die Wahlentscheidung, die wir treffen. Durch die Nachrichten, die wir lesen. Durch die Initiativen, die wir starten oder unterstützen.

Die Tatsache, dass es Menschen gibt, die Gott preisen, während sie einen anderen Menschen töten oder vergewaltigen, sollte uns ein für allemal die Augen öffnen: An Gott liegt es nicht, was wir einander in seinem Namen antun, aber er wird es aller Voraussicht nach auch nicht verhindern. Mit unserer Wut, unserer Scham, unserer Gier und unserer Angst sind wir hier unten ziemlich allein. Darum wird es höchste Zeit, das Diesseits so attraktiv zu machen, dass das Jenseits keine Entschuldigung mehr ist – egal aus welchen Motiven. 

 

Bild: twitter

Written by Nicolas Flessa

Nicolas Flessa studierte Ägyptologe und Religionswissenschaft. Der Chefredakteur von seinsart drehte Spiel- und Dokumentarfilme und arbeitet heute als freischaffender Autor und Journalist in Berlin.

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