Unser Blogger Hammed Khamis verbringt den Lockdown in einem der schrägsten Hotels von Berlin. Was er dort erlebt, schildert er in seinem Blog „Hotel Corona”. Zum letzten Teil geht es hier, zum Beginn seines Blogs hier. Hier folgt der sechste Teil.
Das schönste Zimmer im ganzen Hotel ist die Remise im Hof. Normalerweise kostet die Remise, wie wir das große anliegende Hotelzimmer im Hof nannten, 120 Euro am Tag. Durch die Pandemie und den Lockdown kann man das jetzt aber unter 1000 Euro im Monat bekommen.
„Wohnen in der Ausstellung eines bundesdeutschen Kriegsberichterstatters”, hatte der Hotelmanager einmal lachend in meine Richtung gerufen, als wäre das die neue Geschäftsidee, um wieder etwas mehr Geld mit seinem Hotel zu machen. Ich hatte ihm neun Fotografien von meiner Reise in den Irak gespendet. Und Schorsch, also der Manager des Hotels, hatte diese geschickt in der Remise aufgehängt, als handle es sich dabei um eine Art Fotoausstellung in den Räumlichkeiten des Hotels.
Die ersten, die sich in die Remise eingemietet hatten, waren zwei Mädels. Die eine fiel mir sofort wegen ihrer leuchtenden hellblauen Augen auf. Maria, so ihr Name, war eine 21-jährige Studentin aus Salzburg. Der andere, die mit ihr eingecheckt hatte, war ihre beste Freundin, Natali, eine Argentinierin aus Buenos Aires. Gemeinsam waren sie an ihrem ersten Abend in die Küche geschneit, als hätte man sie dort bereits erwartet. Jeder möchte die Mädchen auf Anhieb. Jeder? Mit einer Ausnahme…
Eine Woche nach dem Einzug der beiden erreichte uns über die WhatsApp-Gruppe des Hotels, in der jeder, der hier wohnte, einzuchecken hatte, eine Meldung. Natali hatte einen Eindringling in der Remise gesehen. Um Mitternacht war plötzlich ein Mann im Wohnzimmer der Remise gestanden, einfach so. Die Tür zur Remise ist mit einer normalen Türklinke versehen. Das heißt, dass, wenn die Mädels die Tür nicht abschließen, jeder zu den beiden rein kann, der das wünscht. Und so ist es dann auch geschehen.
Morgens beim Frühstück hatte ich nur noch einen Gedanken. Ich wollte herausfinden, wer in das Zimmer von Marie und Natali eingedrungen war. Stalking gehört sich nicht, erst recht nicht bei zwei alleinstehenden Frauen. Wer hatte den Nerv, so einen Bruch der Privatsphäre zu begehen, ohne an die Konsequenzen zu denken?
Das konnte eigentlich nur einer gewesen sein. Sebastian.
Sebastian war ein Mittdreißiger mit Halbglatze, der vor ein paar Wochen zu uns ins Hotel gezogen war. Seine fahle, ungesunde Hautfarbe, sein knochiges und in die Länge gezogenes Gesicht, sein dürrer, gekrümmter und in die länge gezogener Körper vermittelten einen schauderhaften Eindruck. Seine Kleidung, immer schwarz, bestand meistens aus einer weiten Arbeitshose, einem Hemd und Arbeitsschuhen mit Stahlkappen.
Schnell fand ich heraus, dass er sehr politisch drauf war, und das nicht in einem konstruktiven Sinne. Er hatte ein massives Problem mit unserer Kanzlerin und bezeichnete sie mit unschönen Worten, die ich hier nicht wiederholen will. Seine beiden Hauptfeinde waren der deutsche Staat und die Polizei. Und das, obwohl er zum einen von Hartz IV lebte und zum anderen dem Hotelmanager mit einer Anzeige gedroht hatte, wenn ihn die Überwachungskamera aufzeichnen würde.
Wenige Wochen nach Sebastians Einzug war es zu einem folgenschweren Streit gekommen. Als ich die Küche betrat, konnte ich sehen, wie er außer sich vor Wut in der Küchenzeile stand und dem rothaarigen Italiener, der in der Woche zuvor zu uns gestoßen war, massive Beleidigungen durch die Essensausgabe ins Gesicht schrie. Auf Englisch. Der Italiener verstand nicht viel davon. Stattdessen erwiderte er einfach Dinge in seiner eigenen Sprache. Immer wieder rief er etwas, das wie Katze oder Katzo klang, als Sebastian plötzlich einen Schraubenzieher zückte und den Raum in Richtung Lobby verließ.
Im Gehen warf er mir noch zu: „Sagt diesem Hurensohn, dass ich draußen auf ihn warte!” Schnell gab ich den anderen Bescheid, Sebastian nicht aus den Augen zu lassen, und passte auf, dass Anselmo erstmal nicht das Haus verließ.
Sebastian wirkte wie jemand, der statt Muttermilch nur Schläge von seinen Eltern bekommen hatte.
An diesem Morgen, da uns Maria und Natali von dem Einbrecher berichtet hatten, musste ich an diese Szene mit Sebastian denken. Und daran, wie aggressiv er sich immer wieder geäußert hatte, zum Beispiel, als ihn der Italiener, dessen Flurnachbar er war, völlig unbeabsichtigt verärgert hatte. Sebastian hatte in der Nacht zuvor wohl oder übel mitbekommen müssen, wie sich sein Nachbar mehrere Stunden mit einer jungen Besucherin vergnügt hatte.
Am Folgetag übertraf er sich in der Küche mit frauenfeindlichen Aussagen über die junge Dame, die sich dem Italiener wie ein Flittchen an den Hals geworfen hätte. Ich versuchte ihn zu beruhigen. „Sebastian, irgendwann hast du auch mal eine Frau bei dir im Zimmer. Dann wird sich doch auch keiner über euren Spaß beschweren.”
Er antwortete mir, dass er kein Problem damit habe, wenn ich mal eine Frau ins Hotel mitbrächte. Mit mir würde er sich deshalb niemals anlegen. Das zu hören verwirrte mich ein wenig. Gut, der Italiener ist vielleicht etwas männlicher gebaut als ich es bin oder Sebastian. Aber ist das schon Grund genug, ihm aus Neid das bisschen Zärtlichkeit in diesen Zeiten ständiger Distanz zu verübeln?
Irgendwas musste bei Sebastian heftig schief gelaufen sein. Er schien mir mehrere Krankheitsbilder aufzuweisen, auf jeden Fall mehr, als ich bis dato deuten konnte.
Was ich aber sehen konnte, war, dass er in seinem Leben nie Zuversicht oder Hoffnung gesehen hatte. Bei seinen einsamen Fressorgien in der Hotelküche, die ihm den Spitznamen Langesser einbrachten, wirkte er immer mehr wie jemand, der statt Muttermilch nur Schläge von seinen Eltern bekommen hatte.
Wahrscheinlich, so schloss ich, projiziert er seine ganze Frustration auf andere Menschen, die ihm mehr Glück in der Liebe zu haben schienen. Irgendwas scheint bei ihm schief gelaufen zu sein. Ich wollte das unbedingt wissen. Also gesellte ich mich in den folgenden Tagen etwas mehr zu ihm und hörte ihm gut zu. Bis er mir eines Morgens anvertraute: „Gestern Nacht habe ich in meinem Traum Aliens mit einer Pumpgun abgeknallt. Alle hatten den Kopf von Anselmo, dem Italiener.”
An diesem Tag setzte ich mich vor das Hotel und wartete darauf, bis Mustafa von der Arbeit kam. Ich wollte mit ihm über Langesser sprechen. Bei einer Zigarette und einem Bier im Hof hatte mir Mustafa einmal erzählt, dass er sich wünschen würde, dass ich als Journalist mehr wahrgenommen würde. Dass er und seine Kollegen auf der Arbeit meinen Namen gegoogelt und meine Texte gelesen hätte. Und dass ihm die Art meiner Berichterstattung gefallen würde. Das hatte mir Zuversicht gegeben. Und die Energie, die es brauchte, um wieder zu schreiben. Diesen Blog zum Beispiel, den ihr gerade lest. Dafür werde ich dem Bayern immer sehr dankbar sein.
Nachdem ich Mustafa draußen im Hof des Hotels von meinem Verdacht bezüglich Sebastian und den Mädels berichtet hatte, nahm er einen kräftigen Schluck aus seiner Flasche und beugte sich auf der hölzernen Terrasse leicht kniend zu mir herüber. Er sprach leise und vorsichtig: „Hammed, der Langesser ist kein Einzelfall. Das ist ein Incel. Wir müssen unbedingt reden. Sebastian ist brandgefährlich. Vor dem müssen wir echt aufpassen.” Ich sag ihn fragend an „Was bitte ist ein Incel? Ist das schon wieder so eine neue politische Gruppierung?”
„Ich zeige dir gleich, was es mit diesen Incels auf sich hat”, sagte Mustafa mit ernster Miene und holte einen auf Papier ausgedruckten Artikel über freiwillige Frauenhasser, die unfreiwillig im Zölibat lebten, involuntary celibates, aus seinem Rucksack. „Da, lies!”
Ich war ein wenig verstört. Das Wort Incel hatte ich irgendwo schonmal gehört. Das hatte doch irgendwas mit psychischer Krankheit zu tun. Als ich den Artikel überflog, wurde mir klar, dass hier verdammt viele Eigenschaften von Sebastian beschrieben wurden. Sogar Kolleginnen und Kollegen von FUNK haben über dieses neue Phänomen berichtet. Und darüber, wie gefährlich es war, jemanden mit dieser Veranlagung frei herumlaufen zu lassen.
In der Küche angekommen, erklärte mir Mustafa, dass er schon länger den Verdacht gehegt hatte, bei Sebastian könne es sich um einen Incel handeln. Ein Incel ist jemand, der Frauen hasst. Jemand, der ihnen den Tod wünscht. Jemand, der noch nie eine Frau hatte und glaubt, vielleicht nie eine haben zu können. Jemand, der aufgegeben hat. Und genau so jemand lebte hier bei uns im Hotel.
Sebastian lief in der Zwischenzeit mit einem mittelgroßen Jagdmesser an seiner Hüfte in der Küche herum. Und obwohl es dort eine Kamera gab, hatte er der kleinen argentinischen Architektin aus dem zweiten Stock soeben eine ziemliche aggressive Ansage gemacht. Gedankenverloren hatte sie sich mit gespreizten Beinen auf einen Stuhl in der Küche gesetzt, während er dort seiner einzigen Leidenschaft, dem Essen, nachging. Ein schwerer Fehler, wenn es nach dem Willen unseres Incels ging.
Ein Pfefferspray für jede Mitbewohnerin und eines für den schwulen Pablo – wer weiß, wozu diese Incels fähig sind.
Die Argentinierin zitterte vor Angst, als sie zu Mustafa und mir in den Hof kam. Ich hatte genug. Mit ein oder zwei Stichen von Langessers Messer in meinem Bauch würde ich immer noch kämpfen können. Wütend ging ich in die Küche und schnappte mir Langesser am Kragen seines T-Shirts und zerrte ihn in den Flur des Hotels. Es wurde sehr laut. Und Sebastian hat sich dabei fast in die Hose gemacht.
Danach besuchten wir die Argentinierin in ihrem Zimmer und erklärten ihr, dass sie keine Angst mehr vor ihm zu haben brauche. Und dass wir nicht die einzige seien, die ihr mit allem, was uns zur Verfügung stünde, zur Seite stehen würden. Die Argentinierin bedankte sich mit zitterndem Kinn bei mir.
Mustafa, Ivan und ich meldeten den Incel am nächsten Tag bei der Besitzerin des Hotels. Er sei nicht nur eine Gefahr für die Anwohner des Hotels, sondern auch eine Gefahr für sich selbst. Warum er das Hotel trotzdem nicht verlassen musste, versteht bis heute niemand. Die Monatsmiete kann es nicht gewesen sein. Ob sie uns nicht glaubte oder selbst Angst vor dem Langesser hatte?
In Anbetracht dieser ständigen Bedrohung fuhr ich am nächsten Tag mit der Bahn nach Neukölln und ging in einen Laden, der Pfefferspray verkauft. Ich kenne die Besitzer dort ganz gut. Sie gaben mir die Dose für 3 Euro. Eine Dose für jede Bewohnerin und eine zusätzliche für den schwulen Pablo – wer weiß, was in den Köpfen von diesen Incels abgeht.
Incels, so erfuhr ich durch die Recherchen des Y-Kollektivs, rasten regelmäßig aus, schlagen um sich, unterdrücken und töten. Und immer nur Frauen. Weil sie die nicht haben können. Zumindest glauben sie das. Dreht ein Incel durch, passieren immer schlimme Dinge. Pfeffer wird ihn kaum stoppen, aber er kann seine Opfer Zeit gewinnen lassen, bis ein paar Helfer da sind, Nachbarn und Freunde oder im Idealfall die Polizei.
Incels sind meistens feige. Sie vernetzen sich in anonymen Chats und versuchen nicht selten, andere für ihre Sache und die daraus resultierende Tat zu gewinnen. Und sie sind deshalb so erfolgreich, weil wir nichts von ihnen ahnen. Bis dann, wie 2018, plötzlich so eine Amokfahrt 10 Menschen das Leben kostet. Und ein riesiges Netzwerk von Manifesten und Netzwerken offenlegt, von dem niemand etwas ahnte.
Ob Langesser wirklich ein Incel ist, werden wir im Idealfall nie erfahren. Entweder, weil wir ihn doch noch los werden, oder weil wir durch unsere Aufklärung hier im Haus verhindert haben, dass er es jemand unter Beweis stellen konnte. Aber eines ist sicher: Bis dahin passen wir aufeinander auf. Wenn ich eines in der Gastarbeitersiedlung im niedersächsischen Osnabrück gelernt habe, dann das: Courage. Sich der Gefahr entgegenstellen, bevor sie zu groß geworden ist.
Bilder: Hammed Khamis
Hallo Helena
Danke für die ermutigenden Worte.
Hammed hat mittlerweile ein paar Anzeigen wegen dieser Reportage am laufen. Wegen Leserinnen wie dir, nehmen wir das aber nicht raus.
Lieber Hammed, richtig toller Text. Super spannend geschrieben, obwohl das Thema so ernst ist, dass ich gar nicht weiß, ob es in Ordnung war, dass ich den Bericht so spannend wie einen Kriminalroman fand. Hoffentlich ging alle gut aus. Liebe Grüße, Helena