Unser Blogger Hammed Khamis verbringt den Lockdown in einem der schrägsten Hotels von Berlin. Was er dort erlebt, schildert er in seinem Blog „Hotel Corona”. Zum letzten Teil geht es hier, zum Beginn seines Blogs hier. Hier folgt der vierte Teil.
Als ich eines Morgens in die Küche kam, stand da ein neuer Bewohner am Herd. Er sah echt jung aus. Seine glatte schwarze Haut und seine frisch geschnittenen Haare ließen ihn aussehen, als wäre er noch ein Teenager, während er da in der Küche am Ofen irgendein Fleisch in die Pfanne legte, um es in wenigen Minuten in ein erstklassig gebratenes Geflügel zu verwandeln.
Wie ich später erfahre, stammt Miguel aus Lissabon. Er ist Portugiese mit mosambikanischen Wurzeln – und unglaublich langen Armen. Miguel ist ausgesprochen freundlich. Fast wie ein Moslem. Immer höflich und hilfsbereit. Seine Stimme ist sehr besonders. Sie hört sich ein klein wenig an wie die von Michael Jackson, als er noch Interviews gegeben hat. So hell, so kindlich und vorsichtig zart.
Miguel ist aus Lissabon nach Berlin gekommen, um eine Frau zu finden. Er arbeitet im brandenburgischen Brieselang, was 61 Kilometer vom Hotel entfernt ist, in einem Lager von Amazon oder so. Dafür muss er drei Stunden mit der Bahn hin und drei Stunden zurück. Er hat fast keine Freizeit. Respekt.
Wenn Miguel Zeit und Lust auf ein Gespräch hat, lässt er sich in der Küche ausfragen. Miguel ist sehr gebildet. Er kennt sich sehr gut mit Musik, Kultur und Geschichte aus. Ich nicht so, also zeige ich ihm ein sexy Instagram-Model auf meinem Smartphone und fragte ihn, ob er sich Manns genug für sie fühle. Miguel antwortet in seiner hohen Stimme: “Bring her! We’ll see then.” Wir lachen.
Ich glaube, er kann eine Zigarettenkippe von der Straße aufheben, ohne sich zu bücken.
Miguel hat so unglaublich lange Arme. Ich glaube, er kann eine Zigarettenkippe von der Straße aufheben, ohne sich zu bücken. So lang sind seine Arme. Er erinnert mich an zwei Personen aus dem Fernsehen. Der eine, dem Miguel sehr ähnlich sieht, ist der US-amerikanische Schauspieler Arsenio Hall. Der andere ist Grobi aus der Sesamstraße. Der sieht zwar nicht so gut und gepflegt aus wie Miguel, aber wie er hat er für seinen Körper viel zu lange Arme.
Miguel bevorzugt es, Englisch zu sprechen, obwohl sein Deutsch mehr als passabel ist. So suche ich den englischen Namen von Grobi bei Google heraus und taufe ihn Grover. Miguel reagiert mit einem Kopfschütteln und lacht: “You’re crazy, dude.”
In den Wochen darauf wurde Grover mein Freund. Und er vertraute sich mir an. Er erzählte mir, wie er in Afrika das Fleisch von Katzen gegessen hat, was er heute bereut. Er erzählte mir aber auch, wie sehr er sich sich nach einer Beziehung zu einer Frau sehnte. Wenn er mit mir sprach, haben wir immer auf der hölzernen Bank gegenüber des Hotels gesessen. Ich habe immer irgendetwas Beflügelndes getrunken; Miguel war immer nüchtern.
Seine Mutter wohnte noch immer irgendwo in der Altstadt von Lissabon. Einen deutschen Schäferhund hat er ihr bereits besorgt. Viel mehr jedoch wünscht sie sich ein Enkelkind.
Miguel weiß wahrscheinlich nicht, dass Berlin nicht gerade die richtige Stadt ist, eine Frau für’s Leben zu finden. Aber er ist zuversichtlich. Dafür respektiere ich ihn. Denn Corona hat meine Zuversicht in den letzten Monaten geschmälert. Da gibt es eigentlich nichts Besseres als so jemanden wie diesen jungen Portugiesen kennenzulernen.
Mit Grover war ich viel zu Fuß unterwegs. So wie Corona es erlaubte, gingen wir in Bars und zum Tischtennis. Wir hatten viel Spaß. Doch eine Frau lernte keiner von uns kennen. Grover machte das zu schaffen. Irgendwie wollte er seiner Mutter zeigen, dass er seine Familiengründung vorantrieb. Ich nahm das nicht so ernst.
Eine Frau kommt in dein Leben, wann sie es will. Das kann man zum Glück nicht steuern.
Eines Tages bot ich ihm an, mit mir nach draußen zu gehen, um zu jagen. Hasen jagen, wie wir damals in meiner Jugend sagten, als wir noch weniger Ahnung von Sexismus hatten als von Frauen.
„Egal, welche Frau dich interessiert, sie muss angesprochen werden. Einfach ran!” coachte ich ihn, während wir das Hotel in Richtung Brandenburger Tor verließen. „Frag sie einfach, wie spät es ist, wo der nächste McDonalds liegt oder wie du zum Ritz Carlton kommst. Dann hast du genug Zeit, um über ihre Reaktion auf dich zu bewerten, ob sie Lust hat, dich kennenzulernen oder nicht.” Punkt.
Immer, wenn Grover eine Frau angesprochen hatte, sei es am Brandenburger Tor oder vor dem Bode-Museum, ging es schief. Die Mädels landeten immer bei mir, obwohl Grover bei Weitem besser aussieht, als ich das tue. Erst dachte ich, dass seine Stimme ihn blockiert. Dann wurde mir klar, dass Mädchen nicht gerne mit so unendlich viel Vorsicht angesprochen werden. Zumindest nicht in Berlin.
Grover ist echt kein langweiliger Typ. Er kann sehr viele Sachen. Musik, Literatur und Kultur sind seine Hobbies. Und Tischtennis. Aber wie soll eine Frau das herausfinden, wenn er sie eintausend Mal fragt, ob es wirklich okay für sie sei, wenn er sie anspricht?
Wir gingen weiter die Schönhauser Allee in Richtung Alexanderplatz hinunter. Ab und zu haben wir dann eine Frau angesprochen. Die eine zu Fuß, eine andere auf dem Fahrrad. Die meisten waren beschäftigt. Ein paar von ihnen hatten Angst vor Corona und hielten sichtbar Distanz. Wieder andere gaben uns ihre Facebook-Kontakte oder ihre Telefonnummern.
Grover sah, dass es nicht unmöglich ist, eine Frau kennenzulernen. Ihnen ging es ja nicht viel anders als uns, auch sie waren durch Corona an ihre Wohnungen gefesselt. Auch sie sehnten sich nach der Gegenwart anderer Menschen. Genau wie wir beiden.
Irgendwann landeten wir am Hackeschen Markt gegenüber der Museumsinsel in Berlin Mitte. Dort gibt es eine Eisdiele. Da arbeitete ein Mädchen, die sich offenbar sehr viele Schminkvideos reingezogen hatte. Ich beauftragte meinen Schüler, zu ihr zu gehen und ihr zu sagen, dass sein Begleiter gesagt hätte, dass er es nicht schaffen würde, ihre Nummer zu bekommen.
Zurück bei mir, sagte Grover nur einen Satz. “She said, that you’re right.” Das tat mir echt leid. Miguel ist ne saubere Haut. Und er hat die beste Frau verdient. Aber ich kann ihm nicht helfen. Er ist zu sauber. Zu höflich. Zu anständig.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass Berlin nur auf die harten Kerle steht. Kerle, die ab und zu mal eine Whisky-Fahne haben. Sie müssen nicht gerade Knasterfahrung mitbringen, aber sie sollten schon etwas zu erzählen haben. Reisen und kulturelle Begegnungen und so. Und ein Schlitzohr kann nicht schaden, aber das ist meine persönliche Meinung.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass Berlin nur auf die harten Kerle steht. Kerle, die ab und zu mal eine Whisky-Fahne haben.
Als Grover und ich zurück zum Hotel kamen, stand da schon wieder ein Neuer in der Küche. Wieder so ein Langer. Aber diesmal war’s ein Deutscher. Er hieß Elias und er wirkte ebenso gebildet wie sein Name. Und das, obwohl er erst 20 Jahre alt war. Trotz seines jungen Alters war er jemand, mit dem ich über alles und alle reden konnte. Das gefiel mir.
Elias, der mehr Sprachen sprechen konnte als ich kannte, war Barkeeper. Er sah ziemlich stattlich aus, clever und smart. So wie Barkeeper immer sind. Doch mit Corona hatte auch Elias nicht gerechnet, und so verließ er seine Bar in der ostdeutschen Provinz und kam nach Berlin.
Hier machte er irgendwelche Onlinegeschäfte. Und er verdiente gut daran. Er wusste sich gut nach außen zu verkaufen, auch wenn er jeden Tag die gleiche kurze schwarze Hose trug. Ich glaube, er bekommt keine Hose, die ihm passt. Seine Beine sind sehr lang. Wie seine Arme. Ich glaube, er kann auch eine Zigarette vom Boden aufheben, ohne sich dafür bücken zu müssen.
Ich nannte ihn auch Grover. White-Grover.
Elias war vorerst sehr nett. Und er war witzig, sehr witzig. Manche würden auch sagen: Er war provokant. Die meisten Bewohner des Hotel schluckten seine Taktlosigkeiten einfach herunter. Noch wusste ja keiner, dass dieser große blonde Bursche das Kind reicher Eltern war. Wir hielten ihn für einen von uns. Und so behandelten wir ihn auch.
Und wenn Elias mal wieder irgendwelche Karate-Kicks kurz vor meinem Gesicht gestoppt hatte, hielt ich inne, wie ich es damals in der Kampfschule gelernt habe, und ließ ihn zappeln. Als er fertig war, erklärte ich ihm mit einem Lächeln im Gesicht, dass das hätte weh tun können. Uns beiden. Elias zog sich dann meistens mit ein paar Grimassen zurück.
Doch da war dieser bullige Bauarbeiter, der nach der Arbeit immer im Hof oder in der Küche saß. Ivan, ein gebürtiger Jugoslawe mit streng rechter Gesinnung, stammte aus dem nordmazedonischen Kratovo. Wenn er sprach, musste ich immer an die Synchronsprecher aus alten Hollywoodfilmen denken. Ivan hatte nicht nur eine sehr maskuline Stimme. Er hatte auch diesen sonoren jugoslawischen Akzent, der seinen Worten auch dann einen reizvollen Klang verlieh, wenn er absoluten Bullshit von sich gab.
Als ich an einem sonnigen Mittag die Küche betrat, hört ich diese Stimme sagen: „Was los, Junge, willst du auf’s Maul? Mit mir kannst du solche Witze nicht machen!“ White-Grover wurde blass oder rot. Oder beides. Und verließ wortlos die Küche. Ich grüßte Ivan, indem ich mit dem Kopf nickte. Er nahm an. Nickte zurück, während er wieder an seiner grünen Flasche Berliner nuckelte.
Ivan und ich sind beide auf der Straße groß geworden. Das zu klären, wird eine Kleinigkeit sein.
Elias kam sonst immer gut gelaunt in die Küche. Immer nutzte er sein Trinkgeld dafür, den anderen Mitbewohnern ein paar Drinks auszugeben. Latsches mit Eiswürfeln. Doch bei Ivan war er auf Beton gestoßen. Als Ivan Elias seine lautstarke Ansage gemacht hatte, war erstmal Ruhe. Bei allen in der Küche.
Etwas später am Tag kam Elias zu mir. Er wusste, dass ich mit Ivan gut kann. Nach ein paar Sätzen der Begrüßung und einer angebotenen Zigarette, bat er mich, das für ihn zu klären. Ivan und ich sind beide auf der Straße groß geworden. Das wird eine Kleinigkeit sein. Was aber keine Kleinigkeit ist: was ich kurze Zeit später auf meinem Smartphone sah.
Bei Facebook und Instagram konnte man sehen, wie in Venedig die Gewässer sauber wurden, weil durch Corona keine Boote und Schiffe mehr fahren durften. Gleichzeitig hatte ich über Google herausgefunden, dass viele Fähren nicht mehr fahren durften. Die Meere wurden sauberer. Endlich. Die Gewässer erholten sich von der Industrie. Endlich mal eine gute Nachricht. Aber was soll am Ende von Corona passieren? Zurück zur Verschmutzung? Oder erwartete uns noch viel Schlimmeres, Inflation, Armut, Selbstjustiz und Plünderung?
Ivan ist seit 30 Jahren auf Berlins Baustellen unterwegs. Er weiß alles über dieses Geschäft. Einmal hat er mir gesteckt, dass er selbst im Springer-Haus in Berlin Mitte schwarz gearbeitet hat. Eigentlich ne geile Geschichte, die ich dem Paul von der taz schnell für ein paar hundert Euro verkaufen könnte, dachte ich mir. Ich wollte den Ivan aber lieber auf einem anderen Weg kennenlernen.
In den darauffolgenden Tagen unternahmen Elias und ich immer häufiger etwas mit ihm. Ivan verstand nicht, warum sich unsere Mitbewohner in der Küche manchmal die Bäuche vor Lachen halten mussten, wenn er mal wieder etwas erzählte. Das lag an seinem Gangster-Style. Sein Deutsch hatte unweigerlich etwas von Comedy.
Doch Ivan macht keinen Spaß. Er ist nicht gerade der Typ Klassenclown. Ivan wiegt ca. 120 Kilo bei 1,85 Körpergröße. Keiner weiß, warum er hier bei uns gestrandet ist. Er hat Frau und Kind in Nordmazedonien, wo er herkommt. Auch wenn er eigentlich immer ein Bier in der Hand hält, kommt er morgens immer um 5:30 raus. Das weiß ich, weil ich dann meistens noch am Feierabend machen bin.
Und ich weiß noch etwas: Ivan ist ein Guter. Genauso wie Miguel. Und Elias. Corona hat uns hier unterschiedslos versammelt: „Hotel, Zimmer, Berlin“ – Google sei Dank. Doch bald schon sollte eine Frau in unser Leben treten…
Bilder: Hammed Khamis