Unser Blogger Hammed Khamis verbringt den Lockdown in einem der schrägsten Hotels von Berlin. Was er dort erlebt, schildert er in seinem Blog „Hotel Corona”. Zum letzten Teil geht es hier, zum ersten hier. Hier folgt der dritte Teil.
Mit Liam teilte ich mir einen Flur. Er war in der 11 und ich war in der 12. Liam war sehr ordentlich. Er sprach ein schönes, niedersächsisch gefärbtes Hochdeutsch. Und mit seinem runden Gesicht lachte er einen immer freundlich an, während er sich dabei streichelnd an seinen dicken Bauch fasste.
Liam hatte nur spärlichen Bartwuchs, wie viele Vietnamesen. Dafür teilte er meine Leidenschaft für Kampfsport. Und nicht nur das. Liam hatte einen schwarzen Gürtel in Karate. Also tauschten wir uns tagelang über verschiedene Techniken und Erfahrungen beim Kampfsport aus. Oft sprachen wir auch über Martial Arts-Filme. Wir lachten zusammen und wir hielten uns die Bäuche, und das mitten im Lockdown.
Zeitweise fühlte es sich wie Freundschaft an. Manchmal auch wie das genaue Gegenteil. Das erste Mal war ich so richtig wütend auf ihn, als ich wieder mal bemerkt hatte, dass er im Stehen gepinkelt hatte. Sowas geht bei mir gar nicht. Also konfrontierte ich ihn damit. Und er versprach, damit aufzuhören, immer und immer wieder. Immer und immer wieder vergeblich.
Bis ich für zwei Wochen den Kontakt zu ihm abbrach. Ich hatte den Schlüssel zu unserer gemeinsamen Toilette herausgenommen und die Tür von außen abgeschlossen. Liam musste nun immer nach unten in die übel riechende Gästetoilette. Das belastete ihn sehr. Doch das war genau das, was ich wollte. Ich musste auch immer den Sitz meiner Toilette reinigen, bevor ich ihn benutzen konnte.
Nach zwei Wochen hatte ich ihn stubenrein, und Liam und ich lachten und spaßten, als sei nichts geschehen. Ein schwererer Fall war dieser asoziale deutsche Junge, der ständig in der Küche oder im Gemeinschaftsraum saß und mit sich selbst redete. Manchmal starrte er auch einfach nur die Wand an und knurrte bedrohlich, als wäre er ein tollwütiger Hund, der irgendwen einschüchtern wollte.
Eigentlich ist mir das ja egal, was jemand mit einer Wand anstellt, aber ein paar Tage später kam es, als ich an der Küche vorbeiging, zu einer Auseinandersetzung zwischen ihm und Mustafa. Kasper, wie der asoziale Junge hieß, hatte sich wie so oft ungebeten in ein Gespräch eingemischt, das Mustafa mit Liam und unserem französischen Nachbarn aus dem Vorderhaus führte. Kasper ließ sich nicht beruhigen. Er wurde immer aggressiver.
Ich kannte Mustafa erst seit ein ein paar Wochen. Er war mir jedoch von allen am nächsten. Tagelang waren wir zusammen mit Hannes und Liam draußen umhergezogen und hatten einander bei Laune gehalten. Ohne die drei hätten mich die wachsenden staatlichen Einschränkungen psychisch viel mehr belastet. Dass ich sie hatte, bedeutete mir daher wirklich viel.
So beschloss ich, in die Küche zu gehen und Kasper zu fragen, was er denn eigentlich wolle. Freundlich war ich nicht dabei. Ein Mensch, der so viel provoziert wie er, würde Höflichkeit ganz sicher als Schwäche werten und noch unverschämter werden. Das weiß ich aus der Integrationsschule, die ich damals in einem Berliner Problembezirk geleitet hatte.
Kasper überlegte nicht lange, was er mir auf meine Frage antworten sollte. Er machte es sich einfach und holte aus, um mir einen heftigen Faustschlag ins Gesicht zu verpassen. Bevor ich den Schmerz des Schlages erfuhr, traf mich ein heftiger Schock. Ich konnte kaum glauben, dass sich dieser dürre Mittzwanziger das wirklich getraut hatte, und wich einen Schritt zurück. Schnell stellte ich mich zwischen Mustafa und Liam, um sicher zu gehen, dass sie ihn nicht an meiner Stelle verdroschen. Verängstigt verließ Kasper die Küche.
Sein Blick und seine Körperhaltung wirkten wie ein Querschnitt aus väterlichen Prügelorgien, Drogenmissbrauch und Pessimismus der übelsten Sorte.
Zehn Minuten später saßen wir zu dritt bei der Hotelbesitzerin Jana auf der Couch in ihrem Büro im Vorderhaus und erklärten, dass dieser Störfaktor gehen müsse. Wir drei, also Liam, Mustafa und ich, würden sonst ausziehen. Die Mitleidsnummer müsse nun ein Ende haben.
In Kaspers Vergangenheit muss ordentlich etwas schief gelaufen sein. Seine komplette Attitüde war negativ. Nichts an seinem Verhalten war auch nur im Entferntesten mit Liebe, Freundlichkeit oder Zuversicht zu assoziieren. Sein Blick und seine Körperhaltung wirkten wie ein Querschnitt aus väterlichen Prügelorgien, Drogenmissbrauch und Pessimismus der übelsten Sorte.
So jemand gehört meiner Meinung nach nicht in eine WG. Nicht nur, weil er keine Miete zahlte, sondern auch noch massiv den Hausfrieden störte. So einer wie Kasper braucht professionelle Hilfe. Und die konnten wir ihm hier nicht angedeihen lassen. Jana machte kurzen Prozess und verwies den jungen Schläger des Hauses.
Nicht so den Kuhfladen. Auch wenn der ebenfalls dringend professionelle Hilfe gebraucht hätte. Der Kuhfladen heißt eigentlich Susanne. Wie Kasper saß auch Susanne ständig in der Küche. Egal zu welcher Uhrzeit, immer hatte sie etwas zu saufen in der Hand. Und ständig beanstandete sie etwas.
Gemeinsam mit dem Qualm, den sie vorher aus ihrer Zigarette inhaliert hatte, pustete sie ständig ihre Meinung in die Küche oder auf den Hof nach draußen. Und ständig lag in diesem Qualm Unmut, Geläster über die anderen Mitbewohner oder Missgunst verborgen. Susanne ist so jemand, der nie Schuld an einer Sache hat. Aus ihrer Sicht hat sie alles richtig gemacht. Deswegen ist sie wahrscheinlich auch hier in unserem Hotel gelandet.
Dass Susanne ab und an ein wenig Essen aus dem Gemeinschaftskühlschrank entwendete, wusste jeder. Doch jeder hielt erstmal die Klappe. Denn jeder hier im Hotel hat irgendwann mal etwas von den anderen ausgeborgt. Beschwerte sich jemand dann doch einmal bei ihr, wurde er komplett vernichtet. Hinter seinem Rücken, versteht sich.
Im Laufe des Frühlings wurde Kasper immer mehr zu ihrem Schatten. Ständig waren die beiden miteinander zu sehen. Anfangs war das kein Problem. Bis zu dem Tag, als Kasper das Haus verlassen musste. Kasper schlief fortan in Susannes Auto vor dem Hotel. Die Decke und das Kissen hatte er aus dem Hotel gestohlen. Eigentlich sollte mir das ja egal sein. Doch nach dem Faustschlag wollte ich diesen Irren nicht mehr in meiner Nähe haben.
Als Susanne begann, auch die anderen Obdachlosen von der Straße mit dem Besteck aus dem Hotel und dem von anderen Mitbewohnern gestohlenen Essen zu bewirten, hatten ein paar Mitbewohner die Schnauze voll. Doch jeden gemeldeten Vorwurf, mit dem sie die Hotelleitung konfrontierten, schmetterte Susanne mit einer Ausrede oder einer glatten Lüge ab.
Heute hatte sie einen Alkoholiker mit ins Hotel gebracht. Dieser stellte sich in der Küche als Christoph vor. Es war ein sonniger Abend im Corona-Sommer. Irgendwer hatte eine Flasche Rotwein für alle mitgebracht. Die Flasche war noch zu einem knappen Drittel gefüllt, als Christoph sie beim Reinkommen in die Hand nahm, als sei sie der Besitz seines Vaters. Gierig saugte er den Rest des Weins aus der Flasche. Nachdem er sie leer wieder abgestellt hatte, ließ er uns wissen: „Tschuldigung, ich bin Alkoholiker.“
Ein paar Tage später fuhr ihn der Kuhfladen in ein Krankenhaus für Suchtkranke. Vielleicht hätte sie dort auch nach einem Platz für sich selbst bitten sollen. Denn in den Tagen darauf schrie sie fast jeden an, der ihr in der Küche begegnete. Schweine waren wir nun. Und Lügner. Und asozial.
„Tschuldigung, ich bin Alkoholiker.“
Zeitweise ist ihre Schikane sogar so weit gegangen, dass ich Angst hatte, sie würde einen von uns für etwas Verwerfliches oder eine Straftat anzeigen, die er gar nicht begangen hatte. Ich fürchtete schon, dass sie einem von uns vorwerfen würde, sie vergewaltigt zu haben, nur um uns noch etwas perfider quälen zu können.
Als ich eines Tages mit Mustafa und Hannes im Hof saß, rief sie aus ihrem Fenster, dass sie sofort runterspringen würde, wenn wir ihr nicht umgehend Beachtung schenkten. Zum einen war ihre Forderung, sie in unsere Gruppe zu integrieren, wegen der vorhergegangenen Geschichte einfach nur absurd. Und zum anderen wohnte sie in der 2. Etage. Selbst wenn sie wirklich von dort heruntergesprungen wäre, hätte sie ihr Leben nicht wirklich aufs Spiel gesetzt.
Doch mit Suizid macht man keinen Spaß. Schon gar nicht mit mir. Wäre sie auf dem Dach gestanden, ich hätte die Polizei gerufen. Doch das tat sie nicht. Statt dessen schüttelte ich verständnislos den Kopf und steckte mir einen weiteren Kürbiskern in den Mund, um mich wieder auf mein Gespräch mit den anderen zu konzentrieren.
Fünf Minuten später standen zwei Beamte der Berliner Polizei im Hof des Hotels. Susannes Eltern hatten zuvor auch schon einen dieser speziellen Hilferufe bekommen. Irgendwo aus einer Stadt im Süden Deutschlands haben sie daraufhin die Berliner Polizei angerufen und um Hilfe gebeten. Ich wünsche Susanne wirklich nichts Böses. Aber ich bin froh, dass sie fortan nicht mehr bei uns im Hotel war, und Kasper ebenso.
Einen Tag nach Susannes Abgang kam Hannes auf mich zu. Er hatte sich ein wenig mit meiner Karriere befasst. Als Aktivist fand er schnell Interesse an meinen Blog aus Calais. Wir gingen zusammen spazieren und tauschten uns an jedem Tag intensiver aus. Schnell wurden unsere Gespräche auch immer persönlicher. Ich war wirklich froh, ihn bei mir zu haben. Hannes ist nicht nur ein toller Zuhörer. Wie Mustafa ist er auch sehr belesen. Und Pianist. Das beste an ihm war jedoch, dass er immer ein Lächeln für mich übrig hatte, wenn er merkte, dass ich emotional mal wieder in den Seilen hing und die Prügel von Corona mich bald niederstrecken würden.
Ab sofort waren wir so was wie eine Clique. Mustafa, Liam, Hannes und ich. Durch den Lockdown war nicht mehr viel möglich, das man noch machen konnte. Obwohl das Hotel in der Nähe des Mauerparks liegt, sind wir nur selten dort gewesen. Durch die Bestimmungen ist es einfach nicht dasselbe. Die Musiker und die Kunsthändler dürfen ihre Stände nicht mehr aufbauen. Streetfood war verboten. Und immer, wenn Menschen zueinander gefunden hatten und sich eine kleine Traube bildete, kam die Polizei und unterband die Begegnung unter Androhung einer Ordnungsstrafe.
So beschloss ich, Hannes ein wenig die Stadt zu zeigen. Gemeinsam unternahmen wir kilometerweite Spaziergänge. Wir sprachen über Literatur, Kunst, Musik und andere feingeistige Dinge. Hannes lektorierte mir einen Text, den ich seit Jahren schrieb. Dafür brachte ich ihm Arabisch bei. Mustafa stieß wegen seiner Arbeit erst abends zu uns. Dann setzten wir unsere Gespräche in der Küche fort. Dort bereicherte jeder den anderen wie er nur konnte.
Wenn einer von uns merkte, dass jemand finanziell schwächelte, dann fand dieser einen Briefumschlag mit ein paar Banknoten in seiner Jacke oder unter seiner Zimmertür vor. Mustafa besorgte sich davon ein blaues Rennrad, mit dem er seither immer zur Arbeit fuhr. Er sah nicht nur mehr von der Stadt, sein Körper wurde auch immer fitter. Und weil mir das ein schlechtes Gewissen machte, zog ich nach und holte mir auch ein Fahrrad. Aber das ist eine andere Geschichte…
Bilder: Hammed Khamis
Wenn ich wüsste wie der Schuppen heisst, würde ich da meinen nächsten Urlaub verbringen