Unser Blogger Hammed Khamis verbringt den Lockdown in einem der schrägsten Hotels von Berlin. Was er dort erlebt, schildert er in seinem Blog „Hotel Corona”. Hier folgt der erste Teil.

 

Jeder ist aus einem anderen Grund hier gestrandet.

Die indischen Zwillinge hatten keinen Schlafplatz. Der Asiate war angeblich ein Pendler. Der Punker, ein alter Freund des Hotelmanagers, sollte ihm ein wenig bei der Arbeit helfen. Mustafa war neu in der Stadt und wollte eigentlich nur ein paar Wochen im Hotel bleiben, bis er eine eigene Wohnung beziehen würde. Und zwei Roma-Jungs, die aus dem südserbischen Nis stammten, machten irgendwelche Geschäfte in Berlin und brauchten einfach eine schlichte Unterkunft. Keiner hier war wie der andere. Und doch mussten wir jetzt alle miteinander leben. Irgendwie. 

Nur einer hier in der Küche war mir auf Anhieb unsympathisch. Ein hagerer deutscher Junge saß da mit seinem Rucksack auf dem Rücken an einem kleinen Teller am Essen. Schwarz gekleidet. Er sah sehr ungesund und unglücklich, so herrenlos aus wie ein geprügelter Hund, während er da vor diesem kleinen Teller in der Ecke saß. 

„Fick dich!“, zischte er mir zu, als ich ihm einen guten Appetit gewünscht hatte. 

Ich tat so, als hätte ich ihn nicht gehört. Ich wollte nicht durch eine Handgreiflichkeit auffallen und ging in die Lounge des Hotels, wo ich Mustafa von dem Jungen erzählte. Während ich dort mit ihm saß, kam eine Frau auf uns zu. Susanne. Susanne hatte den Vorfall irgendwie mitbekommen. Also erklärte sie mir, dass der Jasper ein schlechtes Leben gehabt habe. Und dass ich das mit dem „Fick dich!“ nicht persönlich nehmen sollte. 

Sie erklärte mir, dass ich das mit dem „Fick dich!“ nicht persönlich nehmen sollte.

Susanne war Anfang 50 und hatte irgendwie ihre Ehe aufgelöst und war dann nach Berlin gekommen. Ihr Look passte nicht zu ihrem Alter – oder andersherum. Ihr Gesicht sagte 50, Kettenraucherin, übermäßiger Alkoholkonsum – ihre Kleidung, Minirock und Pelzjacke, sagten 15jähriges Mädchen im Jahre 1992. Etwas später sollte Susanne den Spitznamen Kuhfladen bekommen. Ständig zog sie Schmeißfliegen an, eben wie ein Kuhfladen. Doch dazu an einer anderen Stelle mehr.

Wie ich hier unter all diesen Leute gelandet bin? 

Bis letzte Woche wohnte ich noch in einer kleinen Wohnung im Berliner Stadtteil Wedding. 900 Euro für zwei Zimmer in einer der abgeranztesten und dreckigsten Ecken von Berlin. Und über mir diese Familie. Eine Familie mit drei Kindern. Ich liebe Kinder. Aber nicht über meinem Schlafzimmer oder über meinem Arbeitszimmer.

Ich war gerade dabei, mein neues Buch abzuschließen. Dafür brauche ich Ruhe. Nie in meinem Leben habe ich es für möglich gehalten, dass man innerhalb einer Wohnung so laut sein kann. Es war, als hätte sich ein Zirkus zum Üben da oben getroffen. Es war einfach nur unendlich laut. Und das immer. Wenn sie ihre Kinder nur ab und zu auf einen Spielplatz bringen könnten, dann wären sie vielleicht irgendwann erschöpft. 

Absturz in Berlin | seinsart

Am nächsten Morgen entschloss ich mich, zu meinen Nachbarn hochzugehen. Die Tür ging nicht auf. Die Frau darf mir die Tür nicht aufmachen, wenn ihr Mann nicht zu Hause ist. Das ist jedoch nicht mein Problem. Ich will einfach nur Ruhe, damit ich arbeiten kann. Mehr nicht. Doch am nächsten Tag geht es unverändert weiter. Der Zirkus waltet über meinem Schlafzimmer. Es geht zu weit. Ich kann das nicht ab. Es ist respektlos.

Also klopfe ich mit einer Stange an die Heizung in meinem Arbeitszimmer, um ein Zeichen zu setzen, dass ich Ruhe brauche. Eine Minute später hämmert mein Nachbar mit seinen Fäusten an meiner Wohnungstür. Direkt nachdem ich die Tür geöffnet habe, bekomme ich einen Schlag ins Gesicht. 

Ich sei respektlos, flucht der Vater mich an.

Die Polizei kommt. Mein Vermieter entlässt mich aus Kulanz aus dem Mietvertrag. Ich kann gehen. Aber wohin?

Über Google finde ich heraus, dass es in Berlin ein Hotel gibt, das Zimmer ohne Kaution vermietet. Vielleicht ist es das, was ich brauche. Mal sehen, was da für Leute eingecheckt haben, dachte ich neugierig, während ich meine Sachen packte und das Haus in Richtung Hotel verließ. Als ich im schicken Prenzlauer Berg ankomme, bestätigt sich mein erster Gedanke. Supernette Leute haben dieses Haus erst vor Kurzem übernommen, um darin ein Hotel für Touristen und Künstler zu betreiben.

Corona hat ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Im Inneren ist das Hotel im 80er-Jahre-Stil eingerichtet. Im Büro treffe ich auf Olaf, den Verantwortlichen für den Check-in. Während sich Olaf seine langen, schütteren und hellroten Haare zu einem Zopf zusammen bindet, gebe ich die Geheimzahl meiner Kreditkarte in das Lesegerät ein. Zusammen mit dem Zahlungsbeleg und einem Zettel mit dem Internetcode gibt Olaf mir den Schlüssel zu Zimmer 12.

Absturz in Berlin | seinsart

Olaf führt mich durch einen langen, blau gestrichenen Flur und eine Lounge in eine große Gemeinschaftsküche, die aus einem Sitzbereich und einer Küchenzeile besteht. Verbunden werden die beiden durch eine Art Durchreiche, aus dem man Sachen in den Sitzbereich herausgeben kann.

Oben an meiner Zimmertür bedanke ich mich bei Olaf. Ich verschließe die Tür hinter mir und begebe mich auf dem schnellsten Weg in die Dusche. Während ich mich einseife, gehen die erlebten Wochen in meinen Gedanken auf und ab. Corona, BILD, RTL und SAT1 und diese leeren Straßen, durch die ich in meiner neuen Heimat Berlin getrottet war. Ich denke an meinen Vater, der noch immer in Osnabrück wohnt. Ist das jetzt gefährlich? Kann ich etwas für meinen Vater tun? Wahrscheinlich würde er mir empfehlen, genau dies zu tun.

Frisch geduscht setzte ich mich auf mein Bett und öffnete meinen Laptop, um mich an die Arbeit zu machen. Eigentlich sollte ich zur Zeit in Nordafrika Schulen beraten, wie sie Menschen, die das Ziel haben, nach Deutschland zu kommen, unterstützen können. Um eine Art Integrationskurs hatte man mich gebeten. Ich sollte jungen Männern und Frauen erklären, worauf man achten muss und was man wissen sollte, wenn man in Deutschland ankommen will. Meistens geht es dabei um die Selbstbestimmung der Frau, westliche Ernährungsweise und sexuelle Sitten in Europa.

Stattdessen habe ich bei Facebook angeheuert. Die hatten eine Gruppe junger Filmemacher*innen damit beauftragt, einen Film über Menschen und ihre Situation während Corona zu machen. Mich hatte man für die Recherche hinzugeholt.

Irgendwann rauchte mir der Kopf von der Arbeit. Ich beschloss herunterzugehen, um mir ein Bier zu holen. Im Prenzlauer Berg gibt es an jeder Ecke einen Späti. Als ich mit dem Bier in der Hand zurück in die Gemeinschaftsküche kam, musterte ich die anwesenden Menschen. Die Roma-Jungs waren dort. Sie waren dabei, gemeinsam zu essen, Aufschnitt und Tee. Im ersten Augenblick erkannten sie mich als jemanden, der sie versteht. Ich bin in einem Gastarbeiterviertel in Osnabrück großgeworden. Da erkennt man einen Gleichgesinnten an der Körperhaltung.

Die Inder kamen drei Tage vor dem Lockdown; ihr Timing war echt beschissen.

Ihr Angebot, mich zu ihnen zu setzen, lehnte ich dankend ab. Stattdessen schaute ich über den Küchenausgang nach draußen in den Hof. Dort standen ein dicker Asiate, ein Weißer mit Stirnglatze und ein Orientale, die miteinander rauchten. Ein paar Minuten später ging die Tür auf und ein 23-jähriges Zwillingspärchen, zwei Inder, betraten die Küche. Ich setzte mich zu ihnen und stellte mich als Hammed aus Berlin vor.

Hetchi und Tetschi sind aus dem südindischen Kerala. Dort ging es ihnen recht gut. Bis sie beschlossen, nach Deutschland zu kommen. Irgendwie haben sie das auch wirklich geschafft, aber ihr Timing war echt beschissen. Sie erreichten Berlin genau drei Tage vor dem ersten Lockdown. Mit einem Visum für drei Monate.

Das Dreiergespann um den dicken Asiaten kam zurück in die Küche. Ich grüßte kurz und stellte mich vor. Hallo, ich bin Hammed. Den Weißen fand ich schnell interessant. Ein klassischer Linker. So ein Typ mit Halbglatze in einem Kapuzenpulli und viel zu langen Haaren an den Seiten, der sich grinsend als Hannes aus dem Saarland vorstellte. Das hätte ich auch an seinem Dialekt erkannt. Sympathisch. Den merke ich mir.

Absturz in Berlin | seinsart

Der Orientale, der bei ihnen stand, stellte sich als Ingenieur aus Bayern heraus. Seine Familie stammte aus der Türkei. Mir fielen seine blauen Augen gleich auf, als er sich mir als Mustafa vorstellte. Mustafa hatte einen leichten bayerischen Akzent. Dazu fällt mir sonst eigentlich immer schnell ein anstößiger Spruch ein. Ich halte jedoch vorerst die Klappe, um mich nicht gleich unbeliebt zu machen.

Die dicke Asiate hieß eigentlich Liam, oder Duc Long, oder beides irgendwie. Er kam irgendwo von der Nordsee und stellte sich als Manager von Asia Gourmet, einem asiatischen Franchiseunternehmen, vor. Angeblich hatte er noch eine rothaarige Frau und ein einjähriges Kind, welche bald zu ihm nachziehen würden.

Irgendwas stimmte hier in dieser Küche nicht. Waren es all die unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Eindrücke, die sich in ihr ballten? So ähnlich muss es sich damals auf einem Atlantikdampfer angefühlt haben, als Menschen aus allen Herren Länder darauf warteten, in der Neue Welt einzuwandern und sie das erste Mal betreten zu dürfen. Mein Blick traf wieder auf Mustafa. Ich glaube, er weiß noch nicht, dass er bald einen Kulturschock erleiden wird. Er hatte bisher wohl keine Gelegenheit, die Gegenwart von Punks, Romafamilien, arabischen Clans und verlorenen Seelen zu genießen. Das wird sich bald ändern.

Es sind so unglaublich unterschiedliche Menschen hier im Hotel. Sowas kenne ich eigentlich nur vom Flughafen. Doch hier in diesem Haus hat niemand die gute Laune im Gesicht, die man hat, wenn man an sein Urlaubsziel denkt. Oder wenn man frisch gebräunt von dort wieder zurückkommt und gerne länger geblieben wäre. Hier im Raum gibt es alle Formen von Gefühlen. Doch die negativen sind eindeutig im Vorteil.

In mir regt sich eine Mischung aus Frust, Wut und Verzweiflung. Am liebsten hätte ich jetzt jemand Vertrautes, der oder die mich umarmt und mir sagt, dass alles bald wieder gut werden würde. Doch dem ist nicht so. Und so spürte ich jene Mischung aus Angst und Unsicherheit, die ich das letzte Mal bei meiner Einschulung gefühlt hatte, als ich von nun an alleine unter so vielen fremden Menschen bleiben sollte.

Doch das hier ist nicht meine Einschulung. Das ist die Geschichte, wie mich ein Lockdown die Begegnungen meines Lebens machen ließ und wie es einem Hotel für verkrachte Existenzen gelang, meinen Glauben an die Menschheit wieder zu gewinnen. Doch dazu mehr in den nächsten Folgen …

 

Wie es im „Hotel Corona” weitergeht, erfahrt Ihr hier.

 

Bilder: Hammed Khamis

Written by Hammed Khamis

Hammed Khamis wuchs in einer westdeutschen Gastarbeitersiedlung auf. Der Streetworker und Journalist ("Ansichten eines Banditen") setzt sich besonders für die Integration Jugendlicher mit Migrationshintergrund ein.

5 comments

  1. Treffende Beschreibung des berliner Lebens, geschrieben von einem Menschen, der anderen gegenüber offen und nahe ist und ihnen gerne begegnet.

  2. Wozu corona doch gut sein kann. Auf alle fälle ist die story so gut ,dass man beim Lesen mittendrin ist. Menschenkenntniserweiterung pur.

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