Paris. Wieder ein Anschlag. Wieder in Paris. Wieder sterben Unschuldige. Frankreich macht die Außengrenzen zu. Deutschland und der Rest der EU folgen, schon allein wegen der Flüchtlinge. Wer darf nun noch durch, und wer nicht? Muss man jetzt wie damals, als wir noch Kinder waren, an der Grenze anstehen und seinen Pass vorlegen? Dann haben wir wieder einen spanischen oder französischen Stempel in unserem Reisepass. Vielleicht kann man ja aber auch weiterhin mit dem Personalausweis in der EU verreisen.

Ich bin Deutscher mit arabischem Migrationshintergrund. Und von meinem Vornamen lässt sich ziemlich einfach auf meine Religion schließen. Das beschert Migranten nicht nur an Grenzen Probleme. Das kann auch im Supermarkt oder an einem Schalter in der Bank sein. Bis heute war es mir nicht wirklich wichtig, wenn mich jemand, wie zum Beispiel auf der Leipziger Buchmesse, dazu nötigen wollte, mich gegen den IS zu äußern. Das ist für mich eine Form von positivem Rassismus. Kommt vor. Normalerweise antworte ich auf Banales aus dieser Schublade nicht wirklich.

Angesichts der Ausschreitungen in Paris aber und der zu befürchtenden Reaktionen habe ich heute an ein Erlebnis denken müssen, das mir im Nordosten Marokkos, in Nador, widerfahren ist. Denn genau über Nador liegt die spanische Exklave Melilla – und damit die EU.

Durch die Grenze sind die beiden Städte anstatt zehn Kilometer zehntausend Kilometer entfernt.

Irgendwas hält die Spanier wohl noch in Afrika. Und das nun schon seit 500 Jahren. Solche Ortschaften sind für mich stumme Zeitzeugen mit unzähligen historischen Fundamenten. Wer nicht reden kann, der kann auch nicht lügen. Die komplette Menschheit muss hier irgendwann einmal durchgekommen sein. Ägypter, Phönizier, Römer. Sollte man hier auf Öl stoßen, kommen demnächst wohl auch die Amis vorbei.

Als ich mich einmal beruflich in Nador aufhielt, beschloss ich, mir das europäische Gastspiel auf afrikanischem Boden einmal näher anzusehen. An der Grenze zu Melilla fielen mir gleich verschiedene Dinge auf: Marokkanische Frauen arbeiten hier als Träger für Altkleiderhändler; dafür erhalten sie eine Art Tageseinreiseerlaubnis. Andere Marokkaner gehen für einen Tag über die Grenze, um Milch zu erwerben und sie in Marokko weiterzuverkaufen. Europäer kommen im Gegenzug von hier aus nach Marokko, um dort Beischlaf, Kiffen, Plagiatkauf und anderen niedrigen Sport zu betreiben.

Und genau in der Mitte stehe ich. Auf der einen Seite Araber, auf der anderen Europäer. Tatsächlich und physisch auf dieser Grenze zu stehen, war ein merkwürdiger Augenblick. Zwischen der spanischen und der marokkanischen Grenze liegt eine Art Innenhof. Dieser ist komplett umzäunt. Inmitten dieses Korridors stand ich also vor einem marokkanischen Beamten, um ihm meinen Reisepass für einen Ausreisestempel auszuhändigen. Genervt wies mich der Zollbeamte in Richtung spanische Grenze. Diese ist unsichtbar. In dem ganzen Rummel hatten sie den Schalter oder etwas ähnliches vergessen. Ich wusste also nicht, wo ich mit meinem Pass hin sollte. Der verantwortungslose Beamte sprach weder Arabisch noch Spanisch. Er sprach nur die ortsübliche Berbersprache, Schilha. Eigentlich war nicht er verantwortungslos, sondern derjenige, der ihn ohne Sprachwissen an eine solche Grenze gestellt hatte.

Nach etwa 50 Metern zu Fuß stand plötzlich ein spanischer Beamter vor mir. Dieser schien ebenfalls ein wenig enttäuscht, als er aus den Augenwinkeln meinen dunkelrot gebundenen Pass erspäht hatte. Ein Deutscher also. Der Spanier nahm meinen Pass noch nicht einmal in die Hand, von Kontrolle ganz zu schweigen. Verwundert steckte ich ihn weg und betrat ohne nennenswerten Widerstand die EU. Ich hätte sonst wer sein können – mit einer jeden unredlichen Absicht. Alles, was ich zu beachten gehabt hätte: europäische Klamotten, ein leicht verpeilter Gang. Als Frau oder als alter Mann hätte ich es vermutlich ebenso leicht gehabt. Ganz sicher durchgekommen wäre bestimmt auch ein Rollstuhlfahrer.

Als ich am Abend nach Nador zurückreisen wollte, wurde ich von den Marokkanern wieder nicht kontrolliert. Nur weil ich einen deutschen Pass in der Hand hielt. Vielleicht muss ich einen Ausreisestempel haben; vielleicht aber auch nicht. Wenn ich wieder da bin, dann bin ich ja wieder da. So kann man sich auch ein wenig Tinte für den Stempel sparen. Genauso, wie man sich solche Grenzen ganz sparen kann.

Zurück in meinem Hotel setze ich mich auf das flache Dach und lasse meinen Blick in die Ferne schweifen. Vielleicht gebe ich morgen einem Marokkaner, der mir ein wenig ähnlich sieht, meinen Pass. Vielleicht kommt er ja durch nach Europa. Vielleicht steht wieder der uniformierte Berber an der Grenze und streift statt die Seiten meines Passes seinen Schnurrbart, immer in Sichtkontakt mit dem spanischen Kollegen in knapp fünfzig Metern Entfernung.

Alles, was ich zu beachten gehabt hätte:
europäische Klamotten, ein leicht verpeilter Gang.

Wahrscheinlich haben die beiden noch nie miteinander gesprochen. Vielleicht, weil sie die jeweiligen Sprachen nicht kennen. Sie haben den gleichen Beruf. Sie haben beide eine schöne Uniform. Der eine in einem gräulichem Ton und der andere in Grün. Das einzige, was die beiden unterscheidet, ist ihr Gehalt. Und davon kauft sich der eine sauberen Whisky und der andere billigen Sprit. Zum Wohl.

 

Bild: Freedom House

Written by Hammed Khamis

Hammed Khamis wuchs in einer westdeutschen Gastarbeitersiedlung auf. Der Streetworker und Journalist ("Ansichten eines Banditen") setzt sich besonders für die Integration Jugendlicher mit Migrationshintergrund ein.

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