Unser Blogger Hammed Khamis verbringt den Lockdown in einem der schrägsten Hotels von Berlin. Was er dort erlebt, schildert er in seinem Blog „Hotel Corona”. Zum letzten Teil geht es hier, zum Beginn seines Blogs hier. Hier folgt der fünfte Teil.
Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren! An diese Inschrift auf dem Podest der amerikanischen Freiheitsstatue musste ich an diesem warmen Sommermorgen denken, als eine junge Frau vom Hof her in die Küche trat. Patrizia. Als würde ihr dieses Haus und alle, die darin sitzen, gehören, warf sie mir mit ihren mandelförmigen braunen Augen ein „Ciao, I am Patrizia. Patrizia Valentina Angelini“ quer über den Tisch, an dem ich gerade dabei war, Kartoffeln mit Bratensauce zu essen.
Ich wusste nicht, dass sie eine neue Mitbewohnerin war. Ich fand sie recht hübsch. Mit ihrem selbstbewussten Auftreten verschaffte sie sich im ganzen Haus schnell Respekt. Das mag ich bis heute noch an ihr. Patrizia kommt aus dem norditalienischen Busto. Manchmal sagte sie aus Spaß, dass sie nach Berlin gekommen sei, um einen reichen Mann klar zu machen. Wir lachten, aber nie zu Ende. Dann sahen wir uns in die Augen und wieder weg, um noch die Kurve zu kriegen.
Patrizia arbeitete recht erfolgreich in einem Büro, in dem sie elektronische Anlagen an Firmenkunden ihres Chefs verkaufte. Sie war wunderbar genährt. Nicht nur von ihrem Körper her, in dem sie sich rundum wohl zu fühlen schien, sondern auch in punkto Lebenserfahrung. Neben Deutsch und Spanisch sprach sie auch ein passables Griechisch. Das konnte sie, weil sie viele Jahre mit ihrem Partner auf einer griechischen Insel gelebt hatte.
Patti, wie man sie später hier nannte, war sehr warmherzig und gesellig. Es machte viel Spaß, mit ihr bis in die Puppen draußen im Hof zu sitzen. Eigentlich ist sie erst Ende Zwanzig. Sie weiß aber immer, was ich sagen will, noch bevor ich es ausgesprochen habe. Deswegen kam es mir manchmal so vor, als würde ich da mit einer steinalten weisen Frau sitzen.
Ich spürte mit Erleichterung, dass Patrizia doch keine Hexe zu sein schien, denn ihre Blicke hätten mich sonst zweifelsfrei getötet.
Später nannte ich sie ab und zu eine Hexe. Denn genau wie eine Hexe weiß sie Sachen über Medizin, die Natur und den Menschen, die auf keinen Fall auf ihre Ausbildung zurückzuführen sind. Darüber hinaus bindet sie in ihre Gespräche auch die Sternzeichen ihrer Gegenüber ein, die sie fast immer richtig errät. Manchmal machte mir das richtig Angst. Vielleicht, so dachte ich eines Abends auf meinem Zimmer, bin ich in einem Dan Brown Film gelandet. Da weiß man auch erst immer am Ende, wer der eigentliche Agent ist.
Am nächsten Abend beschloss ich, sie ein wenig aus der Reserve zu locken. Als sie mal wieder mit einer ihrer zahlreichen Erfahrungen gepunktet hatte, warf ich ihr in Anwesenheit des halben Hotels eine herausfordernde Frage entgegen: „Patti, are you also able to fly a helicopter?“ Großes Gelächter entstand und ich spürte mit Erleichterung, dass Patrizia doch keine Hexe zu sein schien, denn ihre Blicke hätten mich sonst zweifelsfrei getötet. Schnell lenkte ich unser Gespräch wieder zurück auf ihr Lieblingsthema: das alte Rom.
Denn Patrizia gab sich bei jeder Gelegenheit als stolze Römerin zu erkennen. Damit meinte sie jedoch nicht, dass sie aus der italienischen Hauptstadt stammt. Sie verstand sich vielmehr als direkte Nachfahrin jener alten Römer, die einst über ihre gesamte Heimat und die Hälfte der bekannten Welt geherrscht hatten. Eines Abends erwischte ich sie und Ivan bei einem Streit, den sie vom Zaun gebrochen hatte, als sie dem stolzen Nordmazedonen an den Kopf warf, seine Heimat stünde eigentlich den Griechen zu. Schnell entfernte ich mich aus der Küche, um nicht auch noch in ein Gespräch über die römische Provinz Syrien verwickelt zu werden, aus der meine Familie stammt.
Meistens war ich jedoch sehr froh, Patrizia hier im Hause zu haben. Zum einen sorgt sie dafür, dass die Küche nicht immer so überfüllt ist. Zum anderen kann sie wirklich Geheimnisse für sich behalten. Und ich bin mir sicher, dass sie, wenn es hier einmal knallen sollte, dem einen oder anderen Kerl mit links den Hintern versohlen würde.
Wir hatten jetzt Leute im Hotel, die sich das Römische Reich zurück wünschten. Wieder andere lebten in ihrer Phantasie im antiken Illyrien. Und der junge Koch aus der vierten Etage teilte die osmanischen Träume des Recep Tayyip Erdoğan.
In den Wochen nach Patrizias Einzug kam es immer wieder zu Spannungen. Wir hatten jetzt Leute im Hotel, die sich das Römische Reich zurückwünschten. Wieder andere lebten in ihrer Phantasie im antiken Illyrien. Der junge Koch aus der vierten Etage teilte die osmanischen Träume des Recep Tayyip Erdoğan. Und mittendrin der bayerische Ingenieur, der wenig Verständnis für all diese Großreichsphantasien zeigte.
Das Hotel wurde immer diverser. Eigentlich ist das ja nichts Schlechtes. Aber wenn Alkohol im Spiel ist, kommt manchmal ein wenig zu viel Wahrheit auf den Tisch. Ich schloss mich keiner dieser Gesinnungen an. Aber immer legte ich ein Veto ein, wenn mal wieder über jemanden, der gerade den Tisch verlassen hatte, um aufs Klo zu gehen, hergezogen werden sollte. Ob gut oder schlecht, in der Abwesenheit wird nicht über Dritte gesprochen.
Eines Mittags, es muss so Mitte Juli gewesen sein, saßen vier oder fünf Leute in der Küche, als ich sie betrat, und keiner sprach mit dem anderen. Pattis Spruch mit dem griechischen Mazedonien hatte in Ivans Bauch überlebt und Kinder bekommen. Er wollte das ausdiskutieren. Patrizia sah darin nur Zeitverschwendung. Zum einen würde Ivan sie eh nicht verstehen. Und zum anderen würde er ihre in Stein gemeißelte Meinung genauso wenig ändern. Ihre Vorfahren seien die Herren von Ivans Vorfahren. Und das in allen Zeitformen. Waren, sind und werden immer sein.
Punkt.
Ich versuchte, zwischen den beiden zu vermitteln. Aber Ivan kann kein Englisch. Und Patrizia hatte nur eine Fahrtrichtung und war somit nicht adressierbar. Eines stand fest: Ohne Corona hätten sich Patrizia und Ivan niemals getroffen. Ivan hat 25 Jahre Erfahrung auf Deutschlands Baustellen. Und Patrizia das Zwanzigfache an Lebenserfahrung von ihm. Ihre einzige Gemeinsamkeit bestand darin, dass sie hier in diesem Hotel mit all den anderen gestrandet waren. Hier im Hotel Corona.
Alle, die zuvor in den Medien zum Klatschen aufgerufen hatten, redeten und schrieben nun über die angebrachte Wut einer Frau, die sich vom Klatschen wenig leisten konnte.
Im Hof waren Mustafa und Hannes so sehr in ein intellektuelles Streitgespräch vertieft, dass sie von dem Stunk in der Küche gar nichts mitbekommen hatten. Da ich keine Lust hatte, über Kafka, Kant und Hesse zu diskutieren, ging ich in mein Zimmer und öffnete die eine oder andere App, um in den Zeitungen zu lesen, was es Neues über die Pandemie zu berichten gab.
Respekt. Das Buch einer Krankenschwester hatte es auf die Spiegel Bestseller Liste geschafft. „Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin stecken!”, lautete der Titel des Werks, in dem Nina Magdalena Böhmer von ihrer Arbeit auf einer Corona-Intensivstation berichtete. Alle, die zuvor in den Medien zum Klatschen aufgerufen hatten, redeten und schrieben nun über die angebrachte Wut einer Frau, die sich vom Klatschen wenig leisten konnte.
Abgesehen davon, dass ich ihren Mut bewunderte, mit dem sie die Missstände in unserer politischen und gesellschaftlichen Diskussion anprangerte, öffnete sie mir die Augen für die Notwendigkeit höherer finanzieller Unterstützung für das Pflegepersonal. Die deutsche Wirtschaft wird nach Corona eh gefickt sein. Dann sollen diejenigen, die sich an vorderster Front Corona gestellt haben, wenigstens ein wenig mehr Geld in ihrem Portemonnaie haben. Damit meine ich übrigens auch Kassiererinnen und Kassierer in den durchgehend geöffneten Supermärkten.
Bei meinen Recherchen stieß ich immer wieder auf zwei Augenpaare, die ich fortan nicht mehr vergessen konnte. Immer blieben mir die Augen der beiden Krankenpfleger vor meinem inneren Auge hängen. Sie gehörten einer jungen Frau und einem jungen Mann, die in einer von Cortona belasteten Gegend, ich glaube, das war in der Lombardei, in einem Krankenhaus Doppelschichten geschoben hatten. Dutzendfach hatte man ihre erschöpften Gesichter abgedruckt. Die beiden Gesichter waren noch immer von den Masken gezeichnet, die sie all die Stunden über getragen hatten.
Ihre Augen sahen so unglaublich traurig aus. Sie sahen so aus, als hätten sie etwas so Böses gesehen, dass sie es uns nur mit ihren Blicken mitteilen konnten. Für mich waren ihre Augen ein Hilferuf. In mir hatte sich auch so ein Hilferuf aufgestaut. Mein Leben war so eingeschränkt. Nicht nur, dass all meine Arbeit weggebrochen war. Auch mein Bankkonto nahm beängstigende Formen an. Normalerweise habe ich keine Angst vor sowas. Ich finde immer einen Weg, aus so einer Scheiße herauszukommen. Wie aber musste es erst in denen aussehen, die zusätzlich zu all ihrer Angst und all der Bedrohung tagein, tagaus ihr Leben aufs Spiel setzten, um andere Leben zu retten?
Damit konnte ich nicht leben. Ich musste davon berichten.
Niemand sollte sich in dieser schwierigen Zeit mit seinen Sorgen alleine fühlen. Ich wünschte, ich könnte jemandem helfen. Manchmal nehme ich in solchen Situationen Aufträge im Ausland an. Kleine Aufträge, die neben Geld auch etwas Gutes in die Welt bringen würden. Doch das ging gerade nicht, denn mein Reisepass war abgelaufen. Somit konnte ich keine ausländischen Aufträge mehr annehmen. Kollegen riefen nicht mehr an. Privat ging es mir ähnlich. Immer mehr zog ich mich in mein Zimmer in diesem Hotel zurück.
Und wenn ich mich doch mal zu einem Spaziergang durchringen konnte, fand ich auf den sonst so belebten Straßen nur verängstigte Gesichter an mir vorbeihuschen. Einige der wenigen Passanten versuchten mir sogar aus dem Weg zu gehen. Auf den Parkplätzen standen kaum noch Autos. Normalerweise braucht man hier im Prenzlauer Berg eine gute halbe Stunde, bis man einen Parkplatz hat. Nun waren die meisten Menschen bei ihren Familien im Süden. Der Berliner Akzent kehrte in die Straßen rund um den Kollwitzplatz zurück. Eine Tatsache hob die andere auf.
Und immer war da etwas Negatives, etwas, das mir sehr nahe ging und mich traurig machte. Als ich schluckend versuchte, mir eine Träne aus dem Gesicht zu wischen, überholte mich Hannes auf der Straße. Er tat so, als sähe er nicht, dass ich psychisch angeschlagen war. Stattdessen holte er uns ein paar Drinks vom Späti, und wir setzten uns auf die große hölzerne Bank gegenüber des Hotels. In dieser Nacht war ich sehr dankbar, Hannes kennengelernt zu haben. Er ist ein verdammt guter Zuhörer. Und davon gibt es immer weniger auf dieser Welt.
Zurück in meinem Zimmer ließen mich die Augen der beiden Krankenpfleger nicht schlafen. Ich konnte ihnen nicht helfen. Aber ich war Journalist. Ich konnte von ihnen erzählen. Also setzte ich mich an den kleinen Tisch in meinem Zimmer, machte die Leselampe an und öffnete meinen Laptop, um ihnen diese Zeilen zu schreiben:
SO WAS MACHEN NUR ENGEL
Heute musste ich an einen Bollywoodfilm denken, den ich mal gesehen habe. In dem war davon die Rede, dass man über die Augen eines Menschen bis auf den Grund seines Herzens hinab sehen kann. Eigentlich ist das ein schöner Gedanke. Aber heute nicht. Denn heute habe ich euch gesehen. Ihr, die ihr in diesen Masken gezeigt werdet. Ihr, die ihr Abdrücke und Hämatome in euren Gesichtern tragt. Genau an euch ist dieser Text adressiert. Ich sehe euch immer wieder in den Medien. Immer und immer wieder sehe ich diese hilfesuchenden Augen. Augen, in denen sich Müdigkeit, Frust und Erschöpfung abzeichnen, die mir Gänsehaut machen.
Ihr habt gekämpft, ohne darüber nachzudenken, wie gefährlich das ist, was ihr tatet und noch immer tut. Warum ihr das macht, das wisst allein ihr selbst. Ich weiß nicht, ob ich selbst der Mann dafür wäre. Der Mann, in einem Krankenhaus Menschen zu helfen, die Corona haben. Was auch immer dieses Corona ist. Es ist gefährlich. Das wissen wir alle.
Ihr aber seid einfach reingegangen. Selbstlos, ohne darüber nachzudenken, was es für euch bedeuten mag. Ihr habt Menschenleben gerettet. Das habt ihr nicht umsonst getan. Das wünsche ich euch von ganzem Herzen. Dieses verfluchte Virus hat schon einige von euch auf die andere Seite mitgenommen. Es hat euch von euren Familien getrennt. Ihr habt ein Anrecht auf das Paradies erworben.
Ich sehe weiter in eure Augen, weiter in diese geschundenen Herzen. Und immer wieder lähmt es mich. Denn ich kann euch nicht helfen. Die Kommunen eurer Wohnorte diskutieren darüber, euch besser zu entlohnen. Das reicht aber nicht. Denn eure Herzen sind verwundet.
Am liebsten würde ich kommen und euch meine Hand auf die klaffenden Wunden in euren Herzen legen. Das kann ich aber nicht. Deswegen bleibt mir nichts anderes übrig als für euch zu beten. Für Menschen zu beten, die Aufgaben übernehmen, die eigentlich von Engel vollbracht werden. Was ich aber weiß ist, dass ihr in den Himmel kommt. Ihr. Alle von euch.
DANKE!
Hammed Khamis
Eine gute Stunde, eine Flasche Rotwein und eine Packung rote Marlboros später schickte ich diesen elektronischen Brief an alle Mediziner*innen und Pfleger*innen, deren E-Mail-Adressen ich finden konnte. Für den ein oder anderen mag so ein Text vielleicht zu unjournalistisch und kitschig klingen, um ihn nun auch auf diesem Wege zu veröffentlichen.
Aber warum darf ein Autor nicht auch mal öffentlich eine Träne vergießen?
Bilder: Hammed Khamis