Unser Blogger Hammed Khamis verbringt den Lockdown in einem der schrägsten Hotels von Berlin. Was er dort erlebt, schildert er in seinem Blog „Hotel Corona”. Zum letzten Teil geht es hier.
Ich habe einen großen Bruder. Jamil. Ich glaube, er hat 4.000 Bücher gelesen. Als wir Kinder waren, kam er jede Woche zu meiner kleinen Schwester und mir ins Zimmer und warf uns irgendeinen Schinken, irgendeinen dieser Klassiker zu. Kafka, Böll und Hesse waren echt rau mit 13 Jahren. Aber wir mussten liefern. Nach einer Woche. Jamil forderte dann immer eine Zusammenfassung von uns. Eines dieser Bücher ging um einen Flugzeugabsturz. Homo Faber. Die Leute mussten da nach dem Absturz auch irgendwie miteinander klarkommen.
Wie hier in diesem Hotel, wo ich jetzt bin.
Ich merke, wie mein Nervenkostüm mit jedem Tag des Lockdowns immer blanker liegt. Immer, wenn ich das Hotel verlasse, treffe ich auf Menschen, die Abstand suchen. Sie suchen Abstand, weil sie Angst haben. Angst davor, sich zu infizieren. Mit was auch immer.
Sie suchen Abstand, weil sie Angst haben. Angst davor, sich zu infizieren. Mit was auch immer.
Im Hotel befinden sich auf jeder Etage mehrere Türen, die zu zwei abschließbaren Zimmern führen, in denen die Bewohner wohnen. Auf zwei Zimmer kommt ein Bad, welches geteilt wird. Ich teile mein Bad mit Liam, dem dicken Vietnamesen.
Auch in der Küche gibt es drei Türen. Eine davon führt in den Innenhof, der von allen vier Seiten so hoch eingefasst ist, dass er auch tagsüber immer dämmrig wirkt. Die der Küchentür gegenüberliegende Wand ist mit einem großen, über mehrere Stockwerke reichenden Graffiti im Stile der 90er Jahre besprüht. Links unter dem Kunstwerk stehen die Mülleimer. Rechts, auf einer hölzernen Terasse, befinden sich zwei große Bänke. Man kann dort rauchen, reden, trinken oder einfach nur die Zeit verplempern.
In der Küche gibt es Platz für ein Dutzend Bewohner, die sich nicht nur die vier Tische, sondern auch die beiden Kühlschränke und all die Geräte und das Geschirr teilen sollen, die sich in den Schränken an den Wänden befinden. Die Hygiene regelt ein Reinigungsplan, der über der Spüle hängt und regelmäßig von Olaf gepflegt wird. Wer dran ist, muss die Mülleimer, nach Wertstoffen getrennt, in den Hof bringen und durch neue Müllsäcke ersetzen. Das ist für viele neu, und zwar nicht nur für die, die das erste Mal in Deutschland wohnen.
Ein paar hundert Meter von unserem Hotel entfernt gibt es einen kleinen Supermarkt. Dort hatte ich mir gleich in meiner ersten Woche eine Tiefkühlpizza geholt, die ich nun in unserer Küche zubereiten wollte. Als ich die Pizza gerade aus dem Ofen geholt hatte, betrat Mustafa, der Münchener Ingenieur, den Raum. Er schaute leicht gereizt.
Ich glaube verstanden zu haben, dass es da, wo sie herkommen, normal ist, eine Sache genau zu begutachten, wenn sie ihnen fremd ist.
„Warum muss man mit der Hand essen? Erklär mir das mal, Hammed!“, fragte mich der Bayer ungläubig, als sein Blick auf die gegenübersitzenden indischen Zwillinge fiel, die gerade dabei waren, ihren Reis in Sauce zu tunken. Mit bloßen Händen. Und das, obwohl in dem Topf mit der Sauce weithin sichtbar ein Löffel steckte. „Bruder, in ihrem Land ist es wahrscheinlich so“, entgegnete ich ihm. „Was soll ich dir sagen?“
Mein Blick wanderte zwischen den Zwillingen und Mustafa hin und her. Klar, ich fand das auch ein wenig seltsam, Reis und Sauce mit der Hand zu essen. Aber ich esse Pizza ja auch mit der Hand. Und vielleicht finden sie das genauso seltsam wie wir ihr Ding mit dem Reis. Dabei stellten sie sich gern sehr nah zu uns anderen Mitbewohnern, wenn mal jemand auf sein Handy schaute etwa oder wenn ein Brief aufgemacht wurde. Ihre Augen waren überall. Auch wenn sie kein Deutsch verstanden. Gucken können sie. Ich glaube, dass sie das nicht bös gemeint haben. Ich glaube verstanden zu haben, dass es da, wo sie herkommen, normal ist, eine Sache genau zu begutachten, wenn sie ihnen fremd ist.
Trotzdem gesellte ich mich regelmäßig zu den beiden Jungs aus Indien. Sie waren sehr freundlich und respektvoll. Die beiden erklärten mir, dass sie Muslime sind. Sie zeigten mir ihr Elternhaus in der Heimat Kerala in Südwest-Indien auf ein paar Fotos. Davor stand ihr kleiner roter Wagen, den sie sich geteilt hatten. Wenn ich in Indien sei, könne ich mir den Wagen gerne ausleihen.
Das imponierte mir sehr. Wir kannten uns noch nicht mal eine Woche und die Jungs boten mir bereits ihre Gastfreundschaft an. Das erinnert mich an eine Sache, die ich sehr liebe. Eine Sache, die mir durch Corona verwehrt ist. Es erinnert mich an die Großzügigkeit der Menschen, denen ich auf meinen Reisen ständig begegne. Ob in Indien, im Irak, im Libanon, in der Türkei, in Bulgarien, Griechenland oder Marokko. Immer habe ich dort Gastfreundschaft und Zuversicht erfahren. Egal, was ich da zu tun hatte. Wenn ich ein Problem hatte, kam immer irgendwer und machte irgendwas, um mir irgendwie zu helfen. Und meistens waren das arme Menschen. Daran erinnere ich mich, weil in solchen Ländern nie jemand etwas von dir verlangt, wenn er oder sie dir hilft.
Wenn ich ein Problem hatte, kam immer irgendwer und machte irgendwas, um mir irgendwie zu helfen.
Dabei lächeln sie alle gleich. Diese Menschen lächeln unbeschwert. So wie die beiden Zwillinge aus Indien, die wir hier in unserer Küche sitzen haben. Ihr Lachen ist voller Offenheit, obwohl sie mit ihrer Reise nach Deutschland mitten im Lockdown echt die Arschkarte gezogen haben. Dennoch lächeln sie. Auch das ist ihre Kultur. Da ist es mir egal, ob jemand mit der Hand oder mit dem Fuß isst. Sie sind positiv gepolt. Gut erzogen. Und genau das brauchen wir jetzt in Zeiten dieser Pandemie, von der keiner sagen kann, wie sehr sie uns noch beeinträchtigen wird.
Ich bot den Jungs an, ihnen Deutsch beizubringen. Dafür luden sie mich ab und an zum Handessen ein. Wie dringend ich schon bald gute Nervennahrung brauchen würde, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht ermessen…
Bilder: Igorovsyannikov und Hammed Khamis