Vielleicht ist alles bereits gesagt worden über diese sichtbare Rückkehr der Barbarei auf einen Kontinent, der sich nach den Schrecken der Balkankriege in den 1990er Jahren für sicher wähnte. Vielleicht ist es auch an der Zeit, Worte gegen Taten zu tauschen, weniger zu sagen, weniger zu schreiben als vielmehr Hilfe zu gewähren, je nach eigenem Können und Vermögen. Ob hier vor Ort für den nicht abreißenden Strom flüchtender Menschen oder weit entfernt im Osten, abseits vom scheinbaren Alltag unserer Städte und Gemeinden in jener Ecke der Welt, die wir gerade als das Herz Europas für uns entdecken. Ob wir nun sprechen, schreiben oder handeln – die Fassungslosigkeit angesichts der Ereignisse, die seit dem 24. Februar über unsere Bildschirme und Flatscreens flimmern, steht uns allen ins Gesicht geschrieben.

Krieg, das ist doch was in Arabien, das ist doch was in Afrika, wo man nicht verstanden hat, dass Gewalt kein Mittel der Politik ist. Krieg, das ist doch was, unter dem unsere Urgroßeltern gelitten haben – und im kollektiven Gedächtnis untrennbar mit dem Holocaust, zerbombten Städten und der Teilung unseres Landes und des Kontinents verbunden. War Krieg nicht die Folge wahnsinniger Autokraten, die man hierzulande schmerzhaft überwunden glaubte? Wie war das noch mit Belarus, der letzten Diktatur Europas? Und unserem Traum, nicht nur die Wehrpflicht, sondern auch das Militär insgesamt hinter uns lassen zu können, weil es wie die Kathedralen des Mittelalters von einer längst vergangenen Logik zeugte, die unser materieller Wohlstand, unsere Forschung und unser Konsum längst überwunden hatten?

Wir waren naiv, sagt man. Wir waren leichtgläubig, sagt man. Wir haben die Gefahren nicht wahr haben wollen, sagen heute jene, die damals auch nicht viel mehr als wir an die Rückkehr des Kriegs geglaubt haben. Jene, die aus Prinzip nicht so optimistisch waren, was das Ende der Geschichte anging. Jene, die im Gegenteil den Untergang des Abendlandes befürchteten, wo andere von einer Welt ohne Grenzen träumten. Sollte das, was wir aus den Straßen von Butscha berichtet bekommen, wahr sein, sollten all die Toten wirklich getötete Zivilisten sein, die aus reiner Lust, aus reinem Frust über den Rückzug getötet wurden, was ändert das angesichts all der Grausamkeiten, deren Zeugen wir in den letzten Wochen werden mussten, was sollte es nicht ändern, wenn wir anstelle ausgebrannter Häuser ermordete Menschen auf offener Straße sehen?

Wie jetzt von etwas anderem sprechen, wenn ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt? Wie gerne hätte ich diesen Brecht für historisch gehalten, für den Ausspruch eines Dichters, der in düsteren Zeiten die richtigen Worte fand, so wie in seinem „Lied an die Moldau“, mit dem er den Bewohnern Prags 1944 das Ende des nationalsozialistischen Terrors zu verheißen scheint, wenn er schreibt:

Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne
Der Mächtigen kommen am Ende zum Halt.
Und gehn sie einher auch wie blutige Hähne
Es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt.

Doch wie soll sie aussehen, diese neue Zeit, da die Schlächter all jener Menschen in Sicherheit darauf warten können, eine Chance zum weiteren Töten zu bekommen? Ist das, was sich heute, mitten im Entsetzen über das Unaussprechliche in uns abzuzeichnen beginnt, ein noch unaussprechlicherer Gedanke, nämlich: die Notwendigkeit eines Arrangements mit den Mördern, um ihr Morden zu beenden?

Vielleicht ist alles bereits gesagt worden über diese sichtbare Rückkehr der Barberei außer jenem: Dass wir längst nicht mehr schuldlos, nicht Publikum sind wie in unseren Geschichtsstunden oder auf Netflix, sondern ebenfalls Barbaren, voller Angst davor, die Wut der Mörder auf uns selbst zu richten, wenn wir ihre Opfer schützen im Akt der Barbarei. Und dass es im Gegensatz zu unseren Geschichtsstunden oder Netflix keinen Ausweg aus all dem gibt als einen Frieden mit den Barbaren zu schließen, einen Frieden zwischen Schlächtern und Opfern, zwischen Helden und Feiglingen, zwischen unseren hehren Idealen und dem Blick in den Spiegel, so schmerzhaft er auch sei.

 

Bild: Anton Logov, „Загиблі українці лежать на вулицях розбомбленої Бучі“ („Tote Ukrainer liegen auf den Straßen des zerbombten Bucha“).

 

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Written by Nicolas Flessa

Nicolas Flessa studierte Ägyptologe und Religionswissenschaft. Der Chefredakteur von seinsart drehte Spiel- und Dokumentarfilme und arbeitet heute als freischaffender Autor und Journalist in Berlin.

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