„Háwar, háwar!“ hat meine Großmutter mal gerufen, als ein Mann ohnmächtig auf den Boden gefallen war. Dieser Ausruf ist so etwas wie ein Hilferuf. Eine Klage. 
Diese Klage meiner Großmutter erhebt nun die Regisseurin Düzen Tekkal.

Düzen ist Deutsche mit kurdischem Migrationshintergrund. Zusammen mit ihrem Vater war sie auf dem Weg in die Kurdengebiete, um ihre Wurzeln kennenzulernen. Statt vergangene Spuren nachzuzeichnen erlebte sie den Genozid an einem Volk. Ihrem Volk, dem Volk der Jesiden.

Ein Völkermord oder Genozid ist seit der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 ein Straftatbestand im Völkerstrafrecht, der nicht verjährt. Der Begriff Genozid setzt sich aus dem griechischen Wort Génos für „Herkunft, Abstammung, Geschlecht, Rasse“ – im weiteren Sinne auch für „Volk“ – sowie dem lateinischen Caedere „morden, metzeln“ zusammen.

Im Gebiet um das Sindschar-Gebirge reicht es, Jeside zu sein, um getötet zu werden. Die Religion der Jesiden gibt es schon seit vier Jahrtausenden. 
Schon 71 mal mussten diese Menschen den Versuch eines Genozids erleiden. Nun also das 72. Mal. Doch dieses Mal ist es brutaler und gefährlicher als je zuvor.

Düzens Ziel hat sich auf dieser Reise verändert. Sie entscheidet, einen Dokumentarfilm zu drehen. Die Situation macht sie zur Kriegsberichterstatterin. Am 9. Februar 2016 wird ihr Film „Háwar – Meine Reise in den Genozid“ im Konferenzsaal der Konrad-Adenauer-Stiftung vorgestellt. Düzen würde gerne viel Spaß beim Zuschauen wünschen. Doch das geht leider nicht. Jeder, der hierhergekommen ist, um ihren Film zu sehen, weiß dass er gleich Federn lassen wird.

Für die Ereignisse, die im Film zu sehen, hören und fühlen sind, gibt es keine Form der Beschreibung. Jeder Protagonist in diesem Film ist betroffen. Und jeder Zuschauer im Saal fassungslos. Ein Völkermord im Namen der muslimischen Religion. Das Unbeschreibliche scheint in dieser Dokumentation kein Ende zu finden. Wahrscheinlich ist der Film nur ein Bruchteil von dem, was Düzen hätte erzählen können.

Ein fünfzehnjähriges jesidisches Mädchen berichtet aus der Zeit ihrer Gefangenschaft im „Islamischen Staat“. Ihre leeren Augen untermalen das Unbeschreibliche ihrer Schilderungen. Man habe sie ihrer Ehre beraubt. Dafür wird sie sich rächen, verspricht sie und blickt entschlossen in die Kamera. Sie wird sich dem bewaffneten Widerstand der Kurden anschließen.

Fahim (23) stammt aus Deutschland. Er kann damit nicht leben, in Sicherheit zu sein, während seine Leute, von der ganzen Welt im Stich gelassen, von einem Genozid bedroht sind.



„Wir haben kein Geld. Und wir haben kein Öl.
Wahrscheinlich hilft man uns deswegen nicht.“

Jeder Protagonist treibt einen weiteren Keil in die Herzen der Zuschauer. Jede Geschichte bestätigt die qualvollen Geschehnisse um das jesidische Volk. 
Düzen Tekkal hat mit ihrem Film aus Erzählungen Fakten geschaffen. Niemand kann mehr die Augen verschließen und sagen, er habe nicht gewusst, was dort geschieht. Von der Dunkelheit des Saals verdeckt hört man immer wieder ein Schluchzen oder ein trauriges Wimmern. Niemand hier im Raum traut sich zur Seite zu sehen. Betroffenheit schafft Totenstille. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Was kann man Düzen zum Abschied sagen? Herzlichen Glückwunsch? Mein Beileid?
Während ich ihr beim Hinausgehen noch einmal in die Augen sehe, muss ich an Benazir Bhutto denken. 
Düzen Tekkal ist die deutsche Benazir Bhutto. Man sieht ihr nichts an, während sie mit ihrem klaren hannoveraner Akzent im Publikum steht und die Fragen der Zuschauer beantwortet.

Genau wie bei Bhutto. Auch sie ist immer stark in der Öffentlichkeit vor ihren Leuten aufgetreten, obwohl es für sie in Wirklichkeit sicherlich nicht selten unerträglich war.

Bild: © 2016 Düzen Tekkal

Written by Hammed Khamis

Hammed Khamis wuchs in einer westdeutschen Gastarbeitersiedlung auf. Der Streetworker und Journalist ("Ansichten eines Banditen") setzt sich besonders für die Integration Jugendlicher mit Migrationshintergrund ein.

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