In einer Welt, in der viele Menschen den Begriff „Europäer/in“ durch die Zeitspanne definieren wollen, die man auf dem Kontinent verbracht hat – frisch nach dem Motto: „Wir waren zuerst da, wir mahlen zuerst“ – sind ein paar Gedanken zur Europäischen Vision mehr als angebracht.

Also, was ist „Europa“ überhaupt? Ein traditionsreicher, ca. 500.000 Jahre alter Kontinent? Die etwas in die Jahre gekommene Hoffnung auf friedliche Völkerverständigung nach zwei furchtbaren Kriegen? Oder ein lukrativer Wirtschaftsverbund in unruhigen Zeiten? Ein Nachdenken über „Europa” beinhaltet sicher weitere zahlreiche Aspekte, die einander bedingen. Hinzu kommen ständig wechselnde machtpolitische und menschliche Differenzen innerhalb und außerhalb des europäischen Kontinents. Und dann ist da noch die gelinde gesagt „ schwierige“ gemeinsame Vergangenheit, die es schwer macht, wirklich an ein Vereinigtes Europa zu glauben. Was ist erstrebenswert an einem zukünftigen „Europa” in einer Welt, die auf Globalisierung aus ist? Das Leitbild, das uns heute von den Medien vermittelt wird, ist das eines bürokratisch organisierten Elefanten-Konzerns, nicht das eines Kontinents der Vielfalt, Individualität und völkerübergreifender Visionen, an dem ich Interesse hätte.

 

Zwei Flaggen für den Frieden

Dabei fing doch alles so gut an. Es ist noch gar nicht so lange her, dass der „europäische Gedanke“ überhaupt Gestalt annahm. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, am 19. September 1946, forderte der britische Staatsmann Winston Churchill in einer flammenden Rede an der Zürcher Universität die „Vereinigten Staaten von Europa“ und verlieh dadurch den Stimmen der viel besungenen „Gründungsväter“ Ausdruck. Ein noch dramatischeres und pressewirksames Zeichen in die gleiche Richtung setzten wenige Jahre später, im Dezember 1950, die beiden Heidelberger Studenten Georg von Hatzfeld und René Leudesdorff, als sie die damals grünweiße Europaflagge auf der völlig zerstörten Insel Helgoland hissten: „Gleichberechtigung für Deutschland in einem vereinten Europa und bloß keine deutsche Wiederbewaffnung“ war die Nachricht damals.

Am 8. Dezember 1955 fand die Hoffnung auf ein geeintes und friedliches Europa ein Symbol in der berühmten Europaflagge, die ab dem 21. April 1986 auch für die Europäische Gemeinschaft und seit 1993 für die Europäische Union stand: Die Symbolik der Flagge ist so einfach wie ausdrucksstark: Auf dunkelblauem Hintergrund (der vereinende Himmel des Abendlandes) befindet sich ein Kreis (Einheit und Zusammenhalt ) aus zwölf fünfzackigen Sternen (erhoffte harmonische Ordnung der Völker Europas). Damit wollte der Europarat, dessen Aufgabe der Schutz der Menschenrechte und die Förderung der europäischen Kultur ist, den Werten Einheit, Solidarität und Harmonie Ausdruck verleihen, die zwischen den Völkern Europas herrschen und ihre Wirkung in den Rest der Welt nicht verfehlen sollten.

Seit dem ersten Hissen der Flagge zu den himmelhoch jauchzenden Klängen von Beethovens „Ode an die Freude“ sind nun fast genau 60 Jahre ins Land gegangen. Die Hoffnungen, die mit diesem Akt verbunden waren, haben sich nicht wirklich erfüllt. Liegt das – neben all der unerwarteten Umbrüche und Verwirrungen der Geschichte – vielleicht auch daran, dass die Sehnsucht nach einem geeinten Europa nicht erst eine Erfindung der Nachkriegszeit ist, sondern als Vision schon von den alten Römern und den Herrschern des Mittelalters gehegt wurde? Ist ein geeinigter Völkerbund, ob in Europa oder die ganze Welt umspannend, eigentlich ein Mythos, vergleichbar der Suche nach dem heiligen Gral oder der nach dem goldenen Vlies?

 

Der Orient im Okzident

Europa verdankt seinen Namen einer mythologischen Gestalt, und die stammt ausgerechnet aus dem Sagenschatz der heute so geschmähten Griechen. Kurz gefasst geht die Legende so: Himmelsvater Zeus verwandelt sich in einen Stier, um die schöne Phönizier-Prinzessin Europa über das Meer nach Kreta zu entführen. Dies tut er hauptsächlich, weil er sonst wieder mal Ärger mit seiner Frau Hera bekommen würde. Europa wird dabei nicht gefragt, ob sie überhaupt Lust auf diesen Ritt hat. Vielmehr wird ihr in mehrfacher Weise Gewalt angetan: Nachdem sie in ein fremdes Land entführt wird, weil der Göttervater Angst vor seiner Frau hat und seine Triebe trotzdem ausleben möchte, wird sie von ihm mehrfach vergewaltigt (was sie natürlich als Gnade anzusehen hat). Als Lohn gebiert sie ihm drei Söhne: Rhadamanthys, Minos und Sarpedon, die als gerechte Herrscher in die Erzählungen eingehen und Kreta und Lykien zum Erblühen bringen.

Als Dank dafür, dass mit der Phönizier-Tochter Kultur und Reichtum in ein bis dato kulturell unterentwickeltes Land kam, erhält gleich der ganze Kontinent, auf den Europa verschleppt wurde, ihren Namen. Wissen Sie, wo das alte Phönizien heute verortet ist? Richtig: im Nahen Osten! Übersetzt besagt der Mythos Europas also: Die alten Weisheiten des Orients – spezifisch der Gegend, die heute dank der Politik des Westens zerstört wird, so dass die Menschen dort ihrer Heimat beraubt werden – wurden damals auf unseren Kontinent verbracht (und dies wohl nicht auf friedliche Weise). Hier wurden sie aufgegriffen und mit neuen Ideen befruchtet. Die Kinder dieser unfair entstandenen Vereinigung schafften die Strukturen, in denen eine neue Hochkultur entstehen konnte.

„Europa“ ist also a) weiblich und b) von ihrer Geburtsstunde an eine belebende Vereinigung östlicher und westlicher Kulturgedanken gewesen. Es scheint mir sehr wichtig, dieses Bild gerade jetzt, wo die Angst vor dem Fremden innerhalb und außerhalb Europas erschreckend wächst, in die Welt hinaus zu tragen. Es sollte uns zur Annäherung und zur Aussöhnung anspornen und uns Mut machen. Wir müssen uns immer wieder daran erinnern, dass es wahrlich nicht das erste Mal ist, dass der Orient befruchtend und verjüngend auf den Europäischen Kontinent eingewirkt hat. Das letzte Mal, da die orientalische Kultur besonders starken Einfluss auf die europäische nahm, verließ Europa das „finstere“ Mittelalter und feierte eine „Wiedergeburt“ von Kultur, Schönheit und Lebensfreude, die uns heute als „Renaissance“ in bester Erinnerung ist.

Auch wenn dieser Entwicklung stürmische und kriegerische Zeiten vorausgingen, hat sich die damalige Vermischung von unterschiedlichen Sichtweisen, Kenntnisständen und Werten mehr als gelohnt. Und auch jetzt wird den stürmischen Winden – die spätestens seit der innerdeutschen Revolution von 1989 toben – wieder ein Fortschrittsschub folgen. Diesmal hoffentlich nicht nur für das Abendland, sondern auch für das Morgenland, aus dem Europa eines fernen Tages einmal aufgebrochen ist…

 

Weiterführende Literatur:

  • Europa und der Stier in der EuroVision, Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschlands, www.hdg.de/eurovisionen
  • Europa, der Stier und der Sternenkranz, Verena Kurzböck, www.neue-akropolis.de
  • Warum sitzt Europa auf dem Stier? Matriarchale Grundlagen von Europa, Annette Kuhn, Handbuch aus dem Haus der Frauengeschichte, Kapitel II, www.hdfg.de/pdf/Europa-Handbuch-08_Kuhn.pdf

 

Bild: Comfreak

Written by Kirsten Buchholzer

Kirsten Buchholzer startete als Übersetzerin und Lektorin in das Autorenleben. Inzwischen schreibt sie für Fachzeitschriften und -verlage Artikel und Bücher über Selbstentfaltung, kreatives Schreiben und den Einfluss der Zeitqualität auf das persönliche und gesellschaftliche Erleben.

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