Flirt, Anmache oder Übergriff? Wer weiß das schon wirklich? Dabei gibt es ganz klare rechtliche Regelungen. Meistens nur im Idealfall, denn die Realität sieht wie so oft ganz anders aus.
Schon seit Wochen rast der Twitter-Hashtag #MeToo um die Welt. Tausende von Frauen und Männern machen darunter öffentlich, sexuell belästigt oder sogar vergewaltigt worden zu sein. Ausgelöst wurde diese Netzkampagne von der Schauspielerin Alyssa Milano und ihren prominenten Kolleginnen aus Hollywood. Seitdem vergeht kein Tag ohne eine Flut von Anschuldigungen über sexuelle Belästigungen und Übergriffe, die von prominenten Frauen gegen den mächtigen Filmmogul Harvey Weinstein erhoben werden. Die Liste der Betroffenen ist lang und ein Ende keinesfalls in Sicht.
Inzwischen hat #MeToo sogar internationale Bekanntheit erlangt und erzählt täglich davon, dass auf Erden wohl völlig willkürlich gelebt, gelitten und missbraucht wird. Es geht dabei um Nötigung, Schläge, aber auch sexuellen Missbrauch. Das bringt die Menschheit in Rage und hat deshalb auch zu vielen weiteren Vorwürfen gegen andere prominente Männer geführt. Und während dieses Thema gerade eine völlig neue Medienpräsenz erfährt, kommt es doch vielen schon seit Jahren bekannt vor. Denn sexuelle Belästigungen gehören in der modernen Arbeitswelt scheinbar zum Alltag.
Laut einer Studie der Internationalen Arbeitsorganisation ILO (International Labour Organization) sind innerhalb der EU die Mehrheit der Frauen (ca. 50 %), aber auch Männer während der Arbeitszeit schon einmal sexuell belästigt worden. Und anders als in Hollywood sind nur wenige Betroffene bereit, darüber auch öffentlich zu sprechen. „Viele kennen noch nicht einmal ihre Rechte, haben Angst ihren Job zu verlieren, selbst beschuldigt zu werden oder aber den Ruf eines Kollegen oder Chefs zu schädigen,“ sagt Christine Lüders, Direktorin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes.“
Regelungen im AGG
Grundsätzlich ist der Arbeitgeber nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz (AGG) dazu verpflichtet, seine Mitarbeiter vor sexuellen Belästigungen zu schützen. Hierzu gehören nach § 3 Abs. 4 AGG unerwünschte sexuelle Handlungen und Aufforderungen, sexuell bestimmte körperliche Berührungen, Bemerkungen sexuellen Inhalts sowie unerwünschtes Zeigen und sichtbares Anbringen von pornographischen Darstellungen. Allerdings hat sexuelle Belästigung tausend Gesichter und kann in ganz unterschiedlichen Formen auftreten. Problematisch sind dabei immer noch die Grenzfälle, die vom Täter gerne auch verharmlost werden.
Fakt ist aber, dass Übergriffe immer einseitig und gegen den Willen des Opfers geschehen. Deshalb taugen zotige Sprüche, taxierende Blicke oder anzügliche Bemerkungen, die von den Betroffenen als unerwünscht oder entwürdigend erlebt werden, ganz sicher nicht als Flirt oder Kompliment, sondern gelten ganz klar als sexuelle Belästigung. Gleiches gilt für unerwünschte SMS, E-Mails und physische Übergriffe wie scheinbar zufällige oder unerwünschte Berührungen. Im Übrigen schützt das AGG den Mitarbeiter nicht nur an seinem betrieblichen Arbeitsplatz, sondern auch auf Geschäftsreisen, Betriebsfeiern und Fahrten zum Arbeitsplatz und schließt auch Videos, Fotos und Telefonate ein.
Recht versus Realität
Wer sich also von einem Kollegen oder einer Kollegin sexuell belästig fühlt, kann sich beim Chef, dem Betriebsrat, aber auch bei der Personalabteilung beschweren. Bleibt die Beschwerde beim Arbeitgeber tatenlos, darf der betroffene Mitarbeiter bei fortlaufender Gehaltszahlung seine Tätigkeit niederlegen. Denn niemand soll schutzlos Belästigungen von Kollegen ausgesetzt sein. Voraussetzung ist allerdings, dass diese Maßnahme zuvor schriftlich und unter Angabe von Gründen bereits mitgeteilt wurde. Außerdem kann Schadenersatz (Schmerzensgeld, Behandlungskosten) geltend gemacht werden und je nach Ausmaß des Übergriffs auch Strafanzeige erstattet werden.
So der Idealfall! In der Realität ist es allerdings, wie so häufig in der Juristerei: Es kommt darauf an! Auf die Branche, die Unternehmenskultur, aber auch auf die Beteiligten (Achtung Chef!) Denn wer einen bestimmten Status im Unternehmen hat, nutzt dieses Gefälle gerne für seine Zwecke aus und demonstriert dann seine Macht. Je nach Ausmaß der Aktion kann man auf Übergriffe zwar souverän reagieren und den Täter einfach belächeln oder ignorieren. In den meisten Fällen findet sich das Opfer jedoch rasant schnell in einem unheilvollen Hamsterrad der permanenten Scham und Manipulation wieder.
Dann alleine Berge zu versetzen, kostet Nerven und meistens auch den Job. Deshalb empfiehlt es sich auch, je nach Situation, einen Rechtsanwalt hinzuziehen. Erste Hilfe erhalten die Betroffen aber auch an Hilfstelefonen, wie z.B. bei der Hilfe- und Beratungsstelle der Antidiskriminierungsstelle des Bundes: 030/18 555 1865, um dann gemeinsam geeignete Maßnahmen einzuleiten. In Sachen „sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz“ gibt es also noch viel zu tun. Twitter-Hashtags wie #MeToo oder #Aufschrei setzen zwar kurzfristig etwas in Bewegung, verebben dann aber doch meistens schnell wieder.
„Es fehlt in unserer Gesellschaft immer noch an dem entsprechenden Unrechtsbewusstsein, sagt Christine Lüders. „Viele wissen immer noch nicht, dass jede Form der sexuellen Belästigung im Arbeitsumfeld verboten ist.“ Außerdem sei noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Demnach hängt also auch noch viel vom Verständnis und dem Bewusstsein eines jeden Einzelnen ab. Und solange noch kein wirklich kultureller Wandel in Sicht ist, lautet vermutlich noch länger die Frage: #YouToo?
Bild: surdumihail
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