seinsart. Ein Name wie dieser lässt viele Deutungen zu. Eine der häufigsten Varianten, die wir bislang gehört haben: die Art und Weise zu sein, die Kunst des Lebens. In der Tat ist es die erklärte Absicht dieses Magazins, in wesentlichen Fragen zu informieren, zu inspirieren und immer auch zu Handlungen anzuregen. Wissen um seiner selbst willen hat mehr mit Unterhaltung denn mit „Lebenskunst“ zu tun, so erhaben und komplex es sich auch gestalten möge.
Uns von seinsart beschäftigen Fragen, deren Beantwortung einen existenziellen Charakter haben. Wie definieren wir das? Indem wir feststellen, dass es einen Unterschied macht, zu welcher Antwort man in der betreffenden Frage kommt. Die Frage „Hat Heinrich VIII. seine Frauen ermordet?“ ist zweifellos interessant und füllt nicht umsonst ganze Regalmeter an historischen Romanen. Gleichzeitig spielt ein „Ja“ oder ein „Nein“ keine Rolle für den, der sich in ihr zu einer eigenen Haltung durchgerungen hat.
„Töten zu viele Flüchtlinge unsere abendländische Kultur?“ oder „Halte ich Sterbehilfe für ein legales Mittel, Leid zu beenden?“ sind im Gegenteil Fragen, deren Beantwortung unser Wirken und Handeln nicht unwesentlich beeinflussen. Erstere führt im Augenblick zu einer Art Kulturkampf, wie wir ihn lange nicht mehr in unserem Land beobachten konnten; sie zu entscheiden, macht ein gesamtgesellschaftliches Ringen erforderlich. Zweitere mündet morgen Vormittag in eine Abstimmung des Deutschen Bundestags. Gewählte Volksvertreter werden nach einer zweistündigen Aussprache über die Zukunft unseres ganz persönlichen Sterbens befinden.
Sterbehilfe in Deutschland per Dekret?
Es wäre sicherlich falsch anzunehmen, dass es morgen wirklich um die ganz große Frage nach dem selbstbestimmten Sterben ginge. Keiner der vier zur Abstimmung stehenden Anträge sieht eine Verhandelbarkeit des eigenen Lebens im Sinne anderer Lebensentscheidungen wie Wohnortwechsel oder Partnerwahl vor. Selbst der liberalste der Entwürfe mit dem Titel „Über die Straffreiheit der Hilfe zur Selbsttötung“ betont, es werde „die gewerbsmäßige Hilfe zur Selbsttötung verboten…“ Er gilt im Übrigen als ebenso aussichtslos wie sein konservativer Gegenvorschlag mit dem Titel „Über die Strafbarkeit der Teilnahme an der Selbsttötung„, der sich auf die Fahnen schreibt, „eine Begleitung bis in den Tod (zu) fördern und nicht die Beförderung in den Tod.“
Und doch belegen schon die Titel der beiden aussichtsreichsten Gesetzesentwürfe, dass es morgen um eine grundsätzliche Richtungsentscheidung geht. Während sich der eine anschickt, die „Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ zu regeln, widmet sich der andere der „Regelung der ärztlich begleiteten Lebensbeendigung (Suizidhilfegesetz)„. Letzter stellt fest: „In den Fällen von irreversibel zum Tode führenden Erkrankungen können Entscheidungen im Hinblick auf das Lebensende (…) im Rahmen eines zwischen Arzt und Patient bestehenden Vertrauensverhältnisses in angemessener Weise getroffen werden.“ Im ersten Antrag heißt es dagegen: „Der Entwurf schlägt die Schaffung eines neuen Straftatbestandes im Strafgesetzbuch vor, der die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe stellt.“
Sollte keiner der Gesetzesentwürfe eine Mehrheit bekommen, bleibt es beim gegenwärtigen Zustand: Aktive Sterbehilfe ist verboten, passive oder indirekte Sterbehilfe werden jedoch juristisch nicht geahndet. Die zahlreichen und zum Teil sehr emotionalen Diskussionen selbst unter Berufspolitikern, die mit einer Aufhebung des Fraktionszwangs erheblich authentischer geführt werden konnten, zeigen, wie schwer es ist, individuelle Ethik in eine allgemeingültige Gesetzesform zu gießen. Was wir morgen ab 9 Uhr im Livestream des Bundestages verfolgen können, ist ein Paradebeispiel demokratischen Politikverständnisses. Keine äußere Instanz – weder eine religiöse noch eine politische Autorität wie der Papst, die Kanzlerin oder eben der Fraktionsführer – wird mehr Einfluss auf den zukünftigen Umgang mit dem Sterben in Deutschland haben als das Gewissen der Abgeordneten. *
Jedes Sterben ist privat
seinsart, das sich zur Aufgabe gemacht hat, Fragen nach dem Leben zu stellen (Wie will ich leben? – Wofür will ich leben? – Mit wem will ich leben?), möchte diese wegweisende Diskussion zum Anlass nehmen, unser Themenspektrum um eine wesentliche Frage zu ergänzen: Wie will ich sterben? Im Gegensatz zum Bundestag aber möchten wir vermeiden, durch reine Mehrheitsentscheidung eine verbindliche Antwort für alle zu geben. Stattdessen geben wir das Wort an Sie, unsere Leserinnen und Leser: Schreiben Sie uns an redaktion@seinsart-magazin.de und teilen Sie mit uns Ihre ganz persönliche, individuelle Sicht der Dinge. Ob ein Wort („Allein!“), eine bereits gemachte Erfahrung (z. B. der Tod eines lieben Verwandten) oder eine philosophisch-religiöse Haltung zu dem Thema: Alle Antworten sind uns willkommen.
Unter den Einsendern verlosen wir eine ganz besondere Neuerscheinung: Das fast 700 Seiten starke Werk „Die dunkle Nacht der Seele. Nahtoderfahrungen und Jenseitsreisen“ des Philosophen und Kulturgeschichtlers Hans Peter Duerr. Es ist am 6. Oktober im Insel Verlag erschienen. „Jenseits von Esoterik und dogmatischem wissenschaftlichem Rationalismus erhält ein häufig auftretendes und meist unverstandenes Phänomen eine überzeugende Erklärung.“ Wir freuen uns auf Ihre Zuschriften unter redaktion@seinsart-magazin.de
* Update von 13:00: Die Würfel sind gefallen: Abgegeben wurden 602 Stimmzettel, ungültig waren drei. 309 Stimmen entfielen auf den Antrag „Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ (auch Brand/Griese-Vorschlag genannt). 128 Stimmen entfielen auf den Antrag „Regelung der ärztlich begleiteten Lebensbeendigung (Suizidhilfegesetz)“ von Hintze/Lauterbach, 52 Stimmen für die liberalste Regelung nach Künast/Sitte und 37 Stimmen für ihr konservatives Pendant. Mit Nein stimmten 70 Abgeordnete, 3 enthielten sich. Der in diesem Augenblick mit 360 Stimmen vom gesamten Parlament angenommene Text lautet: „Der Entwurf schlägt die Schaffung eines neuen Straftatbestandes im Strafgesetzbuch (StGB) vor (§ 217 StGB-E), der in Absatz 1 die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe stellt. Diese Tätigkeit soll als abstrakt das Leben gefährdende Handlung verboten werden. Nach Absatz 2 sollen Angehörige oder andere dem Suizidwilligen nahestehende Personen, die sich lediglich als nicht geschäftsmäßig handelnde Teilnehmer an der Tat beteiligen, von der Strafandrohung ausgenommen werden.“
Bild: jonel hanopol
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