Sabine hatte Glück. Als sie die Nachricht bekam, dass sie ihren Job verlieren würde, saß sie gerade anchanitten in einem einwöchigen Seminar über Selfimprovement, und ihre Seminarkolleginnen, allesamt spirituell schon lange auf der Zielgeraden, hatten gleich die passenden Worte bereit.

Sabine war geschockt: Ihr Chef hatte ihr letztes Gehalt nicht überwiesen und aus heiterem Himmel Insolvenz angemeldet. Der Job, in dem sie so glücklich gewesen war, für den sie sich so angestrengt, so viele Überstunden gemacht hatte, der Arbeitsplatz, der so sicher schien – war plötzlich weg. Und jetzt? Ein Gefühl von Zerstörung machte sich in ihr breit, so, als sei zu Hause in ihrer Abwesenheit eine Bombe geplatzt und hätte einen Teil ihres Lebens in Schutt und Asche gelegt. Ihr Chef hatte sie angelogen, sie und die gesamte Belegschaft, hatte keinen von ihnen vorbereitet oder die Chance gegeben, rechtzeitig etwas Neues zu suchen. Er hatte einfach weitergemacht wie bisher – und dann, vor einem Tag, hatte er die Bombe platzen lassen. Sabine erfuhr es durch eine SMS ihrer Arbeitskollegin und war unvermittelt in Tränen ausgebrochen. Ihre Seminarkolleginnen waren sofort mit Trost zur Stelle: „Sei nicht traurig. Das alles wäre sicherlich nicht passiert, wenn es nicht hätte sein sollen!“ „Der Job war nicht der Richtige für Dich, sonst wäre das nicht geschehen.“ „Du weißt, das Schicksal hilft immer nach, wenn man den falschen Weg einschlägt.“ „Die geistige Welt will Dir damit ein Zeichen geben.“ „In dem, was passiert ist, liegt eine wichtige Lernaufgabe für Dich.“

Doch Sabine war nicht getröstet. Im Gegenteil, sie wurde sauer. Zuerst verstand sie nicht, warum, die Frauen meinten es ja wirklich gut mit ihr. Aber musste jede Wut und Trauer denn sofort mit einem „Es ist besser so für Dich!“ zugekleistert werden, so, als würde man Honig auf ein schimmeliges Brot schmieren, damit man den Schimmel nicht mehr schmeckt? Wenn Sabine ganz ehrlich zu sich war, dann interessierte es sie auch überhaupt nicht, ob hinter all dem eine wichtige Lernaufgabe steckte. Warum musste hinter allem, was man erlebte, immer eine Lernaufgabe verborgen sein? War das ein spirituelles Dogma? Gab es denn nicht noch andere Personen, die am Leben eines Menschen Anteil nahmen und sein Schicksal mitgestalteten? Schließlich drehte die Erde sich nicht alleine um sie, Sabine. Warum sollte also sie selbst etwas Wertvolles daraus lernen, wenn es doch wohl eher ihr Chef war, für den eine Lektion bereit stand? Und wo stand in Stein gemeißelt, dass diese Arbeitsstelle nicht die Richtige für sie gewesen war, nur weil ihr Chef versagt hatte?

Sabine verabschiedete sich von ihren Seminarkolleginnen. Sie fuhr nach Hause, um alles Notwendige zu regeln. Und sich zum ersten Mal seit langem darüber Gedanken zu machen, was im Leben nun wirklich Bestimmung war und was in ihrer eigenen Macht lag.

 

Eine kleine Geschichte des Schicksals

„Zufälle gibt es nicht“, ist ein geflügeltes Wort unter Esoterikern; auch religiös veranlagte Menschen berufen sich auf den unergründlichen Willen Gottes. Dahinter steckt nichts anderes als die Annahme, dass alles vorherbestimmt sei, und in einem weiteren Rückschluss der Glaube, alles werde so passieren, wie es richtig für uns ist. Mehr noch, von Beginn unserer Geburt an sei alles genauso angelegt, wie es für uns sein soll, damit wir unserer Berufung näher kommen.

Doch wo kommt er eigentlich her, dieser Glaube an die Unfehlbarkeit unseres Schicksals? Was ist das überhaupt – Schicksal? Und wie groß ist seine Macht tatsächlich? Diese Fragen beschäftigen nicht nur Sabine, sondern die Menschheit seit Menschengedenken. Ganze philosophische Schulen sind darüber entstanden, von den Religionen ganz zu schweigen.

„Schicksal, das ist

  1. von einer höheren Macht über jemanden Verhängtes, ohne sichtliches menschliches Zutun sich Ereignendes, was jemandes Leben entscheidend bestimmt
  2. eine höhere Macht, die in einer nicht zu beeinflussenden Weise das Leben bestimmt und lenkt“

So steht’s im Duden. Was wir dort nicht finden, ist eine Antwort auf die brennende Frage, inwieweit wir es beeinflussen können.

Ein Blick in die Wiege abendländischer Geschichtsschreibung zeigt – auch die großen griechischen Philosophen der Antike waren sich darin uneins. Schicksal (niederländisch „schicksel“ = Fakt) war in der polytheistischen Weltanschauung des Altertums personifiziert. Es oblag den Schicksalsgöttinnen oder –göttern, einzugreifen und das Geschick eines Menschen oder ganzen Volkes ganz oder mitzubestimmen – je nach regionaler Ausprägung. Bei den Römern war dafür die berühmte Fortuna zuständig, die dem erfreuten Römer über ein Füllhorn das günstige Schicksal in den Schoß schüttete, bei den Germanen spannen die drei Nornen ihre Schicksalsfäden zu einem unabänderlichen Lebensablauf, bei den Griechen gab es die Unheil bringende Moira, die sich später zu den drei Moiren vervielfältigte. Die Griechen waren es auch, die sich in ihren philosophischen Schulen intensiv mit der Thematik von Schicksal und Vorbestimmung auseinandersetzen.

Das Schicksal nimmt nichts, was es nicht gegeben hat.
(Lucius Annaeus Seneca)

Eine dieser berühmten Schulen war die Stoa. Die Stoiker, Anhänger dieser Schule, machten den idealen Ablauf des menschlichen Lebens von Naturgesetzen abhängig und ernannten die Pflichterfüllung im Sinne der Naturgesetze und Befreiung von nicht zweckdienlichen Emotionen zum höchsten Ideal. Dieses war mit einem unerschütterlichen, emotionslosen Gemüt zu erreichen – und mit Gelassenheit dem Schicksal gegenüber, das als vorbestimmt galt. Ganz anders die Epikureer, einer anderen philosophische Schule zugehörig und ebenfalls aus dem nachklassischen Griechenland: Sie glaubten, dass der Mensch nur aus Materie bestünde, die Götter sich in Zwischenwelten aufhielten und keinen Einfluss auf die menschlichen Geschicke hätten. „Wir dürfen nie vergessen, dass die Zukunft zwar gewiss nicht in unsere Hand gegeben ist, dass sie aber ebenso gewiss doch auch nicht ganz außerhalb unserer Macht steht.“ So formulierte Epikur, der Vater dieser philosophischen Ausrichtung. Das Ziel des epikureischen Lebens bestand konsequenterweise darin, den in menschlicher Macht befindlichen Teil des Schicksals so lustvoll wie nur möglich zu gestalten.

Die Römer übernahmen mit der griechischen Kultur auch ihre Philosophien und entwickelten sie passend zu ihren Bedürfnissen weiter, doch das frühe Christentum streckte um 400 unserer Zeit die antike Denkfreudigkeit mit Gottesfürchtigkeit endgültig nieder. Im Christentum war – wie in den zwei anderen monotheistischen Weltreligionen Islam und Judentum – die Vorstellung von dem einen Allmächtigen dominant, der alle Schicksale lenkte und dessen Anordnungen und schicksalhaften Vorgaben man sich zu unterwerfen hatte: Fatalismus war im christlichen Mittelalter nicht selten die vorherrschende Gesinnung. Aufgebrochen wurde sie von der Renaissance durch die Wiederentdeckung der antiken Schriften, doch beim gemeinen Volk kam davon wenig an. Die Inquisition und Hexenverfolgungen taten ihr Übriges, so dass erst die Aufklärung 300 Jahre später dem Glauben an die schicksalhafte Allmacht Gottes ernsthaft zu Leibe rückte. Der Mensch als Individuum gewann an Bedeutung, die Eigenständigkeit der menschlichen Entscheidung wurde gefördert. Dies führte zu der Auffassung, dass das Schicksal zwar in einem gewissen Rahmen vorgegeben sei, doch der Mensch darüber hinaus selbst bestimmen könne. Immanuel Kant, eine Galionsfigur der Aufklärung, fasste diese Vorstellung so zusammen: „Der Ziellose erleidet sein Schicksal – der Zielbewusste gestaltet es.“

Gegenströmungen wie Sturm und Drang oder die Romantik betonten umso mehr des Schicksals Macht. Selbst Goethe glänzte durch Fatalismus: „Der Mensch mag sich wenden wohin er will, er mag unternehmen was es auch sei, stets wird er auf jenen Weg wieder zurückkehren, den ihm die Natur einmal vorgezeichnet hat.“

Und heute? Im modernen Europa wird uns keine Religion mehr zwingend auferlegt. Doch die Geister scheiden sich wie in Zeiten der Aufklärung immer noch in naturwissenschaftlich oder spirituell orientierte Menschen. Die Fraktion der Naturwissenschaftler geht von der Hoheit der Materie und der Nicht-Existenz alles Nicht-Beweisbaren aus, konsequenterweise existiert ein Gott nicht, die menschliche Existenz endet mit dem körperlichen Tod, sie ist ein Verbund aus folgerichtigen Entwicklungen der Natur (Evolution), Zufällen und menschlichen Entscheidungen.

Alle Handlungen, alle Werke, alles Karma, gehören zur Natur, nicht zum Göttlichen. Der Mensch ist es, der sein irdisches Los bestimmt. Die Menschen besiegeln ihr Schicksal selbst.  (Bhagavad Gita)

Spirituell geprägte Menschen glauben indes weiterhin an die höhere Macht, die alles lenkt, je nach Religion mehr oder weniger fatalistisch. In der modernen Esoterik ist die Schicksalsgläubigkeit sogar besonders verbreitet, was maßgeblich an der Theosophie und Anthroposophie liegt. In diesen beiden esoterischen Lehren existiert die Idee von einem Buch des Lebens, einer Art Gedächtnis der Welt, Akasha-Chronik genannt. Die Vorstellung von einem Weltengedächtnis ist nicht neu, man findet sie bei den alten Griechen ebenso wie in der Renaissance. Manche Esoteriker stellen sich die Akasha-Chronik in Form von Schriftrollen vor, die millionenfach an einem geheimen Ort in Indien gehortet werden, die meisten verstehen die Akasha-Chronik aber als eine Art kollektive Matrix aus Informationen über vergangene und zukünftige Leben, auf die jeder Zugriff hat, wenn er weiß, in welchen feinstofflichen Sphären er danach suchen soll. Wie immer man sich die Akasha-Chronik nun vor dem inneren Auge gestaltet – der Glaube an ihre Existenz hat sich zusammen mit Elementen des buddhistischen und hinduistischen Glaubens an Wiedergeburt, Karma und Vorbestimmung in ein esoterisches Dogma geformt, das besagt, alles sei vorherbestimmt und alles, was geschehe, diene dem individuellen, seelischen Wachstum.

 

Innerer Schweinehund gegen innere Weisheit

Doch kann das wirklich sein? Kann man bei der Masse an Menschen, die auf Erden lebt, von einer exklusiven, individuellen Ausrichtung des Lebens für jeden Einzelnen ausgehen? Zwar ist die Vorstellung, dass sich im Leben alles nur um mich und meine Seele dreht, weil alles, was mir widerfährt, dem Lernen und der Spiegelung meiner Person dient, irgendwie toll – denn damit ist jeder einzelne Mensch ein Gott, er steht sozusagen im Zentrum des (bzw. seines eigenen) Universums. Aber sie ist auch absurd, wenn man sich vorstellt, dass auf der Welt über sieben Milliarden Menschen ständig agieren und aufeinander reagieren, und dabei durch die verschiedensten Faktoren wie soziales Umfeld, Gesellschaft, Klima und Landschaft beeinflusst sind.

Vielleicht hat also doch nicht alles mit mir zu tun und muss auf mich selbst bezogen werden – vielleicht sind wir manchmal einfach zur falschen Zeit am falschen Ort, werden in zwischenmenschliche oder auch kollektive Ereignisse hineingezogen, deren Energiefeld so groß ist, dass es das unsere überdeckt oder gar verschluckt. In einen Krieg zu geraten, wäre ein solches Beispiel. Oder in eine kulturelle Revolution. Das ist natürlich einerseits eine Frage der Zeit, in die man hineingeboren wird, also der Ausrichtung einer ganzen Generation – andererseits ein Beispiel dafür, wie die Handlungen anderer Menschen unser Leben beeinflussen – ohne dass es gleich direkt mit uns zu tun haben muss. Vielleicht liegt also das, was uns formt, nicht so sehr in den Voraussetzungen, die wir für unser Leben vorfinden, sondern darin, wie wir mit ihnen umgehen, also welche Entscheidungen wir zu welchem Zeitpunkt treffen. Die sind natürlich wiederum beeinflusst von unserer Erziehung und unseren Genen, doch zumindest in den industriellen Ländern gibt es die Möglichkeit, sich selbst, zu Not mit Hilfe von Psychologie, genügend kennenzulernen, um die Fremdbestimmung durch das Umfeld wirksam mit eigenen Entscheidungen zu kontern. Natürlich nur dann, wenn man an eine persönliche Handlungsfreiheit glaubt.

Nicht, was wir erleben, sondern wie wir empfinden,
was wir erleben, macht unser Schicksal aus.
(Marie von Ebner-Eschenbach)

Vielleicht sollte man also die Frage umdrehen – was nützt es uns, fatalistisch zu sein? Es hilft, mit unabwendbaren Schicksalsschlägen besser klar zu kommen, so viel steht fest. Schwierige Zeiten und schlimme Erlebnisse sind besser zu ertragen, wenn man nicht die ganze Last der Verantwortung übernimmt, sondern an eine höhere Macht abgibt: Dein Wille geschehe.

Andererseits kann es dazu führen, dass man sich zu sehr fremdbestimmen lässt, wenn man seinen Anteil der Verantwortung nicht annimmt. Ist die Unabwendbarkeit des Schicksals manchmal nicht auch eine geniale Entschuldigung dafür, sich nicht aus der eigenen Komfortzone herausbewegen zu müssen? Dem inneren Schweinehund statt der inneren Weisheit zu folgen? Es hat ja sowieso keinen Sinn, sich anzustrengen, wenn alles schon vorgegeben ist. Doch wenn wir zu leicht aufgeben, was erreichen wir dann im Leben?

 

Stolpersteine auf dem Weg zum Erfolg

Als Sabine darüber nachdenkt, abends in ihrem Wohnzimmer, fällt ihr ein Interview mit der deutschen Schauspielerin Veronica Ferres ein, das sie einmal gelesen hat. Darin erzählt die Aktrice, sie sei mehrmals von Schauspielschulen abgewiesen worden, weil sie mit 1,78 Metern zu groß gewesen sei. Heute zählt sie zu den bekanntesten Schauspielerinnen in Deutschland. Wie anders hätte sich ihr Leben gestaltet, wenn sie die Absage der Schauspielschule zum Anlass genommen hätte, an ihrer Berufung zur Schauspielerin derart zu zweifeln, dass sie die Schauspielerei an den Nagel gehängt hätte? So wie ihr erging es vielen heute bekannten Schauspielern. Sie sind abgelehnt worden und verdienen heute in Hollywood Millionen. Das, was sie von anderen Kollegen unterschied, war ihre Bereitschaft, weiterzukämpfen, so lange, bis es klappen würde. Und die Portion Glück, die man dann doch braucht, um vom No Name in den Hollywood-Olymp aufzusteigen.

Nicht jedes Hindernis, nicht jedes Versagen macht also gleich eine fatalistische Abkehr nötig. Vielleicht sind manche Stolpersteine auch als Prüfung gedacht, um unseren Willen zu stärken, unsere Strategie neu zu überdenken, so ähnlich wie ein Eisen, dass mehrmals ins Feuer muss, bevor es seine endgültige Form erreicht. Und vielleicht sind manche überhaupt nicht gedacht, sie passieren einfach so, weil andere auf dieser Welt ihren eigenen Willen haben und ihre eigenen Bälle ins Rollen bringen. Churchill sagte dazu: „Die Kunst ist, einmal mehr aufzustehen, als man umgeworfen wird.“ Für manche Dinge im Leben lohnt es sich einfach, immer wieder aufzustehen und zu kämpfen, auch wenn das Schicksal einem Steine in den Weg legt.

Die letzte Wahrheit darüber, wie viel Schicksal in unserem Leben unabänderlich und wie viel frei bestimmbar ist, weiß man heute ebenso wenig wie all die Denker und Philosophen in längst verblichenen Jahrhunderten. Doch man kann sich eine Meinung bilden. Die Lösung besteht wohl wie in so vielen Dingen des Lebens in einer guten Mischung, der richtigen Mischung aus Schicksalsgläubigkeit und Handlungsfreiheit. Wie der komödiantische Filmemacher Curt Goetz so schön sagte: „Man soll die Dinge so nehmen, wie sie kommen. Aber man sollte auch dafür sorgen, dass die Dinge so kommen, wie man sie nehmen möchte.“

 

Bild: LoveToTakePhotos

Written by Michelle Schopen

Michelle Schopen ist studierte Online-Redakteurin. Seit 30 Jahren arbeitet sie in den Medien, zunächst als TV-Aufnahmeleiterin, seit 2003 als freie Journalistin zu den Themen Kultur, Gesellschaft, Psychologie und Spiritualität.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.