Vorwurfsvoll schlug mir im Rahmen der Pariser Terrorakte die Frage entgegen: Warum berührt es euch nicht genauso, wenn in Beirut Bomben explodieren oder eine russische Passagiermaschine über Ägypten abgeschossen wird? Das Streben, mir ein schlechtes Gewissen einzureden, wirkte nur sehr kurz und wechselte in Zorn auf einen berechnenden Fragesteller, der mir in seiner, aus dem eigenen Ego gespeisten, universalistischen Weltsicht einreden wollte, ich sortiere die Schicksale der Menschen nach ihrer Herkunft.
Ich war wütend, weil er vorhatte, mich zu entmenschlichen. Denn als Mensch entspringt meine Empathie völlig natürlich aus einem Wort: Nähe. So waren mir die Kinder aus der Russischen Föderation, die 2002 bei Überlingen abstürzten, menschlich genauso nah, wie die des Germanwings-Fluges, der in den französischen Seealpen zerschellte – weil die Vorstellung über den Schmerz bei Verlust eines Kindes immer sofort präsent ist. Dafür musste ich nicht erst Vater werden.
Emotional ferner blieben mir die russischen Opfer über dem Sinai. Sie waren mir unbekannt, es gab keine persönliche Identifikation, die über jene eines beliebigen anderen Absturzes hinausgeht. Diese Vorstellungskraft fehlt mir auch für ein Beiruter Kaufhaus, für eine Stadt, die mir fremd ist und wahrscheinlich bleiben wird. Dieser Mangel steht im Gegensatz zu einem Sitzen im Straßencafé am Place de la Bastille, dort wo meine Frau und ich vor drei Jahren unseren Espresso getrunken haben. So, wie es für viele Mitteleuropäer selbstverständlich ist. Deshalb ist das Pariser Café für uns so nah, wie eines am Ku’damm. Nähe und Distanz machen die Stärke unserer Empathie aus.
Anders herum gefragt: Wieviel Distanz muss ein Mensch haben, um andere, ihm völlig Unbekannte, mit einer Halbautomatik oder der Gürtelbombe zu töten? Dies sogar als gerecht zu empfinden und dafür bereit zu sein, das eigene Leben zu opfern? Wäre der Versuch, diese Frage zu beantworten, nicht die bessere Ursachenforschung, als sich aus fraglos multikausalen Zusammenhängen einen herauszupicken, der dann einer Ideologie entspringt, die zufällig die eigene ist?
Wie kann man das untersuchen, ohne sich auf halbgare und gefärbte Informationen zu verlassen? Indem man sich nur auf das verlässt, was man persönlich erfahren hat und dies mit der augenblicklichen Wahrnehmung vergleicht. Die lautet: Es gibt den „Clash of Cultures“. Ihn wegzureden, wäre eher Verdrängung. Gab es ihn schon immer, dort, wo man, oder speziell ich, ihn hätte erfahren können: Hier, bei uns?
Internationalismus predigen und Zwietracht säen
Ich sage nein! Es gab den Punkt der selbstverständlichen Harmonie, die sicher ausbaufähig, aber auf einem guten Weg war. Den ersten Angriff auf eine Selbstverständlichkeit des Andersseins musste ich in den 1970ern bereits in der Grundschule erfahren. In eine Klasse mit 12 unterschiedlichen Nationalitäten oder Herkünften, die bis dahin nur eines erweckt hatten, nämlich Neugier am anderen, platzten missionarische 68er-Referendare, die unseren Mitschülern mit nicht deutschen Wurzeln zunächst beibringen mussten, wie unterdrückt sie doch seien, sie aufforderten, ein auf Herkunft basierendes Bewusstsein zu entwickeln.
Als erste Folge dieses provozierten Konfliktes durfte ich mir als Arbeiterkind dann vom italienischen Zahnarztsohn anhören, dass er für mich nur zum „Dreckwegräumen“ da sei. Propagierte verkehrte Welt, die wie alle Propaganda zur Wirklichkeit wird, wenn sie oft genug Wiederholung erfährt. Internationalismus predigen und Zwietracht säen, damit auch ja das Weltbild stimmt.
Trotzdem ließ es sich diese gemeinsam sozialisierte Generation nicht nehmen, Gemeinsamkeiten zu suchen und auszuführen. Kritisch beäugt wurde dies von deren Eltern. Die einen, noch mit krankem nationalistischem und teilweise rassistischem Gedankengut aufgewachsen, die anderen mit der Angst behaftet, dass sich ihre Kinder im immer noch fremden Land ihnen entfremden würden. Doch diese Generation war stark, litt noch nicht unter der ständigen Bevormundung, die durch eine angebliche Notwendigkeit des Beschützens hervorgerufen wird und deren Folge die Entmündigung ist. Private Medien und ihr Interesse zu divergieren, um höhere Profite aus einer gespaltenen Gesellschaft zu erlangen, gab es kaum. Damit es zur Spaltung kam, brauchte es andere Ereignisse.
Der erste Schritt kam von außen, ganz weit weg, wie wir meinten. Es nannte sich Islamische Revolution. Als linker und politisch interessierter Zehntklässler begrüßte ich diese als Akt einer antiimperialistischen Selbstbefreiung, zumal die von westlichen Medien gern propagierte „Weiße Revolution“ des Schahs für jene, die es interessierte, klar die Fortsetzung eines kolonialen Gedankens war. Eine Form von Rudyard Kiplings „The White Man’s Burden“, bei der den minderbemittelten Urvölkern zunächst beigebracht werden müsse, was Zivilisation ist. In der schwarz-weiß gefärbten Situation des Kalten Krieges sah ich in der Islamischen Revolution sogar eine Möglichkeit für den „Dritten Weg“. Eine Besinnung auf spirituelle Werte jenseits einer skrupellosen kapitalistischen Ressourcenausbeutung der Welt und einem real existierenden Sozialismus, der nur noch dem Ziel einer Selbstbereicherung seiner Avantgarde diente.
Die Auswirkungen der Islamisierung kamen erst Jahre später hier an. Sie trafen zeitgleich auf Ausgrenzungsprozesse, die scheinbar von einem erstarkenden Feminismus ausgingen. Das vom selbstherrlichen Patriarchen geprägte Männerbild geriet ins Wanken, traf umso stärker die in traditionellen Vorstellungen Aufgewachsenen. Die Protagonisten dieser Ausgrenzung waren aber nicht die um ihre Gleichbehandlung kämpfenden selbstbewussten Frauen, sondern ein Typus Mann, den ich als Beschützer-Chauvinisten bezeichne.
Als ich das erste Mal von Zugangsverboten in öffentlichen Lokalen wegen eines „südländischen Aussehens“ hörte, konnte ich diesen gelebten Rassismus nicht glauben. „Unsere“ Frauen würden sich von der übertrieben maskulinen Art der „Südländer“ belästigt fühlen, meinten männliche Kontrolleure. Von Frauen hatte ich das nie gehört. Boykottaufrufe gegen diesen Rassismus meinerseits verklangen, Solidarisierungen erreichten keine Wirkung, zumal dieses Phänomen wohl das gesamte westliche Europa betraf. Die Saat der Ausgrenzung war gelegt, die Gesellschaft erwies sich als zu schwach, zu uninteressiert, um dem entgegenzuwirken.
Ein 30 Jahre alter Abgrenzungsprozess
In eine Gesellschaft, die einen wegen Äußerlichkeiten auch nur partiell ablehnt, integriert man sich nicht mit Freude, sondern hinterfragt sie. Schnell kommt man dann zu der Erkenntnis, dass sich der westliche Lebensstil immer mehr der Egozentrik, dem Streben nach dem Materiellen zuwendet. Nur wer leistungswillig und auch –fähig ist, kann mit Anerkennung rechnen. Nun erfolgt die Suche nach anderen Orientierungspunkten.
Der Moslem fand sie. Ein frömmelndes Familienmitglied reichte, da es durch sein Frömmeln innerhalb des Familienverbandes großes Ansehen besaß. Die Islamische Revolution fand auch hier ihren Nährboden. Ihre Missionare waren meiner Erfahrung nach ausgerechnet diejenigen, deren intellektuelle und andere Fähigkeiten nicht allzu groß waren. Frömmeln reicht in vielen Religionen, um sich mit seinem anscheinend gottgefälligen Leben unangreifbar zu machen. Ein Hinterfragen erfolgt nicht, nicht einmal die Kenntnis der Basis, die des Buches, ist erforderlich. Es ist ein einfacher Weg, dem nachzustreben, dadurch Anerkennung zu erlangen. Dazu ist der Weg mit Werten gepflastert, die einem das eigene Sein als wertvoll erscheinen lassen; wertvoller als das der anderen.
Die Offenbarung ereilte mich 1985, als mir ein freundschaftlich verbundener Kollege, mit dem ich noch zwei Wochen zuvor feucht-fröhlich „um die Häuser gezogen war“, mir unverhohlen beim Biss in mein Schinkenbrot mitteilte: „Du isst Schweinefleisch? Dann bist du nicht Gottes Kind, nicht mein Bruder!“ Die Abgrenzung, das Anderssein war erfolgt. Ich hatte weder Willen noch Kraft, diese zu überbrücken, Einsicht in die Notwendigkeit schon gar nicht.
Dieser Abgrenzungsprozess läuft nun schon 30 Jahre, fast anderthalb Generationen lang. Der Graben wird immer breiter und tiefer. Für mich nicht unverständlich, denn der westliche Lebensstil bietet für Sinnsuchende immer weniger Anreize. „Sie wollten doch nur feiern, ihren Spaß haben!“, lauten die Anklagen der Eltern gegen die Mörder ihrer Kinder. Dass es genau dies ist, was sie in den Augen der religiösen Fanatiker zu tötenswerten Untermenschen macht, erschließt sich den Trauernden nicht. Die Mörder betrachten das Leben ihrer Opfer als wertlos, so pervers es klingt, als Reinigung und Wertsteigerung für Gottes Welt. Es ist der Höhepunkt eines Trennungsprozesses.
Lässt sich dieser umkehren? So lange es gedauert hat, bis der Spalt dieses Ausmaß erreichte, wird wohl auch dessen Schließen und Zuschütten dauern. Das heißt nicht, dass man damit nicht sofort beginnen kann, nein: muss!
Der Graben der Distanz ist so nah, dass ein Schritt näher unseren Sturz hinein bedeuten kann. Anfangen, jetzt, muss die Devise lauten; und zwar nicht dort, wo man nur schwer hingelangt – bei „den Moslems“, sondern gleich hier, bei uns und unserer eigenen Kultur. Wir stehen beim Islamischen Staat einem Gegner gegenüber, der sich selbst zum Riesen erhöht hat, auf uns herabschaut, als seien wir Würmer. Das alles auf der Basis von Moral. Zeit, ihm unsere Größe zu zeigen.
Schluss mit der Egozentrik
Auf die abendländische Kultur können wir zu Recht stolz sein. Diesen Stolz zu zeigen, heißt nicht, dass dadurch andere herabgewürdigt werden, jedoch ist dazu zwingend ein Bekenntnis zu dessen Wurzeln, Prozessen und auch Irrwegen erforderlich. Gerade diejenigen, die vorgeblich mit dem Christentum als Basis unserer Moral gar nichts anfangen wollen, werden nicht müde, in einem „Mea Culpa-Reflex“ alles Böse auf der Welt ihrer eigenen Kultur unterzuschieben. Wer käme auf die Idee, von einem heutigen Türken zu verlangen, sich für die Grausamkeiten des osmanischen Imperialismus mitsamt Türkenstürmen zu entschuldigen? Absurd! Aber offensichtlich gilt das nicht für die davor liegenden Kreuzzüge.
Beginnend mit der griechischen Antike über das Christentum bis hin zur Aufklärung sind wir einen Weg gegangen, der mühsam war, Opfer kostete. Schauen wir mit Achtung auf diesen Weg zurück, bei dem kein Teilstück ohne das andere möglich gewesen wäre. Es ist eine Verzahnung der Grundwerte unserer Moralvorstellungen: Nächstenliebe, Toleranz, die Suche nach Konsens, ja, und auch das Streben nach Glück, eines individuellen Glücks.
Sich heute schützend vor jene zu stellen, die nicht die eigene Meinung vertreten, nicht die gleiche sexuelle Orientierung haben und auch nicht dieselbe Religion, ist eine große gesellschaftliche und kulturelle Errungenschaft. Also Schluss mit der Egozentrik, sei es im sozialen oder politischen Gefüge: Dieses postmoderne Ich-ich-ich-Denken ist kein elementarer Bestandteil unserer westlichen Kultur. Das Gemeinsame, aus dem kreativen und vielschichtigen Diskurs Entstandene, macht sie wertvoll, unübersehbar selbst für ihre Gegner.
Damit den Anfang zu machen, um den Graben zu füllen, ist sicher nur ein Arbeiten mit der Schaufel; mühsam, aber lohnend.
Bild: Adam Jones