Es ist der 9. November. Wieder einmal. Ein Tag wie jeder andere, ein Samstag, ein Tag, an dem das Frühstück so spät gelegen ist, dass man es auch neudeutsch Brunch nennen könnte. Ein Tag, an dem wir aufstehen und Freunde treffen, die übers Wochenende zu uns rausgekommen sind, weil wir auf dem Land wohnen, weil man hier der großen Stadt entkommen kann, der wir alles verdanken und die wir immer weniger ertragen.
Und doch ist es nicht irgendein Tag, wenn man wie wir auf dem Land wohnt und Gäste aus der Stadt empfängt, an einem Tag wie diesem. Es ist der Tag, ohne den wir alle, unsere Freunde und wir, nicht hier wären, ja nicht einmal zusammen, ja nicht einmal in dieser Ecke der Welt. Es ist ein Tag, an dem diese Ecke der Welt weiter entfernt für uns wäre als die Kanaren oder irgendein Robinson Club in Tunesien, in dem ein Herbsttag wie dieser vermutlich idyllischer wäre, zumindest aber wärmer.
Als der 9. November 1989 noch jung war, waren wir es auch, irgendwo im Süden der Republik, an Orten, die sich ähnelten und die wir für die Welt hielten, weil sie es war, weil der Osten uns fern und wir den Machthabern, die ihn umklammert hielten, Feinde schienen, die es zu bekämpfen galt. Ein paar Jahre zuvor war meine Mutter mit mir mitten durch einen Wald an einen Stacheldraht gefahren. Ich erinnere mich, wie wir ausstiegen, weil der Zaun den kleinen Weg überquerte. Da drüben, sagte sie mir, wohnen unsere Verwandten. Ich begriff, dass einer von uns eingezäunt worden war, doch ich wagte mich nicht zu fragen, wer – sie oder wir.
Als nun, an einem 9. November, wenige Jahre später, in unserem Wohnzimmer der Fernseher lief und meine Mutter wie von Sinnen auf der Couch in Staunen geriet, da verstand ich nicht, was die Bilder aus der völlig überfülllten Stadt mit diesem Ausflug in den Wald zu tun haben sollte. „Schau genau hin, da passiert Geschichte”, rief meine Mutter erregt, und ich stahl mich davon, um mit einer umgestülpten Vase und einem ägyptischen Kopf Museum zu spielen.
Wenn wir heute, 30 Jahre später, den Regen auf unser brandenburgisches Dach prasseln hören und im Kamin das Holz in Flammen aufgeht, das wir in unserem Garten vor ein paar Wochen geschlagen haben, dann ist das nicht nur gemütlich und schön, sondern auch Geschichte wie jener Abend, da meine Mutter so aufgeregt und ich so entspannt gewesen bin, weil ich gesehen hatte, dass irgendwo da draußen Tausende von Menschen glücklich waren, einfach, weil sie mit ein paar seltsam aussehenden Autos in einem riesigen Stau zu stecken schienen.
Dieser Tag, den wir gemeinsam erlebt und je nach Alter oder Perspektive vor dem Fernseher, auf der Straße oder in der Sauna verlebten, ist Schuld an unserem ganz individuellen Glück, das wir im Rausch der großen Empörung nur selten spüren können. Die Welt, so scheint uns, wird immer schlechter, immer unsicherer, immer ungerechter. Vielleicht sollten wir Tage wie diese nicht nur dazu nutzen, Fahnen zu schwenken, die Versäumnisse der Vereinigung zu beklagen oder desillusioniert von Fahnen und Wende in unsere Saunen zu kriechen oder zu Spielen, die uns vor der Geschichte bewahren, die da geschieht.
Vielleicht sollten wir statt dessen ganz kurz innehalten und uns fragen, was wir heute täten, an jenem 9. November 2019, an dem höchstens der unseligen Reichsprogromnacht oder der längst vergessenen Revolution von 1918 zu gedenken wäre, wäre da nicht, ja wäre da nicht dieser 9. November 1989 über uns gekommen wie der 14. Juli über Paris. Und plötzlich lege ich für einen Augenblick mein Spielzeug beiseite und sehe meine Freunde an, die hier neben mir, mit mir in diesem brandenburgischen Idyll ein Stück Geschichte sind, jene Geschichte, die wir diesem Datum verdanken und die wir gemeinam, jeden gewöhnlichen Tag und jede gewöhnliche Nacht, ein bisschen mitgestalten, weil andere uns die Möglichkeit dazu gaben – vor genau 30 Jahren.
Bild: schaerfsystem (Cover)
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