Seit der Abstimmung im Bundestag über die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern stehen insbesondere die türkischstämmigen Abgeordneten unter besonderem Druck. Auslöser dieser Debatte sind Auslassungen des türkischen Präsidenten Erdoğan, der die freigewährten Abgeordneten eines fremden Staats als verlängerten Arm der PKK und Terroristen bezeichnete.

Im Rahmen dieser Tiraden bekam auch Cem Özdemir, der im Bundestag kurz vor der Abstimmung eine flammende Rede für die Anerkennung des Genozids gehalten hatte, sein Fett weg. Erdoğan nannte ihn unlängst „charakterlos“. Schon 2014 waren die beiden Politiker aneinandergeraten, als der türkische Präsident den grünen Bundesvorsitzenden vor laufender Kamera bedrohte und ihm absprach, ein richtiger Türke zu sein.

Zwei Monate nach diesem Vorfall hatte ich die Gelegenheit, Cem Özdemir zu Idealen in der Politik, seine Herkunft und die politische Konkurrenz zu interviewen. Hier ein Ausschnitt aus diesem bislang unveröffentlichten Interview aus dem Juli 2014:

 


 

Flessa: Was ist dran an dem Gerücht, dass man in der Politik eigentlich nichts verändern kann, weil man auf dem Weg zur Macht selbst zu einem funktionierenden Teil des Systems geworden ist?

Özdemir: Was ist das System? Wer ist das System? Ich halt da nicht viel von, wenn man das abstrahiert auf eine Ebene, mit der man nichts zu tun hat. Wir alle sind die Gesellschaft, dieses Land, wir sind Europa, wir sind Teil des Planeten, wir sind Teil der Milchstraße und jeder von uns hat einen mehr oder weniger großen Beitrag, dass die Dinge so sind, wie sie sind, und kann logischerweise auch einen Beitrag leisten, dass sie anders werden. Ich bin zwar ein säkularer Muslim, aber es gibt ein schönes Zitat von Luther, welches heißt: »Der Ort, wo du stehst, ist der Ort deiner Tat«. Und jeder steht woanders, jeder kann dort, wo er ist, was machen. Wobei das »Machen« noch nichts darüber aussagt, welches Anliegen man hat. Der IS hat auch Anliegen, aber das sind nicht meine Anliegen. Insofern ist nicht jeder, der vorhat, die Welt zu verändern, mit guten Absichten unterwegs. Diese muss man natürlich immer hinterfragen.

 

Man spricht ja gern von den Zwängen der »Realpolitik«, die vor allem den Grünen und Linken als »Idealisten der Politik« schwer zusetzt. Wie stehen Sie als so genannter »Realo« Ihrer Partei zu diesem Phänomen?

Ich bin selbst immer ganz erstaunt darüber, mit welcher Geschwindigkeit sogar die Linken ihren Handlungsspielraum nach einer Wahl erweitern. In Berlin kürzen sie die Blindenhilfe zusammen und in Brandenburg fördern sie, sehr zu meinem Missfallen, den Braunkohleabbau. Das hätten wir uns mal trauen sollen!

 

Das klingt fast wie im Wahlkampf, dabei müssten Sie doch eigentlich an gemeinsamen Initiativen mit dem Oppositionsführer im Bundestag interessiert sein.

Das machen wir ja! Wir richten gemeinsame Untersuchungsausschüsse ein, wir versuchen, es der sehr Großen Koalition so schwer wie möglich zu machen, aber wir haben natürlich auch Unterschiede.

 

Und gemeinsame Visionen, also nicht nur in Sinne einer Kontrolle der Regierung, sondern echte gemeinsame Projekte, ist sowas auch denkbar?

Mit einzelnen ja, mit der gesamten Linkspartei glaube ich nicht. Dazu sind die Unterschiede doch zu groß, wie man jetzt in der Außenpolitik wieder stärker sieht, aber auch in anderen Politikfeldern. Wir sind eine Menschenrechtspartei und Gottseidank haben wir nur wenige Sündenfälle in unserer Geschichte und das auch nur in sehr kurzen Phasen. Gewöhnlich unterscheiden wir nicht danach, von wem eine Menschenrechtsverletzung ausgeht, sondern bei uns wird die Menschrechtsverletzung ins Zentrum gerückt und kritisiert. Bei der Linkspartei habe ich nicht selten den Eindruck, die gucken erst mal, ob es die Amis sind oder die Russen, und dann wird entschieden, ob sie sich für oder gegen die Menschenrechtsverletzungen aussprechen.

 

Die Frage der Herkunft sollte weniger wichtig sein
als die Frage, wo man hin möchte.

 

Hat Ihnen Ihre Herkunft in der Politik eher genützt oder geschadet?

Wahrscheinlich beides. Ich habe sie jedenfalls selbst nie bewusst in den Mittelpunkt gerückt, weil ich eigentlich sehr früh der Meinung war, dass es ein Ziel sein sollte, dass dieses Land zu einer Gesellschaft wird, wo die Frage der Herkunft weniger wichtig ist als die Frage, wo man hin möchte.

 

Halten Sie eine Heilung der Welt von dem gefährlichen Glauben an ewiges Wachstum für möglich?

Es kommt drauf an, was man darunter versteht. Ich will ein Wachstum von Effizienz, ich will ein Wachstum an Fahrrädern, ich will ein Wachstum an Fußgängern, ich will ein Wachstum an guten Schulen und guten Ausbildungsbetrieben. Gleichzeitig will ich aber auch eine Schrumpfung! Ich will eine Schrumpfung von Dreckschleudern, ich will eine Schrumpfung des CO2-Ausstoßes und vielen anderen Dingen. Insofern glaube ich, dass das Bild eines Umbaus das treffendere ist. Ein Umbau, der dafür sorgt, dass unser Lebensstil einer ist, der nicht bis 2030 eine zweite Erde erfordert, sondern der mit der bestehenden auskommt, weil ja eigentlich alles im ausreichenden Maße da ist, was wir brauchen. Wir müssten es bloß gerecht verteilen und unsere Lebensqualität nicht daran messen, wie viel CO2 man in die Atmosphäre bläst, sondern vielleicht an anderen Dingen.

 

Kriegen wir das hin, dass die Gesellschaft das trägt –
oder kippt sie?

 

Eines der drängendsten Probleme der Gegenwart ist mit Sicherheit die katastrophale Flüchtlingspolitik der EU. Zuerst verhindern unsere Exportzölle und Subventionen ein Wachstum der afrikanischen Wirtschaft und dann beklagen wir uns auch noch über Wirtschaftsflüchtlinge.

Ich finde, dass wir viel zu wenig tun gemessen an den Nachbarländern Syriens oder des Iraks, was Flüchtlinge angeht. Wenn man sieht, dass es Länder gibt mit 20-30 % Flüchtlingsanteil, das kann man sich hierzulande gar nicht vorstellen! Da gäbe es sofort einen Regierungswechsel! Andererseits glaube ich, dass man mit der Aufnahme von Flüchtlingen auch immer eine Verantwortung eingeht und zuvor klären muss: Kriegen wir es hin, dass die Gesellschaft das trägt – oder kippt sie? Ich finde auch, dass man sich um die Frage kümmern muss, wie wir den Flüchtlingen und den sie aufnehmenden Nachbarländern direkt helfen können, bevor sie den Sprung nach Europa wagen. Diese Diskussion gerät mir leider immer ein bisschen zu kurz.

 

Stichwort Afrika!

Ja, da geht es um vieles! Da gehts um Umweltflüchtlinge, da gehts um Bürgerkriegsflüchtlinge, da gehts um Flüchtlinge durch korrupte Regime, da gehts um Arbeitsplatzvernichtung aufgrund von Exportsubventionen von Hochseefischerei, die das Meer leerfischt. Also das ist eine mehrdimensionale Geschichte und sobald man über solche Fragen spricht, wird es immer komplizierter.

 

Seit 2008 ist Cem Özdemir Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen. Der studierte Sozialpädagoge und ehemalige Fellow des German Marshall Funds gilt als Realo seiner Partei und möglicher Wegbereiter schwarz-grüner Bündnisse auf Bundesebene.

 

 

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Written by Nicolas Flessa

Nicolas Flessa studierte Ägyptologe und Religionswissenschaft. Der Chefredakteur von seinsart drehte Spiel- und Dokumentarfilme und arbeitet heute als freischaffender Autor und Journalist in Berlin.

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