Das Thema dick sein ist in den Industrienationen nicht nur zu einem gesellschaftlichen Phänomen, sondern auch zu einer gesellschaftlichen Schande geworden. Doch warum ist das so? Warum sind wir zu dick und warum hindert uns das nicht daran, auf das dick sein herabzuschauen und Dicke abzuwerten? Michelle Schopen sucht in diesem Feature nach Antworten zur Diskrepanz zwischen Wollen und Sein, zwischen Respekt und Bodyshaming.

Leonie, 16, sitzt im Matheunterricht und zeichnet in ihr Schulheft. Diesmal skizziert sie ein klassisch-griechisches Frauengesicht. Vor ihr langweilt sich Stefan, ein Mitschüler. Er dreht sich zu ihr um: „Wen malst du denn da?“ fragt er. „Das ist die Venus von Milo“, sagt Leonie und lächelt, weil sie die Göttin gut getroffen hat. Stefan lacht auf: „Naja, bei dir wohl eher die Venus von Kilo.“ Der Schmerz trifft Leonie unerwartet, sie erstarrt innerlich, bekommt kaum Luft. Neben sich hört sie ihre Mitschüler kichern. Es fühlt sich an, als hätte Stefan sie auf den Marktplatz gezerrt und vor aller Augen nackt ausgezogen. Sie möchte einfach nur unsichtbar werden. Sie reißt sich zusammen, steht auf und geht auf die Toilette. Keiner soll merken, wie es in ihr aussieht.

Leonie wiegt 85 Kilo und trägt Kleidergröße 42-44. Groß genug, um zur Zielscheibe zu werden für die Mädchen und Jungen aus ihrer Jahrgangsstufe, die sich immer wieder über sie lustig machen. Für sie gehört es fast schon zum Alltag, wegen ihres Gewichts gehänselt zu werden. Und doch gibt es Momente und Worte, die sind besonders schlimm. Worte, vielleicht nur gedankenlos dahingesprochen, aber sie wirken wie Gift, sie nisten sich ein, langfristig. Heute ist Leonie 37, und sie kann sich immer noch an diesen Moment erinnern.

„Bei vielen übergewichtigen Frauen gibt es diesen besonderen Moment, der sie geprägt hat und manchmal ihr ganzes Leben lang verfolgt“, sagt Bianca Melle, Sozialpädagogin der Waage e.V. in Hamburg, ein Fachzentrum für Essstörungen. „Es ist der Moment, der die Weichen für die Selbstwahrnehmung dieser Frauen stellt. Bei anderen Frauen sind es viele kleine Momente, die ihr Leben verändert haben, irgendwann, meist in der Kindheit oder Pubertät, wenn sie noch dabei sind, ihre eigene Identität zu finden und auszubilden.“ Meilensteine der persönlichen Entwicklung, in denen diese Frauen lernen, dass sie nicht dazugehören, dass sie die ewig Letzten sein werden, so wie beim Ballsport in der Schule, wenn die Teams gewählt werden. Dass sie versagt haben. Dass alle über sie lachen und niemand sie mag, schon gar kein Junge.

Schön sein, das heißt in unserer Gesellschaft: dünn sein.

Für viele dieser Frauen beginnt damit ein langer Leidensweg voller Selbstzweifel und Diäten, an denen sie immer wieder scheitern müssen, weil der Stoffwechsel ihres Körpers seine eigenen Wege geht. „Bei einer starken Reduzierung der Nahrung schaltet der Metabolismus auf Notprogramm“, weiß Ernährungsberaterin Britta Schumann. „Der Stoffwechsel drosselt dann den Energiebedarf des Körpers.“ Mit der Folge, dass die Kilos nach der Diät nicht nur zurückkommen, sondern gleich noch ein paar Freunde mitbringen: Der berüchtigte Jo-Jo-Effekt. Daraus entsteht nicht selten ein Teufelskreis, ein ständiges Diäthalten und Versagen in einer Gesellschaft, die immer strenger nach Leistungen und Äußerlichkeiten urteilt. Eine große, 2010 vom Kosmetikkonzern Dove durchgeführte Studie zeigt, dass sich nur 4 Prozent aller Frauen weltweit schön finden und 72 Prozent aller Mädchen einen gewaltigen Druck spüren, schön zu sein. 

Dass Frauen massiv nach ihrem Aussehen bewertet werden, dass sie beleidigt oder ausgegrenzt werden, wenn sie dem Schönheitsideal nicht entsprechen, das ist inzwischen bekannt. Neu ist dabei allerdings, dass es inzwischen immer jüngere Frauen trifft – und immer mehr Männer. Das macht sich besonders in der Berufswelt bemerkbar: Während eine rundliche Figur früher bei männlichen Vorgesetzten der Position entsprechend als stattlich galt, haben Tübinger Wissenschaftler 2012 erforscht, dass die Personalentscheider von Heute dicken Menschen Führungsqualitäten absprechen. Zukünftige Chefs sollen aktiv, dynamisch und leistungsbereit sein. Aber auf keinen Fall übergewichtig oder gar fettleibig, denn das, so besagt die Studie, steht in unserer Gesellschaft für Faulheit, Disziplinlosigkeit und Erfolglosigkeit. 

Trotz der vielen negativen Begleitumstände, die das dick sein in unserer Gesellschaft mit sich bringt, ist gerade die Fettleibigkeit in den letzten Jahren rasant angestiegen. In Deutschland sind nach aktuellem Stand 16 Millionen Menschen adipös. Die Anzahl derjenigen mit extremer Adipositas ab einem BMI von 40 hat sich innerhalb der letzten 14 Jahre mehr als verdoppelt. Und Deutschland ist kein Einzelfall. Im weltweiten Vergleich landet die Bundesrepublik „nur“ im oberen Mittelfeld. Länder wie die USA, Mexiko, Saudi Arabien oder Indien liegen an der Spitze. Laut dem medizinischen Fachmagazin „The Lancet“ hat sich die Anzahl der Dicken weltweit in den letzten 39 Jahren versechsfacht. 

Während immer mehr Menschen dick werden, werden Dicke immer mehr ausgegrenzt und stigmatisiert.

So gesehen lebt unsere Gesellschaft ein permanentes Paradoxon, für das es bisher keine Lösung gibt: Während immer mehr Menschen dick werden, werden Dicke immer mehr ausgegrenzt und stigmatisiert. Wer dick ist und wer nicht, das bestimmt seit vielen Jahren außer dem Schönheitsideal auch der Body Mass Index (BMI). Ein mathematisches System, das das Gewicht eines Menschen in Relation zu Körpergröße, Geschlecht und Alter bewertet. Derzeit gilt als übergewichtig, wer einen BMI von 24 überschreitet. Fettleibig oder adipös ist man ab einem BMI von 30. Eine 35-jährige Frau mit einer Körpergröße von 1,70 Metern ist also ab 71 Kilo übergewichtig. Ab 87 Kilo gilt sie als fettleibig.

Doch der BMI steht schon seit Jahren in der Kritik. Nicht nur, weil er Fett nicht von Muskelmasse unterscheiden kann, sondern vor allem, weil seine von der Weltgesundheitsorganisation festgelegten Richtwerte für gesundes und ungesundes Gewicht wissenschaftlich nicht haltbar sind. Eine im deutschen Ärzteblatt 2009 veröffentlichte Analyse der Universität Hamburg ergab, dass Menschen, die laut BMI als übergewichtig gelten, tatsächlich länger leben als idealgewichtige Menschen. Eine erhöhte Gesundheitsgefährdung durch typische Krankheiten wie Diabetes oder Bluthochdruck war erst bei adipösen Menschen ab einem BMI von 30 nachweisbar. 

Das heißt im Klartext: Die Weltgesundheitsorganisation deklariert mit ihren Richtwerten weltweit Millionen Menschen mit einem gesunden Körpergewicht zu übergewichtigen Problemfällen und trägt damit massiv zur Diskriminierung von Übergewichtigen bei. Das heißt auch: Der Bund, die Krankenkassen, Ärzte, alle, die sich am BMI orientieren, arbeiten mit einem System, das in Teilen wissenschaftlich widerlegt wurde und daher nicht als seriöser Maßstab für die Bewertung der Gesundheit oder der Lebensdauer eines Menschen gelten kann.

Doch bis heute argumentieren viele Ärzte und Krankenkassen immer noch damit, ein BMI über 24 mache krank und belaste in der Folge die Sozialkassen mit hohen Kosten für die Gesundheit. Britta Schumann kennt das Problem aus ihrer Beratungsarbeit, denn ihre übergewichtigen Klienten berichten häufig von schlechten Erfahrungen bei Arztbesuchen: „Viele Ärzte kennen sich mit den Themen BMI und Ernährung nicht gut aus. Sie reden ihren übergewichtigen Patienten ins Gewissen, schlagen ihnen Diäten vor und raten zu mehr Disziplin beim Essen, obwohl sie es eigentlich besser wissen sollten.“ 

„Du fette Sau!“ ist Standard.

Was schon die Medizinwelt glaubt, glaubt der Laie erst recht: Dick sein ist eine Charakterschwäche, denn dicke Menschen sind disziplinlos, maßlos und ungebildet, hässlich sowieso. Über 71 Prozent der Bevölkerung finden stark übergewichtige Menschen unästhetisch, so belegt es eine neue Studie der DAK. Jeder Achte vermeidet es, mit ihnen in Kontakt zu treten. Die Mehrheit der Befragten glaubt, dass Dicke die überflüssigen Pfunde selbst verschuldet haben und einfach zu faul zum Abnehmen sind. Warum also seinem Unmut nicht lautstark Luft machen? 

„‘Du fette Sau!‘ ist Standard“, sagt Bianca Melle. „Es kommt häufig vor, dass eine Frau an der roten Ampel steht und jemand das von der anderen Straßenseite aus herüberbrüllt. Aber es geht auch erfindungsreicher: ‚Elefantenbeine gehören in den Zoo‘, zum Beispiel.“ Die Beleidigungen dieser Art würden spontan und unerwartet passieren, die Betroffenen wären jedes Mal geschockt. Wie solle man da eine Strategie entwickeln, um sich davor zu schützen? „Genauso schlimm wie offene Beleidigungen sind aber auch verächtliche oder mitleidige Blicke“, weiß die Sozialpädagogin. Und es kommt noch dicker: In den USA zeigen Studien der Universität Yale unter der Leitung von Rebecca Puhl, dass Diskriminierung gegen Übergewichtige inzwischen so häufig vorkommt wie Rassismus gegen Farbige.

Das Ergebnis stammt zwar aus den USA, könnte aber genauso gut auf Deutschland zutreffen. Wer das nicht glauben will – ein Blick in das Internet reicht schon aus: Da wird in Foren diverser Frauenzeitschriften über all die Beleidigungen diskutiert, die man als Dicke schon erlebt hat, parallel dazu werden Diät-Tipps getauscht. Auf Dating-Foren wird sich über Sex mit Übergewichtigen geekelt. Die Figur-Diskriminierung hat sich inzwischen zu einem fragwürdigen Gesellschaftstrend gemausert, der neue Begriffe generiert hat: „Body Shaming“ und „Fat Shaming“ – die Scham über die Unvollkommenheit des eigenen Körpers.

Dass Dicken inzwischen ein derart feindliches Klima entgegenschlägt, erklärt die Schweizer Soziologin Franziska Schutzbach nicht nur mit einem stark überzogenen Schönheitsideal, sondern auch mit einem Wertewandel in unserer Gesellschaft. Regelmäßige User der sozialen Medien ziehen ihr Selbstbewusstsein und ihre Identität inzwischen daraus, wie viele Likes oder Klicks sie mit Selfies oder Beiträgen generieren. Der Trend zur Selbstinszenierung und zu gegenseitiger Bewertung hat sich so als fester Bestandteil der Gesellschaft etabliert, und zwar nicht nur im World Wide Web, sondern in fast allen Lebensbereichen.

Als wäre es normal oder sogar cool, wenn eine Heidi Klum junge Mädchen wegen ihres Aussehens abwertet und aussortiert.

Allen voran das Fernsehen mit seinen Casting-Formaten, in denen die Leistungen und das Aussehen anderer Menschen öffentlich bewertet werden: „Es wird so getan, als wäre es normal oder sogar cool, wenn eine Heidi Klum junge Mädchen wegen ihres Aussehens abwertet und aussortiert. Oder wenn ein Dieter Bohlen einen Kandidaten wegen seiner schlechten Leistung beleidigt“, sagt Franziska Schutzbach. „Dabei ist es zutiefst verletzend und würdelos, was in diesen Shows mit Menschen gemacht wird. Die hohen Einschaltquoten zeigen, wie normal es geworden ist, andere Menschen zu bewerten und sich über sie lustig zu machen.“

Übergewicht und Fat Shaming mögen sich zu einem gesellschaftlichen Phänomen entwickelt haben, für das auf gesellschaftlicher Ebene Lösungen geschaffen werden müssen. Doch die Scham über den eigenen Körper ist und bleibt auch ein sehr persönliches Problem: Am Ende des Tages stehen dicke wie dünne Menschen überall auf der Welt vor dem Badezimmerspiegel und müssen ihren eigenen Weg finden, mit sich, ihrem Spiegelbild und ihrem Umfeld Frieden zu schließen.

Leonie hat dafür fast 20 Jahre gebraucht. Jahre, in denen sie wie so viele andere mit ihrem Gewicht kämpfte, unzählige Diäten ausprobierte und scheiterte. Jahre, in denen sie auch nicht mehr zeichnen wollte. Bis sie stark genug war, ihrer Kunst das Hässliche, das ihr seit dem Vorfall im Matheunterricht anhaftete, abzuwischen und neu zu beginnen. Mit dem Zeichnen kam auch Stück für Stück ihre Selbstachtung zurück. Ihre Freude daran, etwas richtig gut zu können, half ihr, mit ihrer Vergangenheit und ihrem Aussehen Frieden zu schließen. Zusätzlich suchte sie sich Hilfe in Vereinen und machte eine Psychotherapie.

Heute trägt sie Größe 42, und sie fühlt sich wohl damit. Manchmal kehren die alten Dämonen zurück, meist dann, wenn sie den allgegenwärtigen Bildern über Mode, Prominente oder Models zu viel Aufmerksamkeit schenkt. Dann fühlt sie sich dick und unzulänglich, hadert mit einem Schönheitsideal, dem sie niemals wirklich entsprechen wird und einem BMI, der sie zur Übergewichtigen abstempelt, obwohl sie sich nicht übergewichtig fühlt und seit Jahren gesund ist. In solchen Situationen greift sie zum Zeichenstift. Oder vertraut sich ihren Freundinnen und ihrer Familie an. Menschen, denen ihr Gewicht egal ist, weil sie sie lieben, wie sie ist. 

 

Bild: Engin_Akyurt

Written by Michelle Schopen

Michelle Schopen ist studierte Online-Redakteurin. Seit 30 Jahren arbeitet sie in den Medien, zunächst als TV-Aufnahmeleiterin, seit 2003 als freie Journalistin zu den Themen Kultur, Gesellschaft, Psychologie und Spiritualität.

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