Ich hatte mal einen Freund. Murat. Der war sehr nett und immer freundlich und zuvorkommend. Alle mochten ihn. In jedem Haus war er willkommen. Ist er aber nicht mehr. Warum? Das kann ich Euch erzählen. Weil er für einen Mann eine ziemlich hohe Stimme hat. Das ist kein Grund, jemanden aus seinem Haus zu verweisen? Das, was seine Stimme aus ihm gemacht hat, aber schon.

Mit der Volljährigkeit hatten wir alle Ziele. Mustafa sparte auf einen Mercedes. Karl versuchte sich als Boxer. Aische war in Hassan verliebt. Jackie und Jessie wurden ein DJ-Gespann. Elias begann die Welt zu bereisen. Jeder versuchte etwas aus seinem Leben zu machen. Murat auch. Er reiste mit uns nach Barcelona. Das hätte er besser nicht tun sollen. An jedem Abend feierten wir und vergnügten uns mit allem, was wir uns von unserem kleinen Budgets leisten konnten. Immer waren Mädchen dabei. Und jeder hatte seinen Flirt. Murat nicht. Er war zu schüchtern. Wegen seiner Stimme.

Auf diesem Weg stand die Frauenwelt nicht offen, also versuchte er es auf die konservative Weise und hielt um die Hand einer gleichaltrigen jungen Frau an. Als man die um ihre Meinung dazu fragte, antwortete sie empört, dass sie nicht mit einem Mann leben wolle, der eine Frauenstimme hat. Alle im Raum lachten. Murat nicht.

Bis dahin habe ich nie über seine Stimme nachgedacht. Doch jetzt erinnerte ich mich an einen Vorfall in meinem Elternhaus. Ich war noch in der Ausbildung. Murat war zu Gast. Wir alberten herum und lachten vor dem Schlafengehen. Plötzlich stieß mein Vater die Tür auf und suchte im kompletten Raum nach einer kichernden Frau. Als er Murat sah, verließ er wortlos den Raum. Wir haben danach nie mehr über dieses Thema geredet. Murat ging eine arrangierte Ehe ein. Bekam Kinder. Wir sahen uns nicht mehr.

Das Vorletzte, das ich von ihm hörte war, dass er in einer afghanischen Koranschule verkehrte und nun einen Bart trug, den er mit Henna gefärbt haben soll. Das letzte, was man mir über ihn berichtete, war, dass er nun Islamist ist, Jugendliche von der Straße überredet, sich seine Meinung anzuhören. Wie schlecht die westliche Welt doch ist. Dennoch lebt er von Hartz IV.

Er überredet junge Menschen zu Dingen, für die er selbst immer zu feige war. Die Nummer mit dem Paradies und den Jungfrauen benutzen Menschen wie er gerne, wenn sie auf andere Verlierer ihrer Sorte stoßen. Jungs, die von ihren Alkoholikervätern verdroschen wurden, finden Schutz bei solchen Menschen. Doch mit Religion hat dies nichts zu tun. Diese Jungs suchen Anerkennung und Zugehörigkeit. Diese Zugehörigkeit bekommt man auch bei der Feuerwehr oder bei der Bundeswehr. Da muss man niemandem für weh tun. Es lacht dort auch niemand darüber, dass jemand eine hohe Stimme hat.

Murat war nie ehrgeizig genug, eine Sache wie eine Ausbildung bei der Feuerwehr durchzuziehen. Menschen wie er landen dann immer bei den Rockern oder Araberfamilienclans. Werden verknechtet. Das will Murat nicht. Er will lieber knechten. Einmal in seinem Leben jemand sein. Dafür wird er immer radikaler. Ein guter Lügner. Wie eine Boje im Wasser zieht er immer mehr dieser jungen umhertreibenden Geister an sich heran, um sie für seine Zwecke zu missbrauchen.

Murat denkt, dass nun niemand mehr über seine Stimme lacht. Immerhin ist er nun jemand, der Dinge entscheidet. Nicht nur für sich, sondern auch für andere. Murat kann über Leben und Tod entscheiden. Ein religiöser Menschen darf dies nicht. Das ist anmaßend. Jedes Mal, wenn ich eine dieser Mütter im Fernsehen sehe, die darüber sprechen, wie sie ihr Kind an jemanden wie Murat verloren hat, muss ich an meinen Freund aus Kindheitstagen denken. Genau wie heute früh.

Ein Selbstmordanschlag in einem Stadion in Manchester. Die US-amerikanische Künstlerin Ariana Grande tritt vor Tausenden ihrer Fans auf. Unzählige Minderjährige. Dutzende Tote und noch mehr Verletzte in einer Kulisse aus Panik und Geschrei ist, was noch zu sehen ist. Einer hat sein Leben verloren. Ein anderer seine Gesundheit. Alle anderen Anwesenden haben einen starken psychischen Schock erlitten. Außer denen, die Hass schüren, sich mit der Unvernunft solidarisieren, sieht niemand im Entferntesten einen Sinn in dem, was unaussprechlich ist.

Wer lacht nun? Du vielleicht, Murat? Die ganze Welt ist entsetzt. Traurig und wütend hat man sie gemacht. Viele Mütter weinen. Wie deine damals, als du wegen deiner Stimme das Mädchen nicht bekommen hast. Möge Gott uns vor Menschen wie dir schützen. Meine Tränen schenke ich Dir nicht. Denn sie gehören den Menschen, die es nun hinnehmen müssen. Dein Hass ist eine nutzlose Bürde. Menschen werden zusammenhalten und deinen Namen nicht mehr nennen. Ich auch nicht. Ich werde auch nicht mehr an dich denken. Nie mehr. Versprochen.

 

Bild: Andy Buckingham from Bristol, England

 

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Written by Hammed Khamis

Hammed Khamis wuchs in einer westdeutschen Gastarbeitersiedlung auf. Der Streetworker und Journalist ("Ansichten eines Banditen") setzt sich besonders für die Integration Jugendlicher mit Migrationshintergrund ein.

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