Mit gemischten Gefühlen verlasse ich die Kaserne. Die Mädchen da drinnen waren sehr freundlich zu mir. Khattun kam mir nicht einen einzigen Moment fremd vor. Im Gegenteil, ich habe mich mit ihr unterhalten, als wären wir schon lange Freunde. Und wieder haben sie nichts von mir verlangt. Das macht den Gedanken, wieder herzukommen, noch stärker in mir. Irgendwann komme ich wieder zu ihnen. Bis dahin wünsche ich ihnen, dass sie ihre Heimat bis dahin wieder für sich haben.

Das denke ich, als wir in Sherfedin auf den zweitheiligsten Tempel der Jesiden zu fahren. Der Tempel liegt am Fuße des Sindschar-Gebirges. Genau an jener Stelle, wo es geschehen ist. Hier an dieser Stelle haben sich tausende Menschen in die Berge gerettet, um den Schergen des IS zu entkommen. Viele von ihnen sind verdurstet, weil es sehr heiß war. Das war am 3. August 2014.

Ich steige vor der Kaserne aus dem Auto und schaue in Richtung des Bergs. Hundert Meter vor mir beginnt ein uralter Friedhof, auf dem Kinder spielen. Weiter oben sehe ich mit Steinen die Buchstaben HELP auf etwa 100 Quadratmetern als Hilferuf ausgelegt. Das hatte ich damals in Tekkals Film bereits gesehen. Die Menschen, die in den Bergen ausharrten, hatten diese Steine als Hilferuf ausgelegt.

An einem der Gräber setze ich mich auf den Boden, um das Ganze ein wenig zu verarbeiten. Die Kämpfe und das Leid, welche wir in den Medien gesehen haben, haben sich genau hier zugetragen. Hier haben sich zehn Menschen eine kleine Flasche Wasser teilen müssen. Ich schaue auf das Grab. Dieses Grab sieht aus wie jedes andere Grab in arabischen Ländern. Ein länglicher Grabkörper mit zwei Hohen Grabsteinen an jeder Seite. Das Grab ist mit arabischen Texten beschriftet. Eigentlich sieht es aus wie das Grab meiner Mutter.

Plötzlich spricht mich eine warme Männerstimme von hinten auf Jesidisch an. Ich richte mich auf, um ihm zu sagen, dass ich ihn nicht verstehe. Ich sei ein Araber aus Deutschland. Freundlich lächelt der alte Mann mir zu und wiederholt das Gesagte auf irakischem Arabisch:

Wenn du an meinem Grab vorbeigehst, ohne mich zu umarmen,
komme ich nicht in den Himmel.

Das steht auf dem Grab vor mir. Mein Verstand reicht nicht aus, um diesen Ausspruch zu bewerten. Doch als sich der alte Mann vor das Grab kniet und den Stein umarmt, tue ich es ihm nach. Das scheint ihm zu gefallen. Mein neuer Freund Yasser ist 68. Er führt mich auf dem Friedhof umher und erklärt mir ein paar Bräuche und Rituale, wie zum Beispiel das Gewehr, welches auf manche Gräbern gemalt ist. Es bedeutet, dass in diesem Grab ein Körper liegt, der im Kampf gefallen ist.

Yasser kommt aus Sherfedin. Er ist auch hier geboren. Irgendwann seien die Wilden vom IS gekommen und hätten hier all dieses Unrecht begangen. Mit einer Handvoll Kämpfer habe man eine ganze Halle jesidischer Menschen kontrolliert. Die ganze Welt habe dabei zugesehen, wie hier Unaussprechliches verrichtet wurde. Und niemand kam zur Hilfe. Helikopter kamen und warfen Hilfsgüter und Wasserflaschen ab. Die meisten Sachen sind auf dem harten Boden der Berge zerborsten. Es sei zu gefährlich gewesen, Bodentruppen zu schicken, habe man gesagt. Also überließ man alle diese Menschen ihrem Schicksal.

So kam Qasim Shesho aus Bad Oyenhausen in seine Heimat zurück. Shesho hat mit 14 Jahren schon gegen die Unterdrückung gekämpft. Irgendwie hat das nie aufgehört. Er soll auch gegen die Armee von Saddam Hussein gekämpft haben. Jetzt ist er wieder hier. Für sein Volk. Für eine endgültige Befreiung seiner Leute. Dafür will er alles geben. Das erzählt mir sein 25-jähriger Sohn Fahim, der seinen Vater, der heute der General einer 12.000 Mann starken Peshmerga-Einheit ist, vor drei Jahren dorthin begleitet hatte, in klarem ostwestfälischem Hochdeutsch.

Fahim habe ich über Facebook kontaktiert. Ich glaube, er hat nicht geglaubt, dass ich wirklich kommen werde. Doch jetzt stehen wir voreinander und umarmen uns, als würden wir uns aus der Schule kennen. Sein Vater warte schon auf uns. Er sitze mit einem deutschen Journalisten in seinem Raum. Den könne hier aber keiner leiden. Man wolle ihn hier eigentlich nicht mehr haben, weil er 2015 bei den Kämpfen sein Wort nicht gehalten hat.

Ich frage mich, wer dieser Deutsche nur sein kann.

Als ich zu Shesho in seinen Empfangsraum komme, sehe ich diesen deutschen Journalisten, den ich aus dem Fernsehen kenne, neben Adiba stehen. Vor ihm hatte ich immer den größten Respekt. Bis eben.

Gehe nicht nach Deutschland. Dein Platz ist hier.

Das sagte er zu Adiba, als sie ihm erzählt hatte, dass es ihr größter Traum sei, sich zu ihren kleinen Geschwistern in Deutschland durchzukämpfen und dort ein neues Leben zu beginnen. Adibas nächster Auftrag ist in Mossul. Momentan traut sich selbst der Teufel nicht dorthin. Und dieser deutsche Journalist rät ihr, hier zu bleiben. Hier im Krieg. Hier, wo man ihrer Familie Gewalt in allen Farben und Formen angetan hat. Hier, wo sich ihre Erinnerungen und Depression unmöglich von ihr lösen werden.

Ich unterbreche die beiden im Gespräch und stelle mich vor. Er, dessen Namen ich nicht nennen will, weil er es nicht verdient, stellt sich vor. Dabei lächelt er wie einer dieser Außendienstmitarbeiter, die einem immer dann auf die Nerven gehen, wenn es gerade überhaupt nicht passt. Plötzlich wird es ruhig. General Shesho tritt ein. Nicht nur sein Äußerliches ist beeindruckend. Auch seine Stimme ist sehr hart und rau. Als Fahim merkt, dass ich nicht wirklich weiß, wie ich seinen Vater begrüßen soll, weist er mich darauf hin, dass es Whisky und Wodka gibt, und lacht mir ins Gesicht.

Bei ein paar Drinks erkläre ich dem General mein Vorhaben. Shesho begrüßt das. Dass ich meinem Vater nicht gesagt habe, dass ich im Irak bin, gefällt ihm ganz und gar nicht. Überraschend sagt er mir, dass er meinen Vater schon sehr lange kennt. Mit dem Zeigefinger zitiert er den Deutschen zu sich an den Tisch. Er soll seine Kamera anmachen und ihn aufnehmen. Er solle sich keine Sorgen machen. Gierig beginnt der Deutsche, sein Stativ aufzubauen, und beginnt kurz darauf zu filmen.

Mein Bruder Abu Jamal, habe keine Angst um Hammed!
Er ist hier bei mir im Irak und 12.000 seiner Brüder passen auf ihn auf.

Mit dem Zeigefinger beendet Shesho die Aufnahme wortlos. Ich bin sprachlos. Er hat die Peshmerga meine Brüder genannt. Bevor Shesho in seinen Schlafraum geht, erklärt er mir noch, dass er den Muslimen die Taten dieser Unmenschen nicht anrechnet. Das tun nur Leute, die Hass in sich haben.

Dankbar umarme ich meinen neuen Onkel und verabschiede ihn bis zum nächsten Tag. Der Deutsche wirkt enttäuscht. Er weiß noch nicht, dass er hier nicht willkommen ist.

 

Bilder: Hammed Khamis

 

Wasser für Tamara – der gesamte Blog:

Wasser für Tamara (Blog) | seinsart

Teil 01  |  Kein Wasser für Tamara
Teil 02  |  Die Fixerin
Teil 03  |  Die Geister der Unbeschreiblichen
Teil 04  |  Zwischen Facebook und der Front
Teil 05  |  Gräber der Schande und der Scham
Teil 06  |  Im Labyrinth des Grauens
Teil 07  |  Still wie die Hölle
Teil 08  |  Khattuns Tränen
Teil 09  |  12.000 Brüder
Teil 10  |  Keine Nahrung für den Hass

Written by Hammed Khamis

Hammed Khamis wuchs in einer westdeutschen Gastarbeitersiedlung auf. Der Streetworker und Journalist ("Ansichten eines Banditen") setzt sich besonders für die Integration Jugendlicher mit Migrationshintergrund ein.

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