Morgens, beim Aufwachen, bemerke ich, dass eine weitere Decke auf meinem Körper liegt. Irgendwer muss sie in der Nacht auf mich gelegt haben. Wahrscheinlich konnte ich deshalb ein wenig schlafen. Wir werden gleich von einem hochrangigen Offizier der Peshmerga an die Front gebracht. Doch vorher gehen wir in den großen Essensraum, wo man für uns drei ein Frühstück bereitet hat.

Es gibt gebratenenes Spiegelei mit Hummus und ein wenig Salat. Damit habe ich nicht gerechnet. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass ich in den letzten 100 Kilometern ein Restaurant gesehen hätte. Wie auch, wenn niemand da ist, der sich dort als Gast niederlässt? Es gibt lediglich ein paar Kioske zwischen all den zerstörten Häusern, welche von Rückkehrern betrieben werden. Sie bieten Getränke, Obst, Gemüse und Guthabenkarten fürs Handy an.

Letzteres erzählt mir Qassim, der Fahrer, als ich ihn überrede, mir einen Hotspot von seinem Handy einzurichten, damit ich meine E-Mails lesen und kurz bei Facebook reinschauen kann. Als ich die Nachrichten lese, fällt mir eine besonders auf. Eine gute Freundin hat mir geschrieben, dass sie herausbekommen hätte, wo ich bin. Es ginge ihr sehr schlecht bei dem Gedanken. Ich stutzte. Wie konnte sie es wissen, wenn ich es doch niemandem gesagt hatte?

Meine Reise sollte geheim bleiben. Denn manchmal werden Ausländer, meist Journalisten, entführt. Für mich gibt es nicht viel Lösegeld. Aber für bekannte Figuren wie Todenhöfer oder den zur Zeit noch immer gefangenen Cantlie soll man Millionen bekommen können. Und wenn nicht, dann kann man ja immer noch ein Video von seinem Opfer machen, welches am nächsten Tag auf die Titelseiten der Medien kommt.

Ich spüre Wut in mir aufsteigen. Aber ist das nicht genau das, was sie wollen, was sie von uns erwarten?

Ich muss an James Foley denken. Einer der besten Kriegsberichterstatter unserer Zeit. Sie haben ihn getötet. Und die Öffentlichkeit sollte dabei zu sehen, sich fürchten und die Angst am eigenen Leib spüren. Foley ist nun ein Märtyrer für Journalisten. Er hat sich diese Rolle nicht ausgesucht, er hat nur seine Arbeit gemacht und niemandem etwas getan. Wie müssen seine Eltern sich in der Zeit der Ungewissheit gefühlt haben?

Die Angst, die ich eben noch hatte, weicht einem Gefühl von Wut. Aber ist das nicht genau das, was sie wollen, was sie von uns erwarten? Ich werde ihnen keine weitere Plattform bieten, ich werde sie nicht beim Namen nennen. Wer in diesem Moment Wut oder Angst zulässt, lässt sie gewinnen.

Beim Stöbern auf meinem Facebookprofil finde ich heraus, dass ich die eingebaute Ortungsfunktion nicht ausgeschaltet habe. Was für ein Gag – wie haben meine Freunde wohl darauf reagiert, als sie lesen konnten: „Hammed ist hier: SINDSCHAR“? In Wirklichkeit ist das kein Scherz, es war sogar sehr  dumm. Ich hab nicht nur mich, sondern auch meine Begleiter in Gefahr gebracht.

Mein Wutpegel steigt noch ein wenig, als Adiba mir auf die Schulter fasst und fragt, ob alles okay sei. Es ist nicht alles okay. Also sage ich nichts. Adiba bietet mir an, gemeinsam mit ihr auf der Pritsche unseres Autos zu fahren. Bei nächsten Checkpoint steigen wir vom Fond nach hinten unseres  Toyota-Jeeps, mit dem uns der freundliche Oberst schon seit einigen Kilometern an der Frontline entlang zum IS-Kampfgebiet kutschiert, als würde er eben Brötchen holen fahren.

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Beim Umsteigen berühre ich ein automatisches Gewehr und eine Kiste Munition. Ich versuche mich über einen Witz in mein neues Umfeld zu integrieren. „Onkel, kann ich die hier benutzen, wenn es sein muss?“ Er antwortet mir, dass meine Brüder entlang der Front alles unter Kontrolle haben. Hier sei es nicht nötig, über einen Beschuss nachzudenken. Das trifft mich mitten ins Herz.

Ich muss an meinen Vater denken, der mir zum Abschied sagte: „Ich glaube nicht, dass sie dich kriegen.“ Etwas später fügte er hinzu: „Aber dein Herz werden sie brechen, da bin ich mir sicher.“ Unter all diesen Menschen, die in dem hier leben, was von Sindschar übergeblieben ist, bin ich der einzige Moslem. Alle anderen sind Jesiden, insbesondere die Peshmerga. Gott allein weiß, was ihnen und ihren Familien angetan wurde. Nicht einem von ihnen würde ich es übelnehmen, wenn er mich hassen oder beleidigen würde. Immerhin gibt es immer noch Leute, die denken, dass IS für Islam steht.

Und was macht Oberst Qasim? Er nennt sie meine Brüder. Das ehrt und erniedrigt mich zugleich. Dafür schäme ich mich. Um meine Gefühle nicht zu zeigen, setze ich meine Sonnenbrille auf und versuche ein wenig zu entspannen. Doch das gelingt mir erst, als ich es mir bei Adiba abgucke. Für die Menschen, die sich hier bewegen, ist es normal. Sie scheinen sich daran gewöhnt zu haben, dass einige hundert Meter entfernt jemand lauert, der darauf wartet, sie gefangenzunehmen oder zu töten, ihnen Böses anzutun.

Umgerechnet 300 Euro bekommt er monatlich für seinen Dienst an der Front. Die ausländischen Söldner auf der anderen Seite bekommen das an einem Tag.

Wir kommen an einem besonderen Checkpoint an. Acht Peshmergakämpfer sind in einem zeltartigen Gebilde mit angeschlossenem Fort stationiert.  Sie kochen gerade Kaffee, als ich mich dazustelle. Ich gebe jedem der Kämpfer die Hand. Immer wenn ich dabei meinen Namen nennen, denke ich daran, ob mein Gegenüber mich hasst oder mich auch als seinen Bruder sieht. Nicht so beim letzten der Kämpfer.

Vor mir steht Aman. Ich unterhalte mich mit ihm. Er ist sehr nett. Er ist aber auch sehr ehrlich. Da er erst 17 Jahre alt ist, trägt er keinen Bart. Er hat aber auch keine Verwandten mehr. Deswegen sei er hier. Umgerechnet 300 Euro bekommt er monatlich für seinen Dienst an der Front. Die ausländischen Söldner auf der anderen Seite bekommen das gleiche an einem Tag. Das erzählt mir Oberst Qasim, als er auf einem zurückerobertem Fahrzeug eine Plane herunterzieht.

Unter der Plane kommt ein Fahrzeug zum Vorschein, das so stark gepanzert ist, dass man nicht erkennen kann, welcher Typ oder welches Modell es eigentlich ist. Als ich es näher betrachte, sehe ich Dutzende von Einschusslöchern, die an dem dicken Metallgerüst des Fahrzeuges tiefe Furchen hinerlassen haben. Furchen so tief wie die, die der Feind auch hier in der Geschichte dieses Landes hinterlassen hat.

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Eigentlich wollte ich gerade fragen, was sich genau zugetragen hat, als man sich dieses Ding hier unter den Nagel gerissen hat. Doch ich sehe eine weitere Plane. Als ich sie vorsichtig herunternehme, taucht ein Gegenstand vor mir im Tageslicht auf, den ich seit meiner Kindheit aus Hollywoodfilmen kenne. Auf diesem Panzerwagen ist eine DSchK (Degtjarjowa Schpagina Krupnokaliberny) befestigt. Das ist ein überschweres sowjetisches Maschinengewehr des Kalibers 12,7 × 108 mm. Damit hat Rambo sich in verschiedenen Filmen seinen Weg geebnet.

Ich bin total aufgeregt und schaue in die Gesichter der mir gegenüberstehenden Kämpfer auf der anderen Seite des Fahrzeuges. Sie wirken belustigt. Ernst frage ich, ob ich einmal damit schießen darf. Oberst Qasim lehnt meine Bitte aus Sicherheitsgründen ab. Er weist aber einen der Kämpfer an, sich oben an dieses Ding zu stellen und ein paar Schüsse abzufeuern. Ich können ja Bilder davon machen. Dankend nehme ich an. Direkt nachdem ich in einer geeigneten Position bin, geht es auch schon los.

Der Kämpfer schießt jedes Mal ein oder zwei Salven in Richtung Feind. Jedes Mal ist es höllisch laut. Sekunden nach dem Schuss spüre ich noch einen Bass in meiner Brust. Bei den letzten beiden Schüssen bemerke ich, dass der Fahrer zielt, während er schießt. Dies weckt mich aus meinem kleinen Tagtraum wieder auf. Ich frage den Oberst, ob es denn klug sei, so nah an der Front so laut zu sein. Man könne uns doch bestimmt sehen.

Es ist absurd: Am Kottbusser Tor oder generell in Berlin fühle ich mich bei weitem nicht so sicher wie hier.

Der Oberst erklärt mir, dass genau dies seine Absicht sei. Man habe sie eingekesselt. Sie sollen aus ihren Verstecken herauskommen. Auf dem Schlachtfeld, welches genau einen Meter vor mir beginnt, würde man sie alle töten. Jeden Einzelnen von ihnen. Plötzlich realisiere ich, wo ich bin. Ich weiß auch, wo ich heute Nacht gewesen bin. Ich kann nun einschätzen, was gefährlich ist und was nicht.

In Richtung Horizont sehe ich die nächsten Checkpoints entlang der Front. Alle paar hundert Meter ist ein ähnliches Fort wie das hier, an dem ich jetzt stehe, aufgebaut. Es ist absurd: Am Kottbusser Tor oder generell in Berlin fühle ich mich bei weitem nicht so sicher wie hier. Als wir uns verabschieden, schaue ich den jungen Männern noch ein letztes Mal in ihre hoffnungsvollen Gesichter.

Aman hat mich am meisten erreicht. Meine Neffen sind genauso alt wie er. Ich würde sie gerne bekannt machen. Dann wüssten sie, wie viel ein Leben wert sein kann. Sie wüssten dann, wie viel ein Lächeln wert sein kann. Ein Atemzug, eine Sekunde noch mal seine Mutter oder seinen Vater sehen zu dürfen. Sie würden sich ändern. Denn ihr jesidischer Bruder Aman kann dies in seinem Leben nicht mehr.

 

Bilder: Hammed Khamis

 

 

Wasser für Tamara – der gesamte Blog:

Wasser für Tamara (Blog) | seinsart

Teil 1  |  Kein Wasser für Tamara
Teil 2  |  Die Fixerin
Teil 3  |  Die Geister der Unbeschreiblichen
Teil 4  |  Zwischen Facebook und der Front
Teil 5  |  Gräber der Schande und der Scham
Teil 6  |  Im Labyrinth des Grauens
Teil 7  |  Still wie die Hölle
Teil 8  |  Khattuns Tränen
Teil 9  |  12.000 Brüder

Written by Hammed Khamis

Hammed Khamis wuchs in einer westdeutschen Gastarbeitersiedlung auf. Der Streetworker und Journalist ("Ansichten eines Banditen") setzt sich besonders für die Integration Jugendlicher mit Migrationshintergrund ein.

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