Wenn Journalisten in ein fremdes Gebiet gehen, um zu berichten, dann brauchen sie häufig Übersetzer und Fixer. Fixer sind der Teil einer Berichterstattung, die den Reporter an die Materie bringen. Sie stellen Kontakte zu Interviewpartnern her und kümmern sich um Reisegenehmigungen. Meine Fixerin ist Adiba Qasim. Optimalerweise ist sie Jesidin*. Somit spricht sie neben Arabisch und Englisch nicht nur Kurmanci, sondern auch Jesidisch.

Adiba ist in ihrer Erscheinung sehr zierlich und vornehm. Sie wirkt auf den ersten Blick wie ein normale 23-jährige junge Frau. Ihre Kleidung, ihr Englisch und ihre Handhabung lässt eigentlich gar keinen Gedanken eines Unterschiedes zu einer Europäerin zu. Doch ihre Augen lassen mich etwas Unangenehmes vermuten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es einen Jesiden gibt, der nicht durch den Genozid in Mitleidenschaft gezogen wurde.

Ich bitte sie, mir einen Zugang nach Lalisch zu verschaffen. Von Deutschland aus habe ich mit Scheikh Samir ein Treffen mit seinem Vater, dem Baba Scheikh, vereinbart. Vor Ort möchte ich sicherstellen, dass ich das heilige Wasser aus der weißen Quelle bekomme. Lalisch ist 130 Kilometer entfernt. Wir fahren mit Qasim. Adiba hat ihn für die Dauer der ganzen Fahrt angeheuert. Er soll uns bis nach Shingal begleiten. Qasim macht dasselbe wie sie. Nur halt als Fahrer.

Ein paar Minuten später sind wir auf der Autobahn in Richtung Norden. Ich unterhalte mich mit Adiba über mein Vorhaben. Sie begrüßt die Aktion mit dem Wasser. Es sei eine gute Möglichkeit, die Öffentlichkeit über die katastrophale Lage des jesidischen Volks zu informieren. Es sind so viele Dinge, die ich sie gerne fragen würde. Auch persönliche Dinge will ich von ihr wissen. Doch jedes Mal, wenn wir an einem Straßenschild vorbeifahren, lese ich „Mosul“, „Musol“ oder dergleichen darauf geschrieben.

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Dies zu sehen zwingt mich, andauernd an die Vorfälle in Mossul zu denken. Ich denke an die Dinge, die der IS dort getan hat und noch immer tut. Da sind Menschen, die gegeneinander kämpfen. Der eine denkt, er kommt für sein Handeln in den Himmel. Der andere kämpft für seine Ehre, seine Familie und seinen Stolz.

Warum können wir nicht einfach alle an Gott glauben und gut?
(Qasim, jesidischer Fahrer)

Langsam traue ich mich, Adiba nach den Genozid zu fragen. Sie erzählt mir, das siebzig Menschen aus ihrer Familie ihr Leben gelassen haben. Demut drückt meinen Kopf nach unten. Sie erzählt mir, dass sie fünf Minuten, bevor der IS in ihr Dorf einmarschiert ist, von zu Hause wegging. Für immer. Sie erzählt mir auch, wie sie obdachlos wurde und ihre drei kleinen Geschwister in Richtung Deutschland verabschieden musste.

Zwei Mädchen und ein Junge kamen über die bekannte Route mit Schlauchbooten über Griechenland nach Deutschland. Im Gepäck hatten sie nichts als eine Lage Kleidung, in der Erinnerung einen Genozid, live und in Farbe. Ich muss an die Kriegsberichterstatter denken, mit denen ich mich ausgetauscht habe, bevor ich losgezogen bin. Sie haben versucht, mir zu erklären, wie es in so einem Moment ist, wenn man mit der Schande des Krieges beworfen wird und nichts machen kann, um sein Gegenüber zu trösten. Zudem ist noch nicht einmal ein Krieg gewesen, sondern ein echter Genozid.

Ihr habt mir alles genommen, doch mein Lächeln kriegt ihr nicht.
(Adiba Qasim)

In solchen Momenten denke ich immer an das Leben, das mir meine Eltern durch die Flucht nach Deutschland ermöglicht haben. Adiba hat dies nicht. Sie muss ihre Familie selbst durchbringen. Niemand hilft ihr dabei, das Wenige zusammenzuhalten, was sie noch aus ihrem vorherigen Leben übrig hat. Ich kenne sie nun gerade mal eine Stunde. Menschen wie Adiba wollen keinen Mitleid. Dafür sind sie zu stolz. Sie will einfach nur ihr Leben zurück. Gerne würde ich sie bitten, mir einen Teil ihrer Pein abzugeben.

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Wir sind ab jetzt fünf Tage zusammen unterwegs. Die erste Gelegenheit, ihr ein kleines Lächeln in ihr liebes Gesicht zu zaubern, bekomme ich, als sie mir den Wohnort ihrer Geschwister nennt. Den hatte ich beim ersten Mal überhört. Adibas drei kleine Geschwister haben Asyl in Bünde beantragt. Das ist 45 Kilometer von meinem Geburtsort entfernt. Meine komplette Familie lebt noch in Osnabrück.

Ich biete Adiba an, ihre Geschwister mit meiner Familie zu vernetzen. Das hat schon für viele Menschen einen Unterschied gemacht. Wir haben viele jesidische Freunde in Osnabrück. Einige davon sind für uns so etwas wie Familie. Das kann man doch zusammenführen. Adiba freut sich über mein Angebot und fasst sich an ihre Halskette. Sie würde sich freuen, wenn ich diese Kette mit nach Deutschland nehmen könnte und ihrer Schwester bringe. Gerne stimme ich zu.

Eine halbe Stunde später sind wir in Lalisch. Es liegt versteckt auf einem Berghang. Man muss an einem Checkpoint mit Soldaten vorbei, wenn man zu der heiligen Tempelanlage will. Adiba ruft dem diesthabenden Soldaten am Checkpoint zu, dass sie und der Fahrer Shingalis, also Menschen aus Shingal, sind. Der andere im Auto sei ein Deutscher, ein Journalist. Wortlos winkt uns der Fahrer weiter in Richtung Lalisch.

Vor dem Heiligtum müssen wir unsere Schuhe ausziehen, bevor wir in die Tempelanlage gehen. Der Boden ist eiskalt, es liegt Eis darauf. Das macht mir nichts aus. Ich bin jetzt nur noch zwanzig Meter von meinem Ziel entfernt. Ich habe es fast geschafft. Während ich kurz in mich gehe, genieße ich die klare kalte Luft der kurdischen Berge. Die Stille, die ich vor Ort erfahre, lehrt mich großen Respekt vor dieser uralten Tempelanlage. Hier gibt es keinen Druck. Niemand redet laut oder tut etwas Negatives.

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Beim Betreten der Tempelanlage darf man nicht auf die Schwelle des Eingangs treten. Andere berühren die Schwelle mit ihren Lippen, um sie zu küssen. Plötzlich stehe ich mittendrin. Ein paar Schritte vor mir erkenne ich einen Priester. Es ist Baba Tschawusch. Er ist der verantwortliche Kleriker für die komplette Tempelanlage. Nach Baba Scheikh ist er der wichtigste Geistliche für die Jesiden.

Alle, die ihn treffen, küssen seine Hand. Freundlich streift er seine Hand nach jedem Kuss über den Kopf der Pilger. Das kenne ich aus meiner Kindheit. Wenn jemand älter war, mussten wir auch immer die Hand küssen.

Baba Tschawusch lädt uns auf einen Kaffee ein. Wir unterhalten uns entspannt. Nachdem ich ihm von meinem Vorhaben erzählt habe, bitte ich ihn um das Wasser. Ich würde es gerne auf meinem Rückweg abholen, wenn ich aus Shingal zurückkomme. Baba Tschawusch sagt mir, dass er meine Absicht sehr begrüßt und dass er sich freut, mich bald wieder zu sehen.

Wir fahren weiter nach Dohuk. Da ist alles nicht so modern und gut ausgestattet wie in Erbil. Hier wirkt es eher altertümlich. Im Gegensatz zu Erbil fahren hier alte Autos in einem alten Basar im Zentrum umher. Bei frischem Kebab raten mir Qasim und Adiba, noch einmal die sanitären Anlagen aufzusuchen. Ich ahne, dass es nun ernst wird.

 Irgendwer hat es eilig, in den Himmel zu kommen. Ein anderer fliegt dafür auf dem Heimweg durch die Luft und lässt sein Leben.

Zwei Stunden später erreichen wir Fishqabur, den wichtigsten Checkpoint auf dem Weg nach Shingal. Da kommt man nur mit einer Reisegenehmigung des Asaisch, dem jesidischen Geheimdienst, rein. Wir müssen unsere Reisepässe zeigen. Der Soldat, der sie entgegen nimmt, fragt eine Minute später, wer von uns Mohammed ist. Mir wird mulmig.

Während ich seine ernsten Blicke auf mir spüre, sehe ich die Brücke, an der der Checkpoint liegt. Der Tigris ist wunderschön an dieser Stelle. Warum muss er mit so einer negativen Geschichte behaftet sein? Warum streiten die Menschen sich in der Geschichte hier immer? Warum will einer den anderen kalt machen, weil er oder sie nicht so denkt wie er?

Geschickt erklärt Adiba dem Verantwortlichen, dass ich Journalist bin und in Shingal erwartet werde. Wir können weiter. Wir fahren jetzt weitere zwei Stunden an der irakisch-syrischen Grenze entlang. Jeder weiß, was hier geschehen ist. Ab hier gehörte in der Vergangenheit alles zum sogenannten „Islamischen Staat“. Am Straßenrand erscheinen immer häufiger zerbombte Autos. Die meisten sind einfach weggebombt worden. Brannten aus, verrosteten, um Monate später wie ein Fotomodell in ihren rostfarbenen Kleidern Karl Mays Kulisse vom wildem Kurdistan zu ergänzen.

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Die zerfetzten Autos, oder besser gesagt das, was von ihnen übriggeblieben ist, waren allesamt Opfer von Sprengfallen. Irgendwen haben sie weggebombt. Irgendetwas haben sie zerfetzt. Irgendjemanden aus dem Leben gerissen. Ich bitte den Fahrer anzuhalten, um eines von ihnen zu fotografieren. Als ich vor dem Auto stehe, überkommt mich wieder diese Stille. Kopfkino.

Ich denke die ganze Zeit an die Kriegsfilme, die ich in meiner Jugend gesehen habe. Irgendwo muss der Regisseur ja seine Ideen herbekommen haben. Leider ist es auf dem Rücken von Menschen geschehen. Das nimmt mir die Laune. Irgendwer hat es eilig, in den Himmel zu kommen. Ein anderer fliegt dafür auf dem Heimweg durch die Luft und lässt sein Leben. Das kann doch nicht wahr sein.

Bis nach Shingal ist es nicht mehr weit. Ganz oben auf dem Sindschar-Gebirge kann man die zahllosen Zelte der NGOs sehen, in denen die Jesiden von Shingal nun leben müssen. Man kann  in der Ferne aber auch die Dörfer sehen, die noch vom IS besetzt sind.

Pass auf Deine Haut auf!
(Friedrich Merz)

Als wir unten am Fuße des Berges ankommen, fahren wir in Shingal-Stadt ein. Der letzte Checkpoint ist erreicht. Hier gibt es keine Zivilisten. Der Grund dafür muss nicht erklärt werden. Die Amerikaner und die Franzosen haben hier alles weggebombt, um den IS von dort zu vertreiben. Es sieht aus wie in dem Film „Black Hawk Down“, der in Somalia spielte.

Als ich ein plakatgroßes Graffitto des IS sehe, überrascht mich die Wahrheit wie ein wütender Hund. Den IS gibt es wirklich. Das hat sich nicht irgendwer ausgedacht. Das ist wie bei den Pyramiden. Man versteht erst wirklich, dass es sie gibt, wenn man davor gestanden hat.

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Bilder: Hammed Khamis

 

* Die Jesiden von Kalkar haben mich gebeten, den Namen „Eziden“ zu verwenden. Diese Schreibung entspricht der kurdischen Aussprache ئێزیدی Êzîdî. Aufgrund besserer Verständlichkeit im deutschen Sprachraum habe ich die hier verbreitete Schreibung  beibehalten.

 

Wasser für Tamara – der gesamte Blog:

Wasser für Tamara (Blog) | seinsart

Teil 1  |  Kein Wasser für Tamara
Teil 2  |  Die Fixerin
Teil 3  |  Die Geister der Unbeschreiblichen
Teil 4  |  Zwischen Facebook und der Front
Teil 5  |  Gräber der Schande und der Scham
Teil 6  |  Im Labyrinth des Grauens
Teil 7  |  Still wie die Hölle

Written by Hammed Khamis

Hammed Khamis wuchs in einer westdeutschen Gastarbeitersiedlung auf. Der Streetworker und Journalist ("Ansichten eines Banditen") setzt sich besonders für die Integration Jugendlicher mit Migrationshintergrund ein.

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