Ich möchte meinen heutigen Beitrag mit einem Zitat von Hannah Arendt beginnen: „Das war die Dummheit, die so empörend war, das ist kein Tief, das ist nicht dämonisch, das ist einfach der Unwille sich je vorzustellen, was eigentlich mit den anderen ist“.

Dieser Moment letzte Woche, als Idomeni geräumt und die Geflüchteten gegen ihren Willen in Militär-Camps gebracht wurden, ist für viele unerträglich und lähmend zugleich gewesen. Gelähmtheit, je gegen politische Machtausübung und politisches Kalkül ankommen zu können, um das, was passieren sollte, zu verhindern. Doch für all diejenigen, die in Idomeni als Helfer*innen oder Berichterstatter*innen vor Ort gewesen sind, war dieser Moment mit viel mehr Emotionen verbunden als manch einer sich das vorstellen kann.

Sophia Maier beschreibt es auf ZEIT ONLINE wie folgt: „Dieses flaue, unangenehme Gefühl. Diese Ohnmacht, diese Empörung. Und sie überfordert. Sie überfordert so sehr. Du willst sie einfach nur wegschieben, wieder loswerden.“ Denn die Menschen, um die es hier geht, sind keine Fremden, man hat sie kenngelernt, sich mit vielen angefreundet und mache sogar lieben gelernt. Es sind Menschen, deren Geschichten, deren Schicksale man kennt und denen man keine weiteren Schicksalsschläge mehr wünscht.

Wir alle wissen, wie unterschiedlich es sich anfühlt, wenn wir von einem Unfall lesen, dessen Fahrer*in wir nicht kennen – und unseren Emotionen, wenn es sich dabei um eine Freundin oder einen Bekannten gehandelt hat. Es berührt uns direkter, es löst eine emotionale Kettenreaktion aus, die uns empathischer macht für das, was mit den anderen ist. Hannah Ahrendt hat recht, wenn sie wie im vorangegangenen Zitat verdeutlicht, dass die Ohnmacht, nicht zu handeln, nicht per se etwas Böses ist oder eine Form systemischer Überforderung, sondern mit dem fehlenden Willen, sich vorzustellen, dass die anderen wir selbst sein könnten.

Die Übersetzung des DIE zu einem WIR aber macht uns zu Menschen, die sich für andere einsetzen, die eine Vorstellung dessen besitzen, was Menschenrecht und Menschenwürde konkret bedeutet. Und dieses Privileg nicht nur für mich zu beanspruchen, sondern für alle. Ich möchte heute einer Familie aus Idomeni ein Gesicht geben und Ihnen zeigen, wer gegen seinen Willen weggebracht wurde und was dies für eine Familie wie die vorgestellte bedeutet. Auf Wunsch der Familie werde ich nur den Namen der Mutter veröffentlichen.

13324082_10209700256962733_777933221_o

Khadija ist 35 Jahre alt. Von Beruf ist sie Grundschullehrerin und stammt aus Syrien. Kurz bevor der Krieg in ihrem Land ausbrach, wurde bei Kahadiya Nierenkrebs diagnostiziert. Noch zu Beginn der Untersuchungen und den ganzen Krankenhaus-Terminen (wir alle kennen diese Situation aus unserem eigenen Leben) landeten erste Raketen in dem Gebiet, aus der die Familie stammt. Der Ehemann, der ein kleines Busunternehmen besaß, kam eines Tages nach der Arbeit nicht wieder nach Hause. Wochen später wurde sein Bus ausgebrannt auf einem Feldweg gefunden.

Bis heute weiß niemand, was mit dem Ehemann passiert ist und wer den Bus in Brand gesetzt hat. Da solche Terrorpraktiken durchaus zur Routine des Assad-Systems gehörten, war nicht klar, ob regierungsnahe Gruppen oder der Islamische Staat, Daesh, hinter der Entführung stand. Khadija und ihre Familie begannen auf eine Nachricht von den Entführern zu warten, um den Ehmann „freikaufen“ zu können. Aber es kam keine Nachricht oder ein Hinweis, der ihre Vermutung auf sein Überleben hätte bestätigen können.

Nach nun fast 4 Jahren gehen alle davon aus, dass der Vater von Khadijas Kindern nicht mehr am Leben ist. Ohne Ehemann und von der Verschlimmerung der militärischen Lage angetrieben floh sie mit ihren Kindern nach Afrin – eine Stadt im nordwestlichen Teil Syriens und seit 2014 autonome kurdische Region. Da viele Menschen mit kurdischer Herkunft die gleiche Flucht antraten, musste Khadija mit ihren drei Kindern und Tausenden von Flüchtlingen in einer Schule unterkommen.

Die Situation und die Versorgung der vielen Menschen erwies sich in dem kriegsgebeutelten Land als äußerst problematisch. Auch die Angst, dass Daesh bis in diese Region vordringen könnte, führte dazu, dass Khadija alles verkaufte, was sie besaß, um weiter in die Türkei zu fliehen. Teilweise zu Fuß oder mit dem Bus erreichten die Mutter und ihre drei Kinder (die heute 13, 11 und 3 Jahre alt sind) nach einer beschwerlichen und auch gefährlichen Flucht durch Kriegsgebiet die Türkei.

13120525_10209700257482746_427284260_o

Hier verschlimmerte sich Khadijas gesundheitlicher Zustand nach mehreren Arztuntersuchungen so sehr, dass ihr eine Niere entnommen werden musste. Nach erfolgreicher Operation (welche sie privat bezahlen musste) fehlte ihr das Geld für eine Wohnung und das weitere Auskommen der Familie. In meinem Gespräch mit ihr betonte sie immer wieder, dass viele Türken unfreundlich und beleidigend mit ihnen umgegangen seien, sie aber mit ihren direkten Nachbarn sehr viel Glück gehabt habe. Tagelang hatten sie für sie eingekauft, mitgekocht oder ihr sogar Geld gegeben für notwendige Erledigungen.

Mit Hilfe von Freunden der Nachbarn wurde Geld gesammelt, um die Miete zu bezahlen und die weitere Flucht nach Griechenland zu organisieren. „Auch die Türken in der Türkei wussten, dass es für mich und meine Familie keine Möglichkeit gibt, hier zu bleiben. Sie wussten, ich muss nach Europa, um die Kinder durchzubringen. Wissen Sie, vor Bomben und Tod zu fliehen, ist eine Sache, das alles alleine mit drei Kindern hinter sich zu bringen, eine Tragödie. Egal wem sie auf dieser Flucht begegnen, als Frau haben sie es immer schwer. Man kann niemandem vertrauen. Nachher landen sie in der Sexarbeit oder ähnliches.“

Achtmal hat sie mit Hilfe ihrer Nachbarn und Freunde die gefährliche, für viele tödlich endende Überfahrt nach Griechenland gewagt. Zweimal ist das Boot kurz vor der Küste gekentert. Einmal wurden sie von einer freiwilligen Organisation gerettet, ein anderes Mal durch die Küstenwache selbst und wieder zurück in die Türkei gebracht. Bei einem dieser Überfahrten hat sie alle ärztlichen Dokumente verloren.

„Wie hast du das geschafft? Wie kann man sich achtmal in ein nicht fahrtüchtiges Boot setzen und die gesamte Familie in Gefahr bringen?“ Noch während ich sie frage, entschuldige ich mich für die Frage mit der Begründung, dass Menschen in Deutschland genau diesen Punkt nicht verstehen können. Darauf antwortet sie mir: „Ich wusste: Entweder ertrinken wir im Meer. Oder wir erreichen Deutschland, wo meine Schwester lebt und wo meine Kinder eine Zukunft haben.“

13323935_10209700255842705_421798385_o

Als sie sieht, dass ich nach einer vertiefenden Frage suche, fährt sie fort: „Ich vermute, der Krebs hat meinen Körper wieder eingenommen und ich möchte meine Kinder in Sicherheit wissen, bevor ich sterbe. Was hätte mit ihnen passieren sollen in der Türkei? Ich hätte mir keinen Arzt und keine Untersuchung mehr leisten können. Dann wären sie auf der Straße in der Prostitution oder in der Kriminalität gelandet. Da wusste ich: Entweder nimmt uns das Meer oder wir bekommen eine Chance.“

Nach der letzten Überfahrt schlug sich die Familie alleine bis nach Idomeni durch, mit der Hoffnung, über Mazedonien nach Deutschland zu gelangen. Die Hoffnung und die Erleichterung, es endlich bis hierher geschafft zu haben, hielt nicht lange an. Denn die offiziellen Stellen der EU haben sie nicht nur alleine sondern auch im Stich gelassen. Kritiker werden noch einen Schritt weiter gehen und sagen, dass sie mit dem Türkeiabkommen Khadija und ihre Würde verkauft haben.

Es gibt keine Hoffnung mehr, nach Deutschland zu kommen, oder? Werden sie die Grenze wieder öffnen? Ihre Fragen stehen im Raum und lassen die Luft zwischen uns schal und stickig werden. Ich würde so gerne sagen, dass ich Hoffnung habe, aber auch ich habe nach der Räumung und dem Abtransport der Menschen aus Idomeni meine Hoffnung verloren. Ich traf Khadijah Familie, da mir eine Frau im Camp sagte: „Du brauchst mir nicht helfen. Diese Frau und ihre Kinder müssen hier raus. Wir kümmern uns seit Wochen um sie und haben Angst, dass sie hier im Camp stirbt.“

Das Einzige, das ich für ihre Familie tun konnte, ist der Kontakt zu dem großartigen Schweizer Arzt Matthias Keller. Mit meiner Beschreibung hat er Khadiya in Idomeni gefunden, um nach ihr zu sehen. Wo sie jetzt ist und wie es ihr gesundheitlich geht, habe ich vor Abschluss dieses Beitrags leider nicht in Erfahrung bringen können.

 

Hier geht es zurück zu Tag 7: Miteinander Leben.

 

Bilder:  Tim Lüddemann, Elif Kahnert

Written by Elif Kahnert

Elif Kahnert ist studierte Erwachsenenbildnerin und systemischer Coach. Als Lehrbeauftragte hält und organisiert sie Seminare zur türkischen Frauenbewegung und bloggt unter anderem über Flüchtlingspolitik.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.