Gestern war ein sehr anstrengender Tag. Folglich habe ich gut schlafen können. Ich komme mir auch nicht mehr beobachtet vor. Meine Angst hat sich in Vorsicht gewandelt. Und die Tatsache, dass ich heute hier wegfahren kann, zwingt mir Demut in mein Gesicht, während ich am Frühstückstisch sitze. An einem Tisch, wo Gut und Böse gegessen haben. Ein junger Peshmerga-Kämpfer kommt mit einem Tablett auf mich zu. Auf ihm liegen wie an den anderen Tagen zuvor gebratenes Ei, Käse, Gemüse und Brot. Während er das Tablett auf den Tisch legt, lächelt er mich freundlich an und wünscht mir einen guten Appetit. Das macht mir meinen Abschied nicht leichter.
Wir fahren los in Richtung Sherfedin. Sherfedin heißt im übertragenen Sinne: Die Ehre des Glaubens. Diesem Namen hat ein Mann 2014 alle Ehre gemacht. Sein Name ist Qassim Schescho. Er ist der Löwe von Shingal. Den Namen hat man ihm gegeben, als er Sherfedin mit einer Handvoll Peshmerga-Kämpfer gegen Hunderte der Terroristen verteidigt hat. Sherfedin liegt übrigens genau an jener Stelle des Sindschargebirge, wo die Jesiden zu Zeiten des Genozids Steine sammelten, um in einer Größe von rund 100 Quadratmeters die Worte HELP US auf den Boden zu schreiben.
Das war nach dem 4. August 2014. Menschen drohten zu verdursten. Gekommen ist niemand. Also kam Schescho. Und mit ihm sein damals 23-jähriger Sohn Fahim. Eigentlich kommen die beiden ja aus dem westfälischen Bad Oeynhausen, wo Qassim Schescho Gärtner war. Fahim hat eine Lehre als Klempner gemacht. Doch der Genozid an ihrem Volk ließ den beiden keine Ruhe. Der Vater wollte alles geben, um sein Volk zu verteidigen, und sein Sohn alles, um seinen Vater zu verteidigen. Beide sind deutsche Staatsbürger. Zwei Deutsche, mitten im Krieg. Mitten in einem Krieg ohne Regeln. Ohne Gesetze. Doch heute nehmen sie sich frei.
Auch die Hoffnung hat hier keinen Platz mehr.
Bevor wir losfahren, bekomme ich noch die Möglichkeit, mit einer Rückkehrerin zu sprechen. Sie wartet im Hinterhof eines der verlassenen Häuser auf mich. Als wir hereinkommen, sitzt sie mit einer Begleiterin und ihrem Sohn vor dem Haus auf einem Teppich. Sie hat Tee für uns gemacht. Mehr hat sie nicht. Als mein Blick ihre Augen trifft, sehe ich darin ihre schmerzvolle Geschichte. Sie ist eine von den Frauen, die verschleppt wurden. Vergewaltigt, gedemütigt hat man sie. Sie ist eine der Frauen, deren Willen sie permanent zu brechen versucht haben. Allein wegen ihrer Religion. Ich frage sie nach ihrem Namen. Mehr nicht.
Sie soll ihre Wunden nicht wieder öffnen. Wer weiß, wie oft sie schon erzählen musste, was ihr widerfahren ist. Sie soll nicht wieder einem Fremden Dinge aus ihrer Privat- oder Intimsphäre erzählen. Das will ich nicht. Das denke ich, als ich ihren fünfjährigen Sohn ansehe. Er sieht aus wie mein Neffe. Ich spüre, wie mein Geist meinen Körper für einen kurzen Moment verlassen will. Um nicht vor ihnen zusammenzubrechen, verlasse ich die Szenerie mit einer einfachen Verabschiedung.
Und wieder muss ich an die Kulissen eines gottverdammten Hollywoodfilms denken. Alles hier um mich herum ist zerstört. Nicht nur die Gebäude. Auch die Hoffnung hat hier keinen Platz mehr. Überall liegen Sachen herum, die Menschen auf der Flucht verloren haben. Das letzte, was ich sehe, ist ein Stofftier, das mitten auf der Straße liegt. Wem hat dieser Hase gehört? Wo ist sein Besitzer jetzt? Und vor allem, wie geht es diesem kleinen Menschen nun? Der Gedanke daran zwingt mich in die Knie. Wie ein Puzzle vervollständigt sich diese Kulisse.
In den ersten Tagen habe ich mir immer versucht vorzustellen, wie es hier zu Zeiten von Frieden aussah. Ein Basar, Restaurants und Friseurgeschäfte, wie überall sonst auch in diesem Land. Doch jetzt kann ich an nichts anderes denken als an die Kämpfe, die Bomben und das Geschrei, das hier die Kampfhandlungen untermalt hat. Ich beginne zu rennen. Meine Wahrnehmung verlangsamt sich. Deswegen hole ich mein Handy heraus und mache Musik, um sie über meine Kopfhörer zu hören. Das soll mir ein wenig Ablenkung und Zeit geben, mich zu besinnen. Doch es bringt nichts. Ich kann nicht mehr.
Also setze ich mich in eine Ruine und beginne meine Gedanken zu sortieren. Ich glaube, dass ich heute an eine Stelle gelangt bin, die meine äußerste psychische Grenze darstellt. Es geht mir jetzt nicht mehr nur seelisch schlecht. Das Ganze hat sich auch auf meinen Körper übertragen. Ein Gefühl unsagbarer Schwäche. Also setze ich mich auf einen Stein oder was auch immer das hier einmal gewesen ist.
Wenn es mir nach ein paar Tagen schon so schlecht geht: Wie müssen sich all diese Menschen fühlen, die die ganze Zeit hier bleiben? Normalerweise denke ich an so einer Stelle immer, dass ich wiederkommen werde und ein Projekt mache, das den Menschen Kraft gibt. Aber hier gibt es nichts Gutes mehr. Die Terroristen haben alles zerstört.
Ich muss davon berichten. Die Öffentlichkeit muss nicht nur sehen, wie es hier aussieht. Man muss auch sehen, wie es sich hier anfühlt, wie sich die Menschen, die noch hier leben oder leben müssen, fühlen. Es gibt bestimmt einen Teil in der Hölle, der so ist wie hier. Ganz still.
In der Hölle ist es nicht nur heiß, sondern auch ganz still. Wie hier.
Wir leben im 21. Jahrhundert. Die Menschheit bereitet sich darauf vor, den Mars zu erobern. Dennoch gibt es Orte, an denen Menschen einander weh tun, weil sie einer anderen Meinung oder einer anderen Gesinnung sind. Was muss passieren, damit diese Menschen damit aufhören? Der Mensch hat so viele Dinge erfunden. Warum ist es nicht möglich, auch hierfür eine Lösung zu finden? Ich würde alles dafür geben. Alles.
Bilder: Hammed Khamis
Wasser für Tamara – der gesamte Blog:
Teil 01 | Kein Wasser für Tamara
Teil 02 | Die Fixerin
Teil 03 | Die Geister der Unbeschreiblichen
Teil 04 | Zwischen Facebook und der Front
Teil 05 | Gräber der Schande und der Scham
Teil 06 | Im Labyrinth des Grauens
Teil 07 | Still wie die Hölle
Teil 08 | Khattuns Tränen
Teil 09 | 12.000 Brüder
Teil 10 | Keine Nahrung für den Hass