Das Meer ist ruhig an diesem Samstagmorgen. Angeblich sind den türkischen Schmugglern die Boote ausgegangen, deshalb ist heute noch niemand gestorben. Zumindest nicht auf dieser Seite der Meeresenge. Acht Kilometer ist die türkische Küste entfernt, sagt Google Maps. „Da kann man doch hinüberschwimmen“, sagt fast jeder, der zum ersten Mal an der Küste steht. „1500 Dollar“, sagt der türkische Schlepper und meint einen Platz in einem jener völlig überfüllten Gummiboote, die heute ausnahmsweise nicht ablegen. „30 Euro“, sagt der lokale Fähranbieter, dessen Passagiere nie ertrinken; für Flüchtlinge gilt dessen Angebot freilich nicht.

Nur 20 Kilometer ist die Küste zwischen den Orten Molivos und Skala Sikamineas lang, an der die Mehrzahl der Menschen landen, die in Europa ein besseres Leben suchen – oder überhaupt eines. 20 Kilometer mal 8 Kilometer, das ist ein Drittel des Bodensees, das ist etwas weniger als die Fläche von Liechtenstein, das ist etwas mehr als Walt Disney World in Florida. Ein Disney World, in dem seit Jahresbeginn mindestens 500 Menschen gestorben sind und jeden Tag weitere sterben, ohne dass jemals der Notarzt kommt.

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Als 300 Menschen über Bord gingen, rettete Frontex null.

Irgendwo dort hinten, wo Europa schon wieder endet, ist manchmal das graue Schimmern eines Schiffs der Küstenwache zu erkennen. Es ist zu weit weg, um zu erkennen, ob es jenes griechische Schiff ist, von dem dieses Youtube-Video kursiert. Das, auf dem ein Matrose mit einer Art Harpune mitten in der Nacht und mitten auf dem Meer ein Gummiboot mit 40 Menschen an Bord zersticht. Vielleicht ist es auch das Frontex-Schiff, das vor Ort war, als neulich ein Boot mit 300 Menschen kenterte. Vier Stunden lang schauten sie zu, wie schließlich 30 Menschen ertranken. Vielleicht auch mehr.

Dass über 250 Menschen gerettet werden konnten, lag an freiwilligen Rettungsschwimmern aus Barcelona. Die Anzahl der von Frontex geretteten Menschen in dieser Nacht: 0. Null! Sie seien nicht dafür ausgebildet, sagte im Anschluss irgendjemand, der dafür ausgebildet wurde, solche Dinge im Anschluss zu sagen. Ausgebildet offenbar auch nicht dafür, die Kinderleichen einzusammeln, die in den nächsten Tagen an der Küste angespült wurden. Das taten Freiwillige aus Norwegen und den Niederlanden. Aber an diesem sonnigen Samstag wird das nicht passieren, trotz des ruhigen Meeres und nicht wegen der EU. Zumindest nicht auf diesen 20 Kilometern Europa.

seinsart | Tag 7: 500 Tote in Disney World
Ein paar Schuhe warten an diesem Tag vergeblich auf die nächsten nass-kalten Füße.

 

Bilder: Fabian Köhler

Written by Fabian Köhler

Fabian Köhler hat in Jena und Damaskus Politik- und Islamwissenschaft studiert. Als freier Journalist schreibt er gern über und noch viel lieber aus Nahost. Auch wenn davon nicht mehr viel übrig ist.

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