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Mit gesenktem Haupt gehe ich mit den Jungs weiter, um ein wenig zu resumieren. Eli ist wirklich ein guter Mensch. Ich habe ihm beim Beten zugesehen. Er hat beim Gebet gekniet wie Muslime es tun. Damit hat er mir etwas zur Hand gegeben, das ich in Zukunft zum Diskutieren benutzen kann, wenn es um die Unterschiede der Religionen geht. Es gibt keinen Unterschied. Allein der Mensch ist, was zählt. Danke Eli.
Wenn es hier im Camp eine Kirche gibt, dann muss es auch eine Moschee geben. Immerhin leben hier sehr viele Sudanesen. Und zumindest Nord-Sudanesen sind fast immer Muslime. Also frage ich mich an den Menschen, an denen wir vorbeikommen, schlau und erfahre, dass ganz in der Nähe im afghanischen Viertel tatsächlich eine Moschee errichtet wurde.
Ein paar Minuten später stehen wir vor einem circa dreißig Quadratmeter großen Bau und bewundern genau dasselbe wie ein paar Minuten zuvor an der Kirche. Die Afghanen haben sogar eine Art Veranda vor den Eingang gebaut. Dort ziehen wir unsere Schuhe aus, um in Innere zu gelangen. Jetzt hört sogar Jasper auf zu sprechen.
Der Grund dafür ist einfach: Genau wie in der Kirche ist es hier drinnen einfach nur still. Ich genieße den Anblick der an den Wänden hängenden Gebetsgewänder. Dann setze ich mich auf den Teppich. Dieser ist wie in den meisten Moscheen in einzelne Gebetseinheiten aufgeteilt. Ein wunderschöner Anblick: Hier ist ein guter Platz zum beten.
Weiter geht es zu einer Bücherei, welche von französischen Volontären erbaut wurde. Hierbei handelt es sich um ein etwa 15qm großes Zelt, in welchem die ersten zwei Regale mit Büchern stehen. Vor der Bibliothek sitzen Bill und Kate. Bill ist Biophysiker in Rente. Er plant online Projekte, mit denen man effektiv helfen kann. Kate ist eine selbstbewusste und liebevolle Frau, die im Dschungel bereits viele Projekte angestoßen hat, um die Flüchtlinge ein wenig von ihrer Situtation abzulenken. Heute hat sie Luftballons mitgebracht und bläst sie gemeinsam mit den Flüchtlingskindern auf.
Der Fußweg durch die Viertel des Dschungels wird von vielen beeindruckenden Einrichtungen gesäumt. Ich habe hier Miniläden, Imbisse, Strom- und Wasserstellen und sogar Friseure entdeckt. Leider ist er auch von Müll und anderen stinkenden Dinge gesäumt. Und wenn man ihn verlässt, findet man heraus, dass der Müll abseits des Wegs noch viel dichter wird. Hier liegen vor allem Bierdosen und es sieht tatsächlich so aus wie in den Slums, die man im Fernsehen sieht. Die schlechte Seite dieses Ortes präsentiert sich als Müll, übler Geruch und Gleichgültigkeit.
Immer wieder, wenn sich in den letzten Tagen der Blick eines Flüchtlings und meiner trafen, entstand ein Gefühl von Scham zwischen mir und dem anderen. Die Flüchtlinge schienen sich für ihre Situation zu schämen. Und ich schäme mich dafür, dass ich sie durch mein europäisches Auftreten dazu gebracht habe, sich zu schämen. Die Menschen leben hier in Müll und anderem Unrat.
Und an jedem Teil, das in diesem Müllhaufen zu sehen ist, sei es ein Tetrapack oder eine weggeworfene Rasierklinge, klebt ein Fetzen Menschenwürde.
Spätestens jetzt wird mir endgültig klar, wie groß die Verzweifung an diesem Ort wirklich ist. Das hier ist kein Zeltlager, in das man mal eben für ein Wochen hinkommt. Im Dschungel von Calais leben nur Menschen, die ein massives Problem in ihrer Heimat haben. Warum sonst sollten sie damit einverstanden sein, an einem Ort wie diesem hier zu leben? Kein Mensch lässt Haus und Familie für einen Ort wie den Dschungel zurück.
Auf dem Weg aus dem Camp heraus sehe ich einen dunkelhäutigen Flüchtling vor seinem Zelt. Er kniet auf einem Gebetsteppich, um zu beten. Geduld und Versenkung angesichts einer ausweglosen Situation. Was hätte ich an seiner Stelle wohl gemacht? Wortlos trotten wir zu dritt die scheinbar endlos lange Straße entlang. Vor und hinter uns begleiten uns Gruppen von Flüchtlingen, die scheinbar alle das selbe Ziel haben: Die Gleise nach Großbritannien.
Am Ende der Straße spricht Jasper eine vierköpfige Gruppe von Pakistanern an. Einer von ihnen kann Englisch. Wir scherzen umher und finden sogar wieder einen Weg zum Lachen zurück. Die Jungs erzählen uns, dass sie auf dem Weg zu den Gleisen sind. Ich bin todmüde, aber ich möchte sie begleiten. Wie soll ich von Calais berichten, ohne den Grund dafür mit eigenen Augen gesehen zu haben? Doch meine Müdigkeit fordert ihren Tribut. Wir entscheiden uns, erst morgen zu den Gleisen aufzubrechen.
Zum Hostel sind es noch fünf Kilometer. Ich beginne, Menschen in ihren Autos anzusprechen. Wir bieten 15,- Euro für die Fahrt. Der dritte nimmt uns mit. Sein Name ist Mark. Er ist ein 42-jähriger Engländer mit ungarischem Migrationshintergrund. Mark ist eben aus Gibraltar gekommen. Dort hat er sich ein rot-farbenes Wohnmobil gekauft und ist auf dem Rückweg nach England.
Mark macht uns Mut, unsere Sache weiter zu verfolgen. Er sei ein Freund der Flüchtlingssache. Er bietet uns Bier und Wasser an. Wir verzichten nicht. Ob er uns gegen eine Tankbeteiligung auch zu den Gleisen fahren würde?
Mark willigt sofort ein. Nur zehn Minuten später sind wir in der Nähe des Eurotunnels. Mark weiß besser als wir, wo wir hinwollen. Unser Ziel ist eine Art Industriegebiet. Alles hier ist ordentlich. Die Bäume und das Gras sind fast perfekt gestutzt. Die Straßen sind ganz sauber. Kein Müll und kein Unrat, der hier nicht hingehört.
Konzentriert mache ich einen Rundumblick, um mich ein wenig zu orientieren. Ich sehe in den Büschen etwas umherhuschen. Das müssen Flüchtlinge sein. Wir lassen Mark auf dem Parkplatz zurück, um den Bewegungen zu folgen. Unsere Vermutung bestätigt sich, als ein Polizeiauto vorbeikommt und der Busch plötzlich mucksmäuschenstill wird. Ein unbeschreibliches Gefühl.
Als ich die Büsche erreicht habe, fällt mein Blick auf einen jungen Mann, nicht älter als fünfzehn Jahre. Er lächelt mir entgegen und reicht mir die Hand. Abdullah ist ein Halbweise aus Pakistan. Seine Mutter ist tot. Sein Vater ist seit Monaten verschwunden. Er ist mit einem Onkel und zwei Cousins im Camp. Heute will er sein Glück auf dem Zug nach England probieren. Ich beschließe, ihn zu begleiten. Doch dazu müssen wir an den Patroullien vorbei.
Am letzten Zaun stoßen wir auf eine Anhöhe, die mit vielen Bäumen und Gestrüpp Schutz in der Dunkelheit bietet. Wir legen uns auf den Boden. Da liegen wir nun in dieser gehäckselten Baumrinde, die immer in Beeten ausgelegt wird. Ich genieße die Meerluft und die Gegenwart der anderen. Wir sechs Jungs. Alle gleich. Hier oben ist keiner mehr wert als der andere. Wenn da nur mal nicht die Patroullien wären.
Abdullah wirkt sehr angespannt. Er liegt unmittelbar neben mir und starrt konzentriert auf eines der Patroullienfahrzeuge. Mit zwei Mittelfingern in Richtung der Patroullie will ich ihm zeigen, dass die nichts tun können. Doch er schreckt auf. Er erklärt mir, dass sie über Nachtsichtgeräte verfügen. Unglaublich. Abdullah hat recht. In Windeseile fahren sie auf uns zu. Aufgescheucht suchen wir das Weite.
Ich versuche zu fotografieren. Zum Glück gelingt es mir nicht. Einen der Jungs stoße ich beim Rennen in ein Gebüsch. Der ist schon mal in Sicherheit. Abdullah nehme ich an der Hand und zerre ihn immer weiter bis zu einem kleinen Hügel, der viel Dunkelheit zum Verstecken bietet. Dort werfe ich mich auf Abdullah, um ihn vor der Polizei zu schützen. Mir können sie gar nichts tun; ich bin „German Citizen“. Abdullah muss wahrscheinlich ein paar Tage in Haft, wenn sie ihn in dieser Zone hier erwischen.
Während ich auf ihn einflüstere, spüre ich, dass Abdullahs Herz vor Angst bebt. Mir kommen die Tränen. Wie können wir es zulassen, dass ein Mensch in Todesangst gerät, weil er frei sein möchte? Dieser Junge ist noch ein Kind. Gott allein weiß, was ihn sein Leben in der Vergangenheit an Bösem unterrichtet hat. Ich sage ihm, dass ich mich jetzt stellen werde. Damit kann ich die Polizei ablenken, und er kann nach hinten aus unserem Versteck verschwinden.
Als die nächste Patroullie kommt, gehe ich aus meinem Versteck heraus auf das Polizeifahrzeug zu und hebe die Hände. Ich mache das so theatralisch wie möglich, um mehr Zeit für Abdullah zu gewinnen. Ich lasse mich verhaften und interviewen. Ein Beamter hatte versucht, mich gegen das Polizeifahrzeug zu drängen. Dabei stieß er mit seiner Hand auf meine Kamera, die ich unter meiner Jacke versteckt gehalten habe. Sie sollten denken, dass ich ein Flüchtling bin. Plötzlich hören sie auf, mich zu schubsen und ungehobelt mit mir zu sprechen.
Ich zeige ihnen meinen Personalausweis und erkläre, dass ich auf der Suche nach einem Freund bin. Wir seien hier umhergelaufen und hätten uns durch das Wegrennen verloren. Die Grenzer befehlen mir, diesen Abschnitt zu verlassen. Sie wollten mir die Regeln nicht in einer Haftzelle beibringen, wie sie sagten.
Ich tue so, als würde ich die Straße entlang von dort weggehen. Ich kann aber nicht weg. Da hinten, gleich hinter dem Polizeiauto, kniet noch immer ein minderjähriger Pakistaner im Unterholz und macht sich gleich vor Angst in die Hose. Ich muss wenigstens nachsehen, ob er es geschafft hat. Wenn ich da wieder hin gehe, dann nehmen die mich mit. Aber egal. Besser mich als einen fünfzehnjährigen, unterernährten Jungen, denk ich mir und springe die Büsche hinab, um möglichst unerkannt wieder zu Abdullah zu kommen.
Ich weiß, dass ich gleich Schläge bekommen werde.
Also lass ich meine Gedanken ziehen und schnüre mir noch mal meine Schuhe fest.
Zurück an der Stelle, wo ich ihn zurückgelassen habe, finde ich Abdullah nicht. Stattdessen stoße ich auf drei neue Flüchtlinge, zwei Syrer und einen Afghanen. Ich biete ihnen meine Hilfe an. Doch sie lehnen dankend ab. Sie werden gleich alles riskieren. Auch ihr Leben. Denn wenn man nicht auf dem Zug landet, droht noch immer die Stromleitung oder ein unglücklicher Aufprall.
Plötzlich steht das Polizeiauto wieder an unserem Gebüsch. Sie leuchten jetzt alles ab. Ein zweites Fahrzeug kommt hinzu. Jetzt ist alles verloren. Hoffentlich hat Abdullah es wenigstens geschafft. Ich gebe den anderen dreien ein Zeichen. Sie sollen hier warten, bis ich an der Anhöhe bin. Schreiend renne ich über den nebenan liegenden Parkplatz und versuche so, die Aufmerksamkeit auf mich zu richten. Das klappt auch ganz gut.
Einer der Wagen muss an ein paar Bäumen stehenbleiben. Er kam nicht hinterher, als ich durch sie hindurch gerannt war. Doch der andere Wagen kennt das Gelände gut und umfährt sie Szenerie. Ich habe jetzt etwa 400 Meter, bis sie bei mir sind. Und ich weiß, dass ich gleich Schläge bekommen werde. Ich werde versuchen, sie aufzuhalten, solange ich stehen kann. Also knie ich in einem Busch und warte darauf, entdeckt zu werden.
Eine halbe Minute lang überschlagen sich die Gedanken in meinem Kopf. Warum tun sich die Flüchtlinge das hier an? Das ist lebensgefährlich. Warum tue ich das überhaupt? Was passiert hier gleich? Was geht in einem Grenzpolizisten vor, wenn er herausfindet, dass der Mensch, den er jagt, ein minderjähriger Waisenjunge ist? Ich habe keine Angst. Aber ich bin ratlos. Also lass ich meine Gedanken ziehen und schnüre mir noch mal meine Schuhe fest. Gleich geht’s rund.
Es dunkler VW-Kombi fährt musternd am Gebüsch vorbei. Mist, noch ein Auto. Ich erkenne ein Münchner Kennzeichen an dem dunklen VW. Deutsche! Das sind bestimmt Journalisten. Und die haben bestimmt ihre Presseausweise und Kameras dabei. „Deutschland, Deutschland, bleibt bitte stehen. Die machen uns gleich fertig,“ rief ich dem Auto hinterher. Das Auto fuhr aber weiter.
Jetzt sind wir dran. Denn ich stehe hier mitten auf der Straße und die Polizei hat das bestimmt mitbekommen. Also wieder rennen. Doch der VW bleibt nach ein paar Metern stehen und legt den Rückwärtsgang ein. Neben mir angekommen, öffnet sich ein Fester und ein kahlköpfiger Fahrer spricht in einem Hamburger Akzent: „Diggi, wos’n loos hieah?“
Ich würde es ihm gerne erklären, aber ich will einfach nur noch weg. Volkan und Jasper sind zu Mark zurück, um ihn nicht zu versetzen. Die Hamburger fahren mich zurück in Richtung Hostel. Der Fahrer heißt Sebastian. Er ist Deutscher mit polnischem Migrationshintergrund. Genau wie sein Begleiter, Jarek. Der ist außerdem Filmregisseur und macht einen Film über das Camp. Der Kameramann heiß Leo und kommt aus Düsseldorf.
Alle drei schauen mich ein wenig unsicher an. Für sie war die Begegnung sicher nicht weniger unerwartet als für mich. Da mir das Adrenalin noch immer meinen Verstand vernebelt, sage ich erst einmal nichts. Ich möchte nicht den Eindruck eines kleinen, heulendes Kinds hinterlassen. Das eben war niemals ein Zufall. Das waren vielleicht noch 20 Sekunden, bis man mich festgenommen und mir einer Haftzelle Manieren beigebracht hätte. Irgendwas musste ich heute richtig gemacht haben.
Wenn Du alleine bist und der Polizei Ärger gemacht hast, bekommst Du auf jeden Fall Schläge. Das gilt nicht nur für Flüchtlinge. Das ist überall auf der Welt gleich.
Vor dem Hostel vereinbare ich mit den Jungs, ab jetzt zusammen weiterzumachen. Sie waren vor ein paar Wochen schon einmal in Calais und kennen hier viele Leute. Ich kann Arabisch und kann Interviews für sie führen.
Morgen um elf Uhr holen sie mich wieder ab. Dann sind wir zu viert. Ich freue mich auf die Jungs. Sebastian, der Fahrer, hat mich nicht nur gerettet, er hat mich auch berührt. Denn er ist weder Journalist noch anders in das Ganze verwickelt. Er ist genau wie Jasper privat hier, um irgendetwas Gutes zu tun.
Beim Einschlafen denke ich zurück. Ich bin gerade erst 24 Stunden hier in Calais. Und schon haben so viele besondere Menschen meinen Weg gekreuzt. Ich bin traurig und glücklich zugleich. Doch vor allem bin ich unendlich dankbar.
Bilder: Hammed Khamis
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