Der Tag des Konzertes, der 10. Dezember 2015, begann wie er endete: mit klirrender Kälte. Die Heizung in unserem Hotel war ausgefallen. Mit Jeans, doppelten Strümpfen und meiner Jacke hatte ich versucht, mir die Außentemperatur auch im Schlaf vom Leibe zu halten; das Fehlen einer Bettdecke auf meinem Zimmer hatte die Situation ungünstig verschärft. Der Nachtwächter, ein eindrucksvoll gebauter Tunesier, war bereits bei der Frage nach der abgelaufenen Schlüsselkarte für Hammeds Zimmer vor einer guten Stunde derart außer sich geraten, dass ich ihn nicht noch einmal aus dem Schlaf reißen wollte. Auf diese Weise wurde ich unweigerlich zum Zeugen der klimatischen Verhältnisse im Dschungel; im Gegensatz zu seinen Bewohnern aber konnte ich meinem Zittern mit einer heißen Dusche am Morgen ein Ende bereiten.

Unsere Ankunft im Dschungel endete an einer Sperre der Polizei. Alles Verhandeln und Zetern nutzte nichts: Wir mussten den ersten Umweg des Tages antreten, einmal auf die Autobahn und rund 5 Kilometer hin und zurück – um die Unterführung zu durchqueren, für die wir die Tage zuvor 10 Sekunden gebraucht hatten. Unser Glück: Trotz der Sperrung des Camps aus unerfindlichen Gründen war es möglich, auf diesem Weg einer regulären Autobahnauffahrt doch noch in den Dschungel zu gelangen.

Als wir mit dem Klavier im Wagen durch die engen Gassen des Camps fuhren, warf man uns ungläubige Blicke zu. Einige junge Männer klatschten in die Hände und riefen: „Piano, Piano!“ Rasch verbreitete sich das Gerücht, ein paar Ausländer hätten Instrumente mitgebracht. Der legendäre Buschfunk tat ein Übriges, so dass wir schon beim Aufbau immer wieder Gruppen von Interessierten hatten, die uns über die Schulter blicken wollten. Mit Euro-Paletten, die wir uns von einem der Restaurants in der afghanischen Straße geliehen hatten, errichteten wir eine kleine, aber effektive Bühne am Rande eines größeren Platzes am Ende der Straße.

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Die Tatsache, dass wir ein elektrisches Piano mitgebracht hatten, stellte uns vor eine Herausforderung. Im Gegensatz zu den Saiteninstrumenten und den Trommeln zeigte die Anwesenheit unseres Pianisten wenig Effekt – so lange wir auf den Generator warten mussten, der uns für eine kleine Ölgebühr von einem benachbarten Ladenbesitzer versprochen worden war. Immer wieder kamen junge Männer oder Kinder zu Andreas, um neugierig in die Tasten zu greifen; überrascht über die Stille lachten sie und meinten nicht selten, etwas falsch gemacht zu haben. Andere nutzten die Möglichkeit, unter Ausschluss von Hörern ihrem unerfahrenen, aber nicht weniger enthusiastischem Spiel vollen Ausdruck zu verleihen.

Nachdem das Klavier wie unser Mikrophon mit Strom zum Leben erweckt worden waren, begann Andreas zu spielen. Die Umstehenden stellten freudig überrascht das Reden ein; ihre Augen wanderten über Andreas konzentriertes Gesicht und seine Hände, die über das Instrument zu fliegen schienen. Einige Gesichter verwandelten sich in ein Lächeln, das Wiedererkennen ebenso wie Überraschung auszudrücken vermochte. Nachdem er die ersten eigenen Stücke angekündigt und gespielt hatte, brach das Eis zwischen Zuhörerschaft und Pianist. Immer mehr Zuhörer trauten sich, Musikwünsche an Andreas zu richten; einige, indem sie ihm den Namen nannten, andere indem sie ihm die Melodie vorsangen – von Nationalhymnen über gegenwärtige Charterfolge bis hin zu orientalischen Klassikern à la Umm Kulthum.

So jedenfalls erzählte man es uns später. Denn Hammed und ich hatten durch die letzten Besorgungen den Beginn des Konzerts verpasst. Auf der Autobahn stehend sahen wir uns an und brachen plötzlich in ein synchrones Lachen aus: „Stell Dir vor, Du organisierst ein Konzert, und gehst dann nicht hin…“ Gut, mit dem „Krieg“ und „keiner geht hin“ ist dieser Spruch irgendwie origineller – aber für uns brachte er die Absurdität unserer eigenen Lage in diesem Moment treffend zum Ausdruck.

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Als wir zurück am Konzertplatz waren, überflutete uns die Freude der Anwesenden. Kinder waren gekommen, die mit Andreas Melodien am Klavier zu üben versuchten. Das Mikrophon ging reihum und wurde von Sängern unterschiedlichen Talents dafür genutzt, endlich mal deutlich die Stimme erheben zu können. Junge Gitarristen versuchten den Gesang zu begleiten. Und das Tamburin wechselte wie alle Rhythmusinstrumente zahlreiche Hände und Herkunftsländer – mal hörte man arabische, mal afghanische, mal afrikanische Rhythmen. Als Hammed damit begann, die Getränke zu verteilen, die wir soeben besorgt hatten, brach endgültig die Stimmung einer großen und ausgelassenen Feier aus.

In diesem Moment bat mich ein älterer Herr darum, die Oud spielen zu dürfen. Wir besorgten ihm einen weißen Plastikstuhl und gaben ihm das Instrument. Mit der Hingabe eines Liebenden ging er daran, das Instrument zu stimmen. Ohne sich von der wachsenden Menschentraube aus der Ruhe bringen zu lassen, brachte er die Stimmen der Saiten in die erforderliche Ordnung. Die Zeit begann still zu stehen. Ein Junge, der eben noch sein Handy ins Mikrophon gehalten hatte, um die Klänge seines Lieblingslieds über den Platz schallen zu lassen, reichte das Mikrophon an den Nachbarn des Oudspielers weiter. Noch während dieser damit beschäftigt war, das Instrument zu stimmen, lockten die vorbereitenden Klänge weitere Zuhörer an.

Als der ältere Herr mit dem Palästinensterschal auf dem Kopf und dem Pflaster auf der Backe daran ging, die ersten Melodien anzustimmen, war kein Halten mehr. Die Menge klatschte und stimmte mit ein, als er kurz darauf zu singen begann. Mit einem Mal war das von Sorgen und Armut gezeichnete Gesicht von einem Strahlen erfüllt, das ich so nur von Musikern kenne: Das Camp schien vergessen, die gefährliche Überfahrt und der Krieg im eigenen Land wich einem Augenblick der vollen Hingabe und Freude. In diesem Moment verstand ich, warum Kultur, warum Musik in Zeiten der größten Not eben kein unnötiges Accessoire ist, auf das man zugunsten wichtigerer Angelegenheiten verzichten kann. Die Freude und das Glück, die uns in diesem Augenblick gemeinsam überkamen, hatte die Gesetze des Dschungels außer Kraft gesetzt und uns als schiere Menschen zurückgelassen.

Der Abschied fiel mir unendlich schwer. Die Bescheidenheit, mit der mir der alte Mann das Instrument reichte, das nun wieder schwieg, als sei nichts gewesen, brachte mich zum Weinen. Andreas, unser Pianist, wirkte trotz der gefrorenen Finger und der tief in die Stirn gezogenen Mütze müde und zufrieden. Wir waren, auf ungleich komfortablerem Weg als die Flüchtlinge, an dieses Ende Europas gereist und hatten Staaten wie Grenzen hinter uns gelassen. Im Dschungel aber überschritten wir, gemeinsam mit seinen Bewohnern, die wichtigste aller Grenzen: jene zwischen den Menschen. Ein größeres Geschenk konnten wir nicht erwarten.

Ich danke allen Beteiligten, die unseren Traum von einem Konzert im Dschungel in der Vorweihnachtszeit möglich gemacht haben: dem Pianisten Andreas Kern, der am Ende so viel mehr war als nur ein Begleiter, unseren Unterstützern aus Berlin, aus Calais und aus dem Dschungel selbst. Ihr habt sichtbar gemacht, was in diesen turbulenten Zeiten nur zu leicht vergessen wird: Dass die Frage von Flucht und Integration nicht alleine eine Frage von Politik und Wirtschaft ist, sondern auch und vielleicht in erster Linie eine Frage der Kultur.

 

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Bilder: Nicolas Flessa

 

Ein Team des Fernsehsenders arte hat uns bei unseren Vorbereitungen begleitet. Der Beitrag ist im Rahmen des arte Journals am Sonntag, den 13. Dezember 2015 ab 19:10 Uhr auf arte zu sehen – und danach noch 7 Tage in der Mediathek des Senders.

Written by Nicolas Flessa

Nicolas Flessa studierte Ägyptologe und Religionswissenschaft. Der Chefredakteur von seinsart drehte Spiel- und Dokumentarfilme und arbeitet heute als freischaffender Autor und Journalist in Berlin.

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