Der Abend unseres zweiten Tages in Calais endet, wo der erste Tag begonnen hat: Im Pub um die Ecke des Hotels, zwischen plüschigen Bänken à la Luis Quatorze und der Live-Musik mäßig begabter, aber überproportional ambitionierter BritPop-Gitarristen auf Interrail-Tour. Das Leben in Calais zerreißt in zwei Welten, die wenig Raum für Berührung, aber viel Platz für Vorurteile lassen. Das dröge Dasein einer in die Jahre gekommenen Seemannsbraut mit Kriegserinnerung versus Lebensgier am Rande der Gesellschaft, sei es aus einem pubertären oder einem überlebensnotwendigen Kampf heraus.
Der Eindruck, mit dem Eintritt ins Camp den Kontinent zu wechseln, hat sich verstärkt. Alle Sinne lecken Blut, kaum öffnet sich die Beifahrertür unter der legendären Autobahnbrücke. Die ersten Atemzüge sind eine Qual. Niemand kann beschreiben, welchen Geruch diese Mischung aus Angst, Kot, Motorenöl und tausendfach verrotteter Hoffnungen und Lebensmittel im Körper des Besuchers auszulösen vermag. Meine Mutter erzählt noch heute, sie erinnere sich an den ersten Tag in Kairo – wegen des Geruchs. Ich bin mir sicher, dasselbe über den Dschungel sagen zu können, vielleicht noch in Jahrzehnten.
Die von Schlamm und Wasser zerfressenen Wege, die sich wie Flussufer durch das Schilf der Buden und Zelte winden, erfordern größte Konzentration; wer nicht mit Gummistiefeln gesegnet ist, hat spätestens nach der zweiten Kreuzung die Wahl zwischen dem Blick auf die Wunder des Dschungels und dem Blick auf den Boden der Tatsachen. Ich rate jedem, sich gegen trockene Füße zu entscheiden. Hinter jedem Gesicht, hinter jeder Plastikplane lauert ein Wunder.
Ich habe keine Flüchtlinge getroffen,
sondern Brüder und Söhne, Schwangere und Händler.
Rasch haben wir die alten Freunde besucht und neue gemacht; ob im Kirchhof, in der Bäckerei oder am Rand einer Latrine. Wo könnte ich besser leben, möchte ich mit Kavafis sagen. Unten sorgt sich das Freudenhaus um die Bedürfnisse des Fleisches. Und da ist die Kirche, die die Sünden vergibt. Und weiter unten liegt das Krankenhaus, wo wir sterben. Der Widerspruch ist die Architektur, die den Dschungel im Innersten zusammenhält: wider die Hoffnungslosigkeit, wider die Angst zu sterben, wider jene, die uns eines Besseren belehren. Alles in diesem Lärm fordert Schweigen.
Mit dem Blick auf die Reisenden und die Alten, die von jeher in diesem Pub ihren Tag beschließen, gebe ich den letzten Rest meiner Hoffnung auf, das Wesen des Rassismus zu ergründen. Um es mit der Pointe eines Witzes aus meiner Kindheit zu illustrieren: „Nein, Papa, die lachen deutsch!“ Was, wenn wir endlich aufhörten, uns über die Geburt zu definieren; sind nicht die Ziele entscheidend für ein Leben – diesseits wie jenseits des Mittelmeers und offenkundig erschreckend verwandt?
Keiner der Menschen, denen wir heute begegnet sind, hat uns danach gefragt, woher wir kommen oder welche Sprache wir sprechen. Niemand bat uns um einen Gefallen, reagierte mit Neid oder Bewunderung, attestierte uns Naivität oder bösen Willen. Der Dschungel, jenes Zeugnis zivilisatorischer Grausamkeit wie zivilisatorischer Größe, degradiert uns alle – zu Menschen, nichts als Menschen. Ich habe keine Flüchtlinge getroffen, sondern Brüder und Söhne, Schwangere und Händler. Ich habe Gerissene getroffen und Nachdenkliche, Musikalische und Banditen. Afrikaner aber habe ich ebenso wenig getroffen wie Asiaten oder Europäer.
Nachtrag: Bei der Abholung des Klaviers für das morgige Konzert spielt Andreas eine Variation über Bach. Sanft gleiten seine Finger über die Tasten, flüstert das gedimmte Instrument ein Testament protestantischer Frömmigkeit in das Ohr unseres Team. Im Nebenzimmer führt die Redakteurin von arte ein Gespräch mit dem Besitzer des Pianos über den Sieg der Front National und die Angst, sich offen für den Dschungel zu engagieren. Da ist sie wieder, diese Identität. Dieses Rechtssein oder Linkssein, dieses die oder wir, dieses Angst oder Lust. Vielleicht ist es Zeit, dass wir alle in den Dschungel gehen. Nicht für unser schlechtes Gewissen und etwas Charity, sondern für eine Lektion in Menschlichkeit.
In Calais sorgt sich das Freudenhaus um die Bedürfnisse des Fleisches. Und da ist die Kirche, die die Sünden vergibt. Und weiter unten liegt der Dschungel, wo wir sterben.
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Bilder: Nicolas Flessa
Ein Team des Fernsehsenders arte hat uns bei unseren Vorbereitungen begleitet. Der Beitrag ist im Rahmen des arte Journals am Sonntag, den 13. Dezember 2015 ab 19:10 Uhr auf arte zu sehen – und danach noch 7 Tage in der Mediathek des Senders.