In meinem Hostelzimmer ist noch ein Bett frei. Die letzten Tage hatte ich Glück. Die Hotelleitung hätte mir einen Zimmernachbarn aufs Auge drücken können. Haben sie aber nicht. Bis heute. Irgendwer liegt da jetzt in dem Bett neben meinem. Hoffentlich hat er mir nichts von meinen Sachen geklaut. Die Person ist sehr dünn und hellhäutig. Und ich glaube, sie hat lange Haare. Hätte auch ein Mädchen sein können, das da neben mir liegt. Aber ich glaube, in diesem Hostel trennen sie die Zimmer nach Geschlechtern.
Als ich am Morgen erwache und meinen Blick auf meinen Zimmernachbarn richte, traue ich meinen Augen nicht. Tarzan lebt. Und er liegt hier neben mir im Bett. Als er merkt, dass ich wach bin und ihn seit einigen Sekunden begutachte, richtet er sich auf, um mich in gebrochenem Englisch zu begrüßen. Tarzan ist sehr höflich. Jakub ist ein neunzehnjähriger Pole. Er stellt sich als Kuba vor. Das ist eine Art Kosename für den dreifaltigen Namen Jakub, wenn man in Polen nach einem Namen sucht. Sein bürgerlicher Name ist Jakub Ciciyk.
Jakub erzählt mir, dass er auf einem Segelschiff bei der französischen Stadt Brest stecken geblieben ist. Mit diesem Schiff wollte er nach London. Durch die Panne will er sich von seinem Ziel aber nicht abbringen lassen. Also kam er per Anhalter und Bus bis hier nach Calais. Jetzt sucht er nach einem Weg, ein günstiges Ticket für die Fähre nach Dover in Großbritannien zu bekommen. Als er mich fragt, ob ich weiß, wie man eine solche Karte für die Fähre bekommt, erkläre ich es ihm schnell. Dank Mark, dem Ungarn, war ich bezüglich Fähren aus Calais bestens informiert.
Ich erzähle ich ihm aber auch ein paar Sachen aus dem Dschungel. Wenn er schon mal hier ist, dann soll er die Möglichkeit haben, sich ein Bild von dem Camp zu machen. Kuba bittet mich, ihn einmal mitzunehmen. Das wäre eine Bereicherung für seine Lebenserfahrung, sagt er mir. Ich mag Kuba. Und ich habe viel Respekt vor so jungen Menschen, die alleine reisen. Warum soll er mich nicht in das Camp begleiten und sich ein wenig ansehen, was es dort so alles gibt?
Man hat ungefähr 80 Sommer in einer Lebenszeit.
Bis man das gelernt hat, sind mindestens 20 davon verloren.
(Alex Mechow, Fotograf)
Auf dem Weg in den Dschungel erzählt mir Jakub, dass seine Eltern beide Rechtsanwälte sind. Er selbst hat aber keine Lust auf eine solche Arbeit. Er würde gerne etwas in Richtung Entwicklungshilfe machen. Während er das sagt, blitzt seine Zahnspange in der Sonne auf und man sieht seine schönen weißen Zähne. Solche Jungs kommen immer aus geordneten Familien. Ich bin mir nicht sicher, ob er das gleich ertragen wird, was ihm hier in diesem Camp begegnen wird. Doch eins ist sicher: Die gewünschte Portion Lebenserfahrung ist ihm sicher. Wenn ein Mann von Bastis Format hier in Tränen ausbricht, werde ich diesen jungen Mann heute Abend mit einer zerfetzten Seele aus dem Camp tragen müssen.
Eine Stunde später gehen Kuba und ich durch den Haupteingang ins Camp. Ich zeige Kuba die Restaurants und Kaufläden der Einwohner und erkläre ihm die wenigen Regeln, die es hier im Dschungel gibt. Folglich bindet er seine Kamera unter seine Jacke und fotografiert erst, nachdem er ausdrücklich die Erlaubnis dafür bekommen hat.
Anders als erwartet geht der Junge richtig auf, während er all die Menschen kennenlernt und Dinge fotografiert, die ihm ungewöhnlich erscheinen: Hütten, Müll, Wasserstelle, Zäune, etc. Vorne am Jules Ferry-Zentrum zeige ich ihm, dass gleich Menschen zur Essenausgabe über den großen Zaun klettern werden. Jeden Tag, wenn das Essen fertig ist, stehen hier etwa 1000 Jungen und Männer in der Reihe vor dem großen eisernen Eingang. Ich habe das schon oft mitbekommen, wenn sie in aller Dramatik über diesen Zaun hechten, um an Essen oder eine der Duschen zu kommen. Mir ist aber bisher noch nie aufgefallen, dass in der ersten Reihe nur junge Männer stehen: Erst wegen Jakub, um den ich mir wegen seiner dünnen und zerbrechlichen Gestalt Sorgen mache, fällt mir dieser Missstand auf.
Wegen ihm denke ich an all die Frauen, Verletzen und Kinder, die immer später kommen, weil sie nicht an den großen und kräftigen Kerlen unter den Flüchtlingen vorbeikommen. Wie Kuba wahrscheinlich. Das verdirbt mir ein wenig die Laune. Also gehe ich in Richtung des Eingangs zu einem der Volontäre, um zu fragen, ob ich mit einem Verantwortlichen sprechen kann. Ich würde gerne vorschlagen, dass man zwei separate Schlangen dort anweisen soll. Eine für gesunde Menschen und eine für Menschen mit Handycap. Das kenne ich aus der Traglufthalle in Berlin, in die ich manchmal gehe, um dort zu übersetzen. Dort bilden die Mitarbeiter immer eine gerade und ordentliche Schlange, bevor sie das erste Essen herausgeben. Hier muss das doch auch gehen. Man teilt mir mit, dass ich nicht ins Jules Ferry reindarf, weil es nur für Flüchtlinge und Volontäre ist. Aber man würde mein Anliegen weitergeben. Das reicht mir vorerst. Morgen frage ich erneut danach.
Als wir uns umdrehen, um weiter durch das sudanesische Viertel zu spazieren, sehe ich ein Reiterpaar. Ich schalte sofort und beginne zu laufen. Kuba folgt mir einfach, ohne zu wissen, was ich vorhabe. Irgendwer hat mal erwähnt, dass hier in der Nähe ein Polo-Club ist. Das müssen ein paar der Spieler sein. Diese Typen reiten hier mal eben im Dschungel aus, als wären sie auf einer Safari. Aber nicht, solange ich hier bin. Die Menschen, die hier leben, sind zum Teil meine Freunde. Und jeder, der hier mehr als eine Woche gelebt hat, ist ein Teil von diesem Ding, das man den Dschungel nennt.
Das ist bestimmt so ein Waldschrat, der ungemütlich werden kann, wenn irgendein Kanake in Begleitung von Tarzan seine Frau verarscht.
Ich werde die Reiter jetzt fotografieren und filmen. Vielleicht nimmt es ja die BILD-Zeitung. Bestimmt gibt es sowas auch in Frankreich. Vielleicht ist einer der Reiter auch ein Promi oder sowas. Strafe muss sein. Als ich den Reitern näherkomme, zücke ich meine Kamera und schraube rennend das Weitwinkelobjektiv drauf. Als sie dies sehen, reiten sie mit ihren Pferden durch die Büsche ins Weite. Kuba kommt hinterher gehächelt und fragt, was denn los sei. Ich erkläre ihm die Sache mit den Reitern, während ich versuche, meinen Ärger herunterzuschlucken. Was für ehrenlose Menschen das nur sind.
Ich muss wieder an Paul denken, der mir davon erzählt hat, dass da oben an der Lichtung manchmal ein Bulli mit jungen Männern anhält. Dort stellen sich die Flüchtlinge auf die Anhöhe, um besseren Empfang zu haben, wenn sie ihre Familien in den Heimatländern über Whattsapp oder Viber kontaktieren. Wenn der Bulli kommt, steigen immer ein paar Jungs aus und knüppeln die Flüchtlinge grundlos zusammen. Um einmal so eine Ungerechtigkeit unterbinden zu können, würde ich alles geben. Stark gegen schwach muss man immer unterbinden; egal mit welchen Mitteln. Meine Laune wird noch schlechter bei diesem Gedanken.
Wir gehen an einem Wohnhaus direkt am Camp vorbei. Ich habe noch nie darauf geachtet, obwohl es am Feldweg zum sudanesischen Viertel liegt und ich schon mindestens fünfzig Mal daran vorbeigegangen sein muss. Ein altes Steinhaus mit einem Vorhof, auf dem ein paar Renaults geparkt sind. Das Ganze ist selbstverständlich umzäunt. Ich tue das, was hier wahrscheinlich lange keiner mehr gemacht hat: Ich betätige die Klingel vorne am Zaun. Eine rothaarige Frau kommt aus dem Haus geeilt. Bevor sie reden kann, grüße ich sie auf Deutsch, damit sie sieht, dass ich weder Journalist bin noch ein Flüchtling. Ich wolle lediglich ein Glas Wasser.
Als sie vor mir steht, sehe ich sie mir genauer an. Sie hat einen sehr großen Kopf mit aufgemalten Augenbrauen. Das irritiert mich ein wenig, während ich beginne, sie ein wenig über ihre neuen „Nachbarn“ auszufragen. Berenice, so heißt sie, ist Anfang 50. Sie erzählt mir, dass sie sich vor sieben Jahren dieses Haus zusammen mit ihrem Freund gekauft hat. Damals gab es dieses Camp noch nicht. Man habe schon neun Mal versucht, in ihr Haus einzubrechen. Sie habe Angst vor dem Gesindel.
Heimlich hole ich mein Handy aus der Tasche und tue so, als würde ich jemanden anrufen. Ich schalte die Videofunktion meiner Kamera ein und nehme jede Menge rechtsextremes Gedankengut à la Marine Le Pen auf. Nur auf intellektueller Ebene ist Berenice eher ein paar Stufen tiefer angesiedelt. Sie bezeichnet die Menschen aus dem Camp als „schlimmer als Tiere“. Mitgefühl oder Verständnis für die Situation kann sie in keiner Weise aufbringen. Das Grundstück, auf welchem sie ihrem Lebensabend verbringen will, sei durch das Camp wertlos geworden.
Kuba schiebt ihr noch einen Spruch von der Seite rein. Er fragt sie, warum sie nicht ein Unternehmen auf ihrem großen Grundstück gründet und den Flüchtlingen Arbeit gibt. Ich pflichte ihm bei. Bevor Berenice antworten kann, verabschieden wir uns. Am Fenster im Haus zuckt schon seit einiger Zeit die Gardine. Das ist bestimmt so ein Waldschrat, der ungemütlich werden kann, wenn irgendein Kanake in Begleitung von Tarzan seine Frau verarscht. Ich gebe Berenice zum Abschied zu bedenken, dass die Katze, die sich im Innenhof ihres Haus gerade in der Sonne räkelt, wahrscheinlich mehr Rechte hat als ihre Nachbarn. Und deswegen wünsche ich ihr, dass die Nachbarschaft noch möglichst lange aufrechterhalten wird.
Wird man von einer Handvoll Beeren satt?
Ein paar hundert Meter weiter kommen wir an das Tor zum Nachbarhaus. Hier hat mal ein Flüchtling den stromgeladenen Zaun überwunden, um ein Huhn zu stehlen. Der hat aber nicht mit dem Schäferhund gerechnet, der ihn empfindlich gebissen hat. Als wir weitergehen, sehen wir einen sudanesischen Mann in den Büschen knien. Beim Näherkommen stelle ich fest, dass er dabei ist, ein paar Himbeeren zu pflücken. Lächelnd frage ich ihn, ob ich eine der Beeren abbekomme. Der Mann schaut mich verstört an und zieht seine kleine Ernte näher an seinen Bauch. „Ich weiß nicht, ob es für uns beide reicht, Bruder,“ stammelt er in meine Richtung. Er meint das ernst. Kann es sein, dass dieser Mann riesigen Hunger hat und versucht, diesen Hunger mit Himbeeren zu stillen? Wird man von einer Handvoll Beeren satt?
Mir wird schwindelig. Ich bereue es, diesen Mann angesprochen zu haben. Ich habe aber auch nicht den Mut, ihn mit ins Restaurant zu nehmen. Bestimmt ist es nicht richtig, ihn noch mehr zu demütigen. Vielleicht halten mich einige der Leser für feige, weil sie denken, dass es doch nur ein kurzer Wortwechsel gewesen ist. Das lass ich mir dann gerne sagen. Weil ich weiß, dass dieser Mann auch eine Geschichte hat. Vielleicht hat er eine Familie, die auf die Beeren warten. Oder noch viel schlimmer: Vielleicht hat er sie nicht dabei. Wer mutig ist, der soll sich an diesen Strauch stellen und ihn nach all dem fragen. Wer kann schon all diese Schicksale aufsaugen? Das kann kein Mensch. Weder ich noch Tarzan noch jemand anderes kann sich die ganze Zeit über das bittere Schicksal live und in Farbe geben. Also nehme ich Tarzan beiseite und mache mich mit einem Gruß auf meinen Weg.
Wir biegen rechts ein in Richtung Kirche. Dabei kommen wir an der iranischen Siedlung vorbei. Die Menschen dort sind sehr freundlich. Sie sind aber auch sehr unter sich. Im letzten Gespräch zusammen mit Jasper und Volkan haben mir manche im Vertrauen erzählt, warum sie auf keinen Fall ein Foto wollen. Todesstrafe in der Heimat. Wofür auch immer. Manche haben es sogar schriftlich dabei. Warum bekommen solche Leute kein Asyl? Sie haben für eine Sache, die in Europa nicht illegal ist, die Todesstrafe bekommen. Welchen Grund für Asyl gibt es, der dringender ist?
Masut, einer der Iraner zeigt uns Dokumente, in denen er belegen kann, dass er für die britische Armee übersetzt hat. Was man ihm dafür angetan wurde, zeigt er uns auch. Die Briten lassen ihn nicht rein. Obwohl ihn ein Offizier aus dem Battalion, dem er geholfen hat, in Großbritannien unterstützen will, lehnen sie Masud Asylgesuch ab. Ich wünsche, ich könnte mehr für Masut und seine Freunde tun als ihnen zu sagen, dass die meisten Iraner, die ich in Deutschland kenne, erfolgreich sind und sich sehr um ihre Landsleute sorgen. Sie mögen doch mit nach Deutschland kommen. Aber sie lehnen ab. Alle!
Die Iraner laden uns zum Essen und auf einen Tee ein. Kuba sieht mich komisch an, weil der Teekessel auf der Feuerstelle voller Ruß ist. Ich beruhige ihn, dass es normal sei, dies erst mal als ungewöhnlich zu empfinden. Ich habe da schon oft von getrunken. Und mein Magen ist immer noch stabil. Den Tee nehmen wir an; auf das Essen verzichten wir. Obwohl es wirklich appetitlich aussah. Ich habe das über Kubas Kopf hinweg entschieden, weil ich nicht weiß, wie viel es die Männer gekostet haben mag, uns einzuladen. Zwei Mahlzeiten, die wir mit ihnen eingenommen hätten, haben in mancher Geschichte hier im Camp schon einen Unterschied gemacht.
Wir gehen weiter zur Kirche, wo Jakub voller Ehrfurcht, wie alle anderen zuvor, seine Schuhe vor dem Eingang auszieht und drinnen in der Kirche Fotos macht. Bei den Afghanen vorbeigekommen, treffe ich Gasi, den Albaner. Der ist wie immer sehr freundlich. Er hat mir hier schon in sechs Sprachen einen großen Teil des Camps erklärt. Und er bekommt alles, was man sich nur wünschen mag: Ob afghanisches Marihuana ist, eine Dose Bier zum einheimischen Preis von einem Euro oder Bilder zu einer exklusiven Story mit Helikopter über den Camp.
Gasi bekommt immer alles mit. Er lebt als einziger Albaner im Camp, mitten zwischen dem afghanischen und dem sudanesischen Viertel. Er schläft dort in einem Zweimann-Zelt, das man in jedem Outdoorladen bekommen kann. Als Gasi mich über meinen Begleiter fragt, wer er denn sei, sehe ich, wie Tarzan mittlerweile mit zwanzig afghanischen Jungs Volleyball spielt. Das gefällt mir sehr. Er ist frei. Frei von den Wünschen und Zwängen seiner Eltern. Der einzige Druck, der ihn hier im Camp irgendwie erreichen kann, ist der Druck seiner Zahnspange.
Wir gehen weiter zu den Punkern. Es gibt hier Punker aus Italien und aus Frankreich. Mit denen habe ich mich immer wieder kurz ausgetauscht. Die haben mir sogar gesagt, dass die Punker aus meiner Heimatstadt von der Osnabrücker Gruppe „No-Lager“ auch schon hier waren. Das machte mich sehr stolz. Unsere Punker waren in Osnabrück immer sofort zur Stelle, wenns irgendwo gebrannt hat oder brennen sollte.
An dem Wohnwagen der Punker fällt mir ein Schild auf, das kurioser nicht sein kann. Wenn man das fotografieren will, muss man einen Zehner bezahlen. Ich darf es umsonst aufnehmen. Es ist mir aber mehr als zehn Euro wert. Viele meiner Freunde würden das feiern, wie die Punker hier zur Stelle sind.
In der Dämmerung nehme ich Kuba zur Seite und frage ihn, ob er jemals mit einem Tag wie heute gerechnet hätte, als er sich heute früh die Zähne unter der Dusche geputzt hatte. Kuba lacht und umarmt mich dankend. Ich glaube aber, dass ich eher Kuba danken muss. Durch ihn hatte ich die Gelegenheit, die ganzen Sachen hier im Camp ein wenig weiterzugeben. Er hat mir durch sein Zuhören viel Frust und Redebedarf ausgeglichen. Auf dem Weg ins Hostel tauschen wir unseren Facebook-Kontakt aus, um in Kontakt zu bleiben. Tarzan hat seinem Namen alle Ehre gemacht und den Dschungel erobert.
Bilder: Hammed Khamis
Hier geht es zurück zu Tag 9: Atem, der das Leben nimmt
Hier geht es weiter zu Tag 11: Abschied nehmen