Vielsprachigkeit ist kein exotisches Phänomen. Im Gegenteil. Weltweit betrachtet gibt es eine größere Anzahl mehrsprachiger als einsprachiger Menschen. Wenn in Europa nun darum gerungen wird, Kinder früher mit Fremdsprachen vertraut zu machen, sollte nicht nur auf Institutionen vertraut und die berufliche Qualifikation in den Fokus des Spracherwerbs gestellt werden.
Historisch betrachtet ist individuelle Mehrsprachigkeit fast immer das Ergebnis frühkindlicher Praxis in einem gemischtsprachigen Umfeld. Eine Erinnerung an das Alexandria des frühen 20. Jahrhunderts mag als anschauliches Beispiel für die Umstände dieses beiläufigen Spracherwerbs dienen: „Die Kinder gehen (…) in eine französische Schule. So wird französisch für die Mädchen die erste Sprache, in der sie lesen und schreiben lernen. Zu Hause sprechen sie italienisch. (…) Nebenan leben griechische Nachbarn. So wird auch griechisch ganz selbstverständlich eine Sprache der Kinder. Arabisch, die Sprache der Ägypter, lernen sie nur vom Personal.“ (zitiert nach: „Von hier bis Alexandria! Nach Erinnerungen der Marie-Luise Nagel“)
Der koloniale Beigeschmack dieser Schilderung ist nicht ganz zufällig. Die im Nachhinein von zahlreichen westlichen wie nahöstlichen Autoren gepriesene Mehrsprachigkeit der europäisch dominierten Städte rund ums östliche und südliche Mittelmeer waren nicht die Folge eines historisch gewachsenen Pluralismus, sondern europäischer Expansionspolitik. Zugleich war sie fruchtbarer Nährboden einer gelebten Multikulturalität, die in der Gegenwart fast unwirklich scheint. Persönlichkeiten wie Dalida, die als eine in Kairo geborene Tochter italienischer Einwanderer nach ihrer Wahl zur Miss Egypt Karriere als französische Sängerin in Paris machen und arabischsprachige Rollen in den Filmen ägyptischer Regisseure mit libanesisch-griechischer Abstammung spielen konnte, scheinen zum schillernden Tableau einer untergegangenen Welt zu gehören.
Denn obwohl auch in Europa durch Flucht und Migration eine andauernde Diversifizierung der hiesigen Populationen zu verzeichnen ist, bleibt es in den meisten Fällen bei einer sogenannten territorialen Mehrsprachigkeit. In vielen Fällen ist dieses Leben nebeneinander statt miteinander das Ergebnis eines schlichten Pragmatismus; wo der Erwerb einer neuen Sprache nicht nötig ist, unterbleibt er. Doch eine tiefere Ursache für die neue sprachliche Enge auf beiden Seiten ist auch ein kultureller Chauvinismus, der nicht allein durch zusätzlichen Sprachunterricht ausgeräumt werden kann. Wo Sprache von den einen als Mittel der Abgrenzung und von den anderen als Mittel der Exzellenz instrumentalisiert wird, bleiben der tiefere Sinn und Nutzen echter Mehrsprachigkeit auf der Strecke.
Sprache ist keine Waffe, die es zu laden gilt; ihre vornehmste Eigenschaft ist es, uns zu verbinden und zu verwandeln, und das ganz nebenbei. Bevor wir also unsere Kinder mit Chinesisch im Kindergarten für den Kampf in einer globalen Wirtschaft rüsten, sollten wir sie dazu befähigen, durch alltägliche Begegnungen mit dem Fremden verbindende Freuden und Interessen zu entdecken. Sprache und Entwicklung sind wechselseitig voneinander abhängig. Diese alte Weisheit galt nicht nur in Alexandria, sie gilt auch heute noch in Chemnitz und Neukölln.
Bild: libellule789
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