Angaangaq ist ein Ältester der Eskimo-Kalaallit aus Westgrönland, der von seinem Volk in den höchsten Rang des Schamanen berufen wurde. Er ist seit vielen Jahren als traditioneller Heiler tätig. Sein Einsatz für Umwelt und indigene Themen führte ihn in über 60 Länder der Welt.
Angaangaq, Dein Volk hat Dich vor neun Jahren zum »Angakkuq«, zum Schamanen höchsten Ranges, ausgerufen. Was sind Deine Aufgaben?
Mein Auftrag ist es, die Zeremonien wiederzubeleben und den Menschen zurückzubringen. Wir begehen kaum noch Rituale, in denen wir uns wirklich mit unseren Wurzeln und unserer Seele verbinden. Oft werden auch religiöse Rituale nur heruntergebetet, ohne ihren wirklichen Sinn zu kennen oder eine Verbindung zu uns selbst herzustellen. Darüber hinaus gehört es zu meinen Aufgaben, das Eis im Herzen der Menschen schmelzen zu lassen. Während eines Vortrags, den ich an einer amerikanischen Universität hielt, sagte ich den Professoren, wie froh ich darüber sei, dass sie ihren Studenten beibringen würden, ihr Wissen weise anzuwenden. Sie erwiderten, dass sie genau das nicht tun könnten. Ihre Aufgabe sei alleine, sicherzustellen, dass die Studenten die Prüfungen bestünden. So ist es in ganz Europa und Nordamerika. Deswegen gaben mir meine Leute zu Hause den Auftrag, den Menschen dabei zu helfen, das Eis in ihren Herzen schmelzen zu lassen, die Trennung zwischen Herz und Kopf wieder aufzuheben, denn nur dann können sie sich verändern und anfangen, ihr Wissen weise und vernünftig einzusetzen
Wann wurdest Du zum Schamanen?
Es begann durch meine Großmutter. Sie sah etwas in mir, als ich Kind war, und sagte immer »Angaangaq hat es!« Ich wusste nicht, was sie damit meinte, ich sah genauso aus wie jeder andere und ich wollte auch nicht anders sein. Doch meine Großmutter bildete mich aus, und fast 58 Jahre später beendete ich dann meine Ausbildung.
58 Jahre ist aber eine lange Lehrlingszeit!
Ja, ich bin vom Norden, wo alles viel langsamer vonstatten geht. Ich war eben jemand, der sehr langsam gelernt hat. (lacht). Aber nachdem ich dann fertig war, gab es ein großes Essen in der Familie und ich erhielt ein Geschenk. Indem ich das Geschenk annahm, akzeptierte ich meine Verantwortung als Schamane meiner Familie. Daraus entwickelte sich schnell mehr.
Jetzt bist Du ein Botschafter für Dein Volk?
Nein, kein Botschafter. Ich bin einer der Ältesten für mein Volk. (Anm. der Autorin: »Ältester« ist ein Rang, in den man berufen wird, die Ältesten bilden eine Art »Rat der Weisen«). So unglaublich viele Menschen schreiben mir, stellen mir Fragen über Fragen, und es gehört in meinen Verantwortungsbereich, mit ihnen zu sprechen. Manchmal kommen sie auch nur zu mir, um mich zu umarmen und dann zu weinen. Manchmal sagen sie gar nichts, dann wieder sprechen sie wie ein Wasserfall und schütten mir ihr Herz aus. Und ich berühre sie in ihrem Herzen, das ist meine Aufgabe.
Grönländische Winter können bis zu minus 50 Grad kalt werden und die Polarnacht hält wochenlang an. Wie ist es, in einer solchen Kälte und Dunkelheit aufzuwachsen?
Wenn die Menschen heute Depressionen haben, gehen sie zum Arzt und lassen sich etwas dagegen verschreiben. Bei uns war das ganz anderes. Als ich aufwuchs, hatten wir in Grönland noch kein Telefon, keine Zeitungen und keinen Strom. Für uns war der Winter, die dunkle Zeit, die Zeit der Geschichten. Geschichten über unser Volk, unsere Mythen, die wir uns immer wieder erzählten, die gleiche Geschichte hundertmal, solange, bis sie in einem selbst zu leben begann. Inzwischen hat sich das sehr verändert. Kaum einer erzählt die Geschichten noch, die Menschen gehen lieber zum Doktor. Als ob wir die alten Geschichten nicht mehr brauchen würden, weil wir nun modern sein müssen. Bei Euch ist das auch nicht viel anders. Auf diese Weise verlieren wir unser altes Wissen, unsere Märchen und Mythen. Doch die sind so wichtig, weil sie uns mit unseren Wurzeln und unserem Herzen verbinden.
Aber ist es nicht auch wichtig, mit der Zeit zu gehen?
Ja, ist es, aber nicht, indem wir uns von unseren Wurzeln abschneiden. Niemand kann ohne Wurzeln leben. Vermutlich haben viele Menschen Schwierigkeiten, ihre Wurzeln überhaupt zu spüren. Überall auf der Welt, Michelle. Weißt Du, wie viel Krieg es zurzeit auf der Erde gibt? Niemand hat auch nur irgendetwas aus der Vergangenheit gelernt. Im Jahre 2015 glauben wir noch immer, dass wir Frieden erzeugen können, indem wir andere töten. Wusstest Du, dass Grönland das einzige Land der Welt ist, in dem es noch nie Krieg gegeben hat? Wir haben noch nicht einmal ein Wort dafür.
Wie habt Ihr das gemacht? Zum Beispiel im Winter, wenn die Nahrung knapp wurde und die Menschen Hunger litten? Durch so etwas kann doch schnell Streit oder Krieg zwischen den Stämmen entstehen.
Weil wir alles gemeinsam taten. Zusammen haben wir im Frühjahr und Sommer gearbeitet, um im Winter genug zu Essen zu haben. Niemand kann das alleine machen. Wir mussten lernen, uns gegenseitig zu helfen, um zu überleben.
Du bist häufig in Deutschland unterwegs, gibst viele Seminare hier, die nur in Deutsch erhältlich sind, aber noch nicht in Englisch. Warum eigentlich?
Meine Bücher sind in viele Sprachen übersetzt worden, doch bei einigen von ihnen wollte ich es absichtlich nicht. Jeder veröffentlicht seine Bücher in Englisch. Ich wollte meine Bücher zuerst in anderen Sprachen zugänglich machen, bevor sie in Englisch erscheinen. Englisch ist nicht die einzige Sprache auf der Welt, und Deutschland ist ein wichtiges Land für mich. Es war ein Deutscher namens Samuel Kleinschmidt, ein Missionar, der unsere grönländische Schriftsprache kreierte, deswegen ist unsere Eskimo-Grammatik auch der deutschen Grammatik so ähnlich. Unsere Verbindung zu Deutschland geht also weit zurück. Abgesehen davon sind die Deutschen besonders an den Ureinwohnern Amerikas interessiert. Und ich bin ein Ureinwohner Amerikas, lebe in Kanada und Grönland, beides Teile von Amerika.
Ich dachte, Grönland gehört zu Dänemark?
Politisch gesehen zählt es zu Dänemark, aber geographisch gehört es zum arktischen Nordamerika. Es gibt nur eine Eskimowelt, wir sind ein großer Stamm, eine Familie, ob in Kanada, Grönland, Alaska, Sibirien oder Nordskandinavien. Es gibt auch nur eine Eskimo-Sprache in diesem Gebiet. Es ist das größte Stammesgebiet der Welt, kein anderer Stamm hat so viel Land: 10 Millionen Quadratkilometer!
Was für eine Bedeutung haben archaische Traditionen, wie Du sie im Rahmen Deiner Tätigkeit ausführst, in der heutigen Zeit?
Erstens: Sie verbinden uns mit unseren Wurzeln. Zweitens: Die Zeremonien. Sie bringen das Lächeln in unsere Herzen. Meine Mutter sagte immer: Du kannst lächeln – oder Du kannst aus Deinem Herzen heraus lächeln. Das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Viele Menschen haben vergessen, wie es ist, aus dem Herzen heraus zu lächeln. Wir sind Experten darin geworden, Dinge komplex zu machen. Doch die wirklich essentiellen Dinge im Leben sind sehr, sehr einfach. Es ist so einfach, nach dem Herzen zu schauen und darin zu lesen, aber wir tun es nicht. Wir lesen in Magazinen und schauen auf die Titelblätter. Wenn wir ein schönes Mädchen sehen wollen, schauen wir uns Werbung an, statt in ein Herz zu blicken.
Anfang des Monats fand in Paris die bislang größte und dem Vernehmen nach erfolgreichste Weltklimakonferenz statt. Wie beurteilst Du den Klimawechsel, den Ihr in Grönland ja unmittelbar miterlebt?
Das Eis schmilzt. Und das wird große Auswirkungen auf die gesamte Erde haben. Das Wetter verändert sich überall, und zwar zum Schlechten hin.
Du sprichst von Wirbelstürmen, plötzlichen Wetterumschwüngen und Naturkatastrophen?
Richtig. Alle sprechen über das Wetter und das schmelzende Eis. Doch niemand spricht davon, was in uns Menschen geschieht. Wir reden immer nur über die Geschehnisse in der materiellen Welt, aber nicht über die spirituelle Bedeutung der Eisschmelze. Wie kann man nur sein Herz von seinem Geist abtrennen, Michelle? Niemand darf das tun, noch nicht einmal die Wissenschaftler! Außer dem Wetter verändert sich auch der Meeresspiegel. Das bedeutet, dass weite Teile von Ländern, Küstenlandschaften und Inseln unter Wasser liegen werden. Die Gletscher der Berge werden schmelzen und die Flüsse austrocknen, denn sie werden von den Gletschern gespeist. Kannst du Dir vorstellen, dass Eure Elbe, die Donau oder der Rhein nur noch trockene Flussbetten sind? Denn genau das wird passieren. Wenn die Flüsse austrocknen, wo kommt dann das Trinkwasser in vielen Staaten her?
Was sollten wir Deiner Meinung nach dagegen tun?
Das ist ja gerade die Sache: wir können nichts mehr dagegen tun. Die Eisschmelze ist nicht mehr aufzuhalten. Das ist Tatsache. Wir Eskimos versuchen schon seit 50 Jahren, die Menschheit auf den Klimawandel aufmerksam zu machen. Niemand hat zugehört. Jetzt ist es zu spät. Die einzige Veränderung, die wir jetzt noch bewirken können, ist die Einstellung der Menschen. Wir müssen lernen, anders zu leben, uns mit den Folgen unseres Tuns auseinanderzusetzen, Vorsorge für die Zukunft treffen und uns an die neue Situation anpassen.
Wie möchtest Du die Einstellung der Leute verändern?
Es ist wichtig, mit den Menschen zu arbeiten, die Menschen in ihrer eigenen Schönheit, in der Zusammenarbeit von Herz und Verstand zu unterrichten und auszubilden. Es ist eine schöne Aufgabe. Und wenn ich nur einen einzigen von all den Menschen auf dieser Welt erreicht habe, dann habe ich meine Arbeit gemacht. Dann ist es das wert.
Du hast schon mehrmals vor den Vereinten Nationen gesprochen, um auf die Situation Deines Volkes und den Klimawandel aufmerksam zu machen.
Ja, richtig, aber ich gehe nicht mehr dorthin, denn es ändert nichts. 1977 redete ich zum ersten Mal vor den Vereinten Nationen, das war vor über 30 Jahren, und man hätte noch vieles tun können. Nichts ist passiert. Ich habe 25 Jahre lang versucht, die Menschen zu erreichen, war auf der ganzen Welt unterwegs. Ich glaube, es waren 64 Länder, in denen ich über den Klimawandel gesprochen habe, darüber, dass das Eis im Herzen der Menschen schmelzen muss und darüber, wie wichtig unsere Wurzeln und die alten Rituale für uns sind. Ich spreche immer über das Gleiche, und die Leute sind begeistert. Ich erinnere mich noch gut an einen Vortrag in Rio de Janeiro – die Leute klatschten frenetisch, standen von den Stühlen auf. Aber niemand hat sich geändert.
Aber es gibt doch Menschen, die sich ändern, oder? Was ist mit denen, die zu Deinen Workshops kommen?
Du hast Recht, es gibt diese Menschen. Tatsächlich wollen sich sogar die meisten Menschen ändern, aber sie haben dann doch zu viel Angst davor. Man braucht Mut und Stärke, um sich zu ändern, die meisten Menschen besitzen diesen Mut nicht. Ich möchte mit meiner schamanischen Arbeit auf die nächste Ebene gehen, also musste ich meine Herangehensweise überdenken. Mir geht es inzwischen darum, mit meiner Arbeit den Mut in den Menschen zu wecken, damit sie in der Lage sind, Veränderungen in ihrem Leben vorzunehmen und ihr Wissen weise einzusetzen.
Wenn Du zwei Wünsche frei hättest, einen für Dich und einen für die Menschheit – was für Wünsche wären das?
Mein größter Wunsch ist es, Menschen in ihrer Seele so berühren und erwecken zu können, dass sie anfangen, ihre wahre Schönheit zu erkennen, dass sie lernen, sich selbst zu lieben. Man kann anderen Menschen erst dann vertrauen, wenn man sich selbst vertraut. Und ich kann niemanden lieben, wenn ich nicht zuvor gelernt habe, mich selbst zu lieben. Wenn das mehr und mehr geschieht, dann wird sich das Bewusstsein ändern, es wird eine neue Stufe erreichen. Eine Person reicht, um das Bewusstsein von vielen anderen zu ändern, von der ganzen Welt, eine einzige Person. Ich wünsche mir, diese Person für viele Menschen sein zu können.
Angaangaq, herzlichen Dank für das Gespräch!
Bild: www.icewisdom.com