Am Tag von Donald Trumps Amtseinführung herrschten in Prag Kälte und Hochdruckwetter. Obwohl der Tag merkwürdig heiter war, war es für mich eine surreale Erfahrung. Denn es kam mir vor, als hätte ich die apokalyptischen Bilder des Streifens Generation Zero von Stephen Bannon, dem ehemaligen Leiter des Nachrichtenportals „Breitbart“, Filmemacher und jetzt Donald Trumps Chefstrategen, gesehen: Dunkle Sturmwolken ziehen auf, gläserne Bürotürme stürzen ein, ganze Straßenzüge stehen in Flammen – das alles von ergreifend dramatischer Musik untermalt. „Es muss Phasen geben, in denen wir uns des Alten entledigen“, war der Kommentar von einem Sprecher zu hören, der die Szenen der Verwüstung schilderte.
Am selben Tag traf ich mich mit John Damon-Barry, einem befreundeten Journalisten, den ich seit Jahren kannte. John war in Prag, um im Institute of International Relations Nachforschungen zum Thema Kriminalität in Osteuropa anzustellen. Ich war damals in der Stadt, um einen Bericht über Yevgeniy Nakulin, einen vermeintlichen russischen Hacker, zu schreiben, der derzeit von den tschechischen Behörden in Gewahrsam gehalten wird. Ihm wird vorgeworfen, die Computer Netzwerke LinkedIn, Dropbox und Formspring gehackt zu haben – ein Verbrechen, das möglicherweise mit dem Diebstahl von E-Mails aus dem Democratic National Committee (DNC) in Verbindung steht. Die Amerikaner wollen, dass er an die USA ausgeliefert wird, um ihn diesbezüglich weiter zu vernehmen. Die Russen wollen seiner auch habhaft werden, um so eine Vernehmung selbstverständlich zu verhindern. Unser gemeinsames Treffen hat sich unter diesen Umständen ziemlich spontan ergeben.
Das Konzept einer post-westlichen Weltordnung wird derzeit nicht nur von der russischen Regierung in Umlauf gesetzt.
Die Kälte verschlug uns ins U Medvidku in der Prager Altstadt, ein traditionelles Restaurant und eine alte Brauerei, die auf 1466 zurückgeht. Wir hatten einander seit langem nicht mehr gesehen und kamen sehr schnell auf eine Menge Themen zu sprechen, die unsere Arbeit betreffen. Dann während des Essens nahm unser Gespräch auf einmal eine zwar unerwartete, doch durchaus interessante Wendung. Ich erwähnte das Konzept einer „post-westlichen“ Weltordnung, das neuerdings sowohl von der russischen Regierung als auch von den westlichen Medien in Umlauf gesetzt wurde, und fragte Damon-Barry, was er dazu meinte. Er wies darauf hin, dass das Konzept gar nicht so neu sei. Vielmehr sei es – allerdings, in gebrochener Linie – zeitweise seit dem 16. Jahrhundert, mit Sicherheit seit dem 19., ein fester Bestandteil des russischen Selbstverständnisses. Viele meinen, dass die Idee des „Dritten Roms“ der Stein von Rosetta zum Verständnis der russischen nationalen Psychologie sei. Das Dritte Rom stelle einen Schlüsselmoment dar, gleichsam einen Scheideweg der Geschichte mit einer Vielzahl an geschichtlichen Möglichkeiten, von denen eine gewählt und dann konsequenterweise verfolgt wird – bis in die gegenwärtige Zeit.
Damon-Barry erzählte, es sei ein russischer Mönch namens Filofei von Pskow gewesen, der im 16. Jahrhundert das Dritte Rom zum ersten Mal zum Ausdruck gebracht hatte. Filofei erklärte in seinem Schreiben, dass der Moskauer Großfürst dazu verpflichtet sei, die Kirche zu beschützen, weil dieser der Herrscher des Dritten Roms sei. Wenn er seiner Pflicht nicht nachkäme, dann könnte die Menschheit nicht gerettet werden. Denn „prophetischen Büchern“ zufolge, die Filofei nicht näher identifizierte, werde es kein „Viertes Rom“ mehr geben. Damon-Barry erwähnte, dass die Idee des „Dritten Roms“ hauptsächlich unter dem Klerus zirkulierte. Die Altgläubigen, die sich im 17. Jahrhundert von der russischen Orthodoxie trennten, adoptierten das Dritte Rom mit der Behauptung, dass ihre Gemeinde allein das „Dritte Rom“ darstellte.
Asien ist für Russland ein Alliierter im Kampf gegen einen versteinerten, moralisch dekadenten Westen.
Im 19. Jahrhundert wurden Filofeis Briefe zum ersten Mal veröffentlicht. Russische Historiker interpretierten das Motiv des Dritten Roms als die Bestätigung einer „expansionistischen“ Ideologie“. Russland sei das Dritte und „Endgültige“ Rom und daher dazu prädestiniert, eine göttliche, messianische Mission zu erfüllen.
Ich fragte Damon-Barry, ob die ‚prophetischen‘ Informationen, auf die sich Filofei stützte, doch irgendwie unbegründet hätten sein können. Er sagte, das sei nicht leicht zu erklären. Denn viele Elemente der russischen Geistesgeschichte seien über die Jahrhunderte hinweg unter die Wahrnehmbarkeitsschwelle gesunken. Bestenfalls sehe man nur die Spitze eines Eisberges. Aber Russland habe schon immer Asien betrachtet als Alliierten im Kampf gegen einen versteinerten, moralisch dekadenten Westen. Er erwähnte, dass für die Eurasier des 19. Jahrhunderts „Europa“ ein Synonym für Stagnation und eine alte Ordnung sei. „Asien-Turan“ hingegen wurde zum Symbol für den chaotischen Gärstoff, den man notwendigerweise brauchte, um die Tyrannei des Westens niederzureißen und eine neue Ordnung zu erschaffen, die von nun an auf den Prinzipien einer neuen Pravda (Wahrheit und Gerechtigkeit) aufgebaut werden soll.
Alexander Herzen, ein russischer Schriftsteller und Publizist des 19. Jahrhunderts, schrieb, dass die Weltrevolution nicht in Europa stattfinden würde, sondern im turanischen Osten, dessen Menschen sich eines Tages gegen den „teutonisch-lateinischen“ Westen auflehnen und eine neue Welt gestalten würden. Der russische Dichter Alexander Blok ging so weit, in seinem Hass-Gedicht „Die Skythen“ den Kollaps Europas durch den vereinigten Angriff von Russen und Mongolen zu prophezeien:
Mit unseren schmalgeschlitzten Augen! …
Wir bleiben reglos, wenn des Hunnen Gier
Der Leichen Taschen massenweise fleddert,
Die Städte niederbrennt, mit Pferden Kirchen stürmt…
Mir wurde das alles zu viel. Ich bat Damon-Barry aufzuhören und legte ihm nahe, er könnte sich ruhig mit Stephen Bannon, Donald Trumps Chefstrategen, zusammentun und gemeinsam Lobgesänge über den Untergang des Westens anstimmen.
Mein Kommentar brachte Damon-Barry nicht im Geringsten durcheinander. Im Gegenteil: Er fuhr munter fort und erklärte, am brisantesten sei eine Mischung von Vorstellungen des buddhistischen Kalachakra-Tantra, Shambhala-Mythos und Legenden von der Entstehung eines östlichen Reiches. Kala bedeutet Zeit, Tod und Zerstörung. In diesem Kontext heisst Chakra dann das Rad der Zerstörung. Im tibetischen Buddhismus ist Shambhala bekannt als mystisches Königreich, das in Zentralasien verborgen ist. Nach den Lehren des Lamaismus geht es beim Kalachakra-Tantra um einen apokalyptischen Untergang und eine universelle Erneuerung. Wie schon viele im 19. Jahrhundert in Russland, die vom Kalachakra-Tantra begeistert waren, wies der russische Diplomat und Publizist Ésper Uchtomski auf die messianische Ankunft des letzten Königs des nördlichen Shambhala hin. Die Anhänger dieser Prophezeiungen glaubten, dass Shambhala die Wiege der Erneuerung des Buddhismus und der Beginn einer neuen Welt wäre.
Wir haben keinen blassen Schimmer von jenen Bereichen, die sich jenseits unserer drei Dimensionen abspielen.
Der burjatische Lama und Berater des 13. Dalai Lama, Agvan Dorzhiev, verstieg sich zur Annahme, dass Russland Shambhala sei. Außerdem sei der Zar die Inkarnation von Tsongkhapa, einem großen Reformator des Buddhismus, und dieser Zar würde schließlich die ganze Welt unterwerfen und ein gigantisches buddhistisches Reich gründen.
Ich fragte Damon-Barry, was der Shambhala-Mythos so an sich hat, dass er so viele Menschen begeistern kann. Er dachte einen Augenblick darüber nach und sagte, dass wir Menschen nicht vollständig verstehen können oder wahrhaben wollen, dass wir in einem dreidimensionalen Raum hockten, gleichsam von vier Wänden umgeben, und nicht den blassesten Dunst von dem hätten, was jenseits dieser Wände eigentlich vonstatten geht. Solche Ebenen könne man einfach nicht durch irgendwelche Anstrengungen der Vernunft zugänglich machen. Es sei vielmehr der Punkt, an dem, wie der englische Dichter Lord Alfred Tennyson einst schrieb, man eigentlich „die Barre überquert“ (cross the bar) und sich ins transzendentale Jenseits vorwagt. Dieser sonderbare Raum wird im Geist der Menschheit immer von Shambhala eingenommen sein.
Spirituelle Geopolitik zur Schaffung einer neuen, gerechten sozialen Ordnung, die von initiierten Meistern geführt wird?
Immerhin, fuhr Damon-Barry fort, habe es Menschen gegeben, die behaupteten, sie hätten sich tatsächlich mit Gesandten von Shambhala getroffen. Zwei der bekanntesten Personen, die so eine Begegnung in ihrem schriftlichen Nachlass erwähnt hatten, seien der russische Maler, Philosoph und Okkultist Nicholas Roehrich und seine Frau Elena Iwanowna. Sie gingen so weit zu behaupten, sie handelten sogar im Auftrag dieser Gesandten. Aus den Tagebüchern von Elena Iwanowna ging es hervor, sie sei in medialer Verbindung mit den Meistern von Shambhala. In der Tat betrieben die Roehrichs eine Art „spirituelle Geopolitik“. Damon-Barry erklärte, es ginge um die Durchführung eines „Großen Planes“ (Velikij Plan), dessen Ziel die Erschaffung eines „Neuen Landes“ (Novaja Strana) sei, das sich von Tibet bis nach Sibirien erstreckte und die Länder Tibet, China, Mongolei und Russland umfassen sollte. In diesem Plan hätte Russland eine große Rolle zu spielen. Damon-Barry erwähnte, es sei erstaunlich, wie viel Erfolg die Roehrichs bei der Realisierung dieser Idee tatsächlich hatten.
Damon-Barry machte mich auf eine weitere Person aufmerksam, die auch im 19. Jahrhundert glaubte, sich mit den Meistern von Shambhala getroffen zu haben. Das war der französische Philosoph, Okkultist und politische Aktivist Joseph-Alexandre Saint-Yves d’Alveydre. Er war auch der Gründer der synarchistischen Bewegung, die sich zum Ziel setzte, eine neue, gerechte soziale Ordnung zu schaffen, die unter anderem von initiierten Meistern hätte geführt werden sollen. Manche bezeichnen ihn als einen der geistigen Wegbereiter der Idee der Europäischen Union. Von vielen Synarchisten wurde Russland sogar betrachtet als Avantgarde einer neuen Weltordnung.
Die neuen Akteure der Weltgeschichte sind ursprünglich uralte Völker, die einst an den Rand der Zivilisation gedrängt wurden.
Wir saßen den ganzen Nachmittag im Restaurant und führten eine sehr lebhafte Diskussion über die Ausführungen, die mein Freund gerade präsentierte. Ich teilte ihm meine Skepsis mit, ob solche Zusammenhänge zwischen Russland, Shambhala und der Synarchie wirklich noch Bedeutung für heutige Politik besäßen. Trotzdem fragte ich ihn, ob diese Informationen doch irgendwie etwas Wahres in sich bergen könnten – trotz der scheinbaren Unmöglichkeit, den „Schleier zu Sais“ zu lüften. Ich wollte auch wissen, ob Menschen diesen unsichtbaren, kaum begreifbaren Kräften Glauben schenkten – und noch wichtiger, ob diese in unserer gegenwärtigen Geschichte noch irgendwie wirksam sind.
Damon-Barry sah mich einen Augenblick an und sagte, eine ähnliche Frage hätte er einem Freund gestellt, den er einst in Safed, Israel besuchte. Safed sei als Zentrum für das Studium der Kabbalah, der jüdischen Mystik, weltbekannt. Dort lebte einst Isaak Luria, der berühmte Rabbiner und Gründer der neuzeitlichen Kabbalah im 16. Jahrhundert. Safed soll auch die Stadt sein, die laut Legende der Messias auf dem Weg nach Jerusalem passieren wird.
Damon-Barry traf seinen Freund in der Nähe von der Ari-Ashkenazi-Synagoge, die im 16. Jahrhundert zum Gedenken an Isaak Luria gebaut wurde. Der Freund erwies sich als ausgezeichneter Kenner der Kabbalah. Er erklärte, dass die neuen Akteure der Weltgeschichte ursprünglich uralte Völker seien, die einst an den Rand der Zivilisation gedrängt wurden. Ihnen sei allerdings große Macht gegeben worden, die dem Symbol des Sonnenrades in vielerlei Aspekten ähnelt. Manche behaupten, diese Macht sei mit der Zahl 666 vergleichbar, einer elementaren Kraft, die die Massen lenkt. Sie sei die imperiale Autorität, das Erdreich an sich. Der Prophet Ezechiel bezeichnete sie als Gog und Magog, Rosch, Meschech und Tuval (Ez. 38,2). Den Legenden zufolge habe Alexander der Große als Dhul-Qarnein eine riesige Mauer gebaut, um diese Völker fernzuhalten. Die Mauer soll sich in der Darialschlucht in Georgien befunden haben.
Die Menschheit soll von höheren Kräften geführt werden, denen sie Respekt und Gehorsam zu zollen hat.
Es sei interessant zu merken, fügte Damon-Barry hinzu, dass am 8.8.2008 die russischen Streitkräfte in Georgien einmarschiert waren. Am selben Tag eröffnete die chinesische Führung die Olympiade in Peking. Damit, so die Anhänger dieser Theorien, habe ein neuer Weltzyklus begonnen – und das alles unter der Ägide der Zahl 8, einer Form des Sonnenrades. Eine Bresche sei in die Mauer geschlagen worden und jetzt seien sie die Hauptakteure des Weltgeschehens. Damon-Barry wies darauf hin, dass diese Völker von Zeit zu Zeit in der Weltgeschichte von historischen Kräften erweckt worden seien, um alte Gesellschaftsformen zu beseitigen und die Welt auf etwas Neues vorzubereiten. Man denke etwa an den Einfall der Seevölker in die antike Welt oder an die Eroberungszüge des Dschingis Khan, den man öfters den „Herrn der Erde“ nannte.
Ich fragte Damon-Barry, ob sich diese neuen Völker und Kräfte dazu berufen fühlten, die Menschheit – wie von zahlreichen westlichen Esoterikern seit den 1968ern immer wieder beschworen – auf eine andere Bewusstseinsstufe anzuheben. Er schüttelte den Kopf. Er meinte, sie seien zu autoritär und autokratisch. Das gelte auch für die Shambhala-Verteter. Sie verlangen bloß Gehorsam. Für sie ist der Mensch zu sündhaft, um sinnvoll aufsteigen zu können. Die Menschheit soll von höheren Kräften geführt werden, denen sie Respekt und Gehorsam zu zollen hat. Damon-Barry sagte ziemlich resignierend, dies seien ihrer Meinung nach genau jene Kräfte, die jetzt im Begriff sind, von der Erde politisch Besitz zu ergreifen.
Portugal, so erzählen Legenden, sei ein Reservoir an unverwirklichten spirituellen Energien, die jahrhundertelang schlummerten.
Dann erzählte er plötzlich, dass ein anderer Freund in Safed die Zukunft weniger pessimistisch sähe. Dieser meinte, es formierten sich bereits neue politisch-mythologische Theorien, die noch kaum zu hören seien. Doch früher oder später würden auch sie an die Oberfläche gelangen und dort platzen. Einige von ihnen handeln von Portugal, dem Land am äußersten Ende des Westens, worauf etliche hermetische Prophezeiungen in der Vergangenheit hingewiesen haben. Es wurde bekanntlich von Tempelrittern gegründet, einem militärischen Orden, der anscheinend eine besondere Nähe zum Hause Davids genoss. Portugal, fuhr er fort, sei in Wahrheit ein Reservoir an unverwirklichten spirituellen Energien, die jahrhundertelang schlummerten. Sie fließen mit den neuen Kräften zusammen, die, wie er meinte, unter der Charola des Convento de Cristo in Tomar aufwallen und an die Oberfläche kommen. Der Convento de Cristo ist eine der beeindruckendsten Strukturen in ganz Portugal. Er wurde im 1162 von den Tempelrittern als Wehr-Klosteranlage gebaut. Von diesem Kloster geht noch heute eine ungeheure Strahlkraft aus. Und sie steht im Zusammenhang mit dem Haus Davids, das, wie Damon-Barry mir zu erläutern versuchte, der Verteidiger des Westens ist.
Ich sagte ihm, es klänge ganz so, als warteten diese Leute auf die Ankunft des jüdischen Messias. Er erwiderte, das lasse sich nicht daraus folgern. Denn das Haus Davids sei ein ungeheueres kosmisches Symbol, das einst den Juden gegeben wurde. Wie gerecht das Volk mit dieser Kraft umgegangen ist, sei eine offene Frage. Sie habe dem Mythos zufolge nichtsdestotrotz einen kosmischen Ursprung. Damon-Barry erwähnte, dass einer der Nachnamen des Messias auf aramäisch בר נפלי, etwa „Sohn von Riesen“, sei. Einige Gelehrte bringen diesen Namen in Verbindung mit dem aramäischen Wort Niphela, das auf die Konstellation von Orion hinweist. Den Legenden zufolge war Orion ein großer Jäger in der antiken Mythologie und ein Zivilisator. Man denke an Nimrod, „den gewaltigen Jäger vor dem Herrn“, den Gründer von Babylon, Erech, Akkad und Ninive oder an den ägyptischen Gott Osiris. Eine Beziehung zu den mesopotamischen Apkallu, den Fischmenschen und vorsintflutlichen Weisen, die die Zivilisation und vor allem die ME zu den Menschen gebracht hatten, lässt sich auch nicht ohne weiters übersehen.
Vor uns liegt ein Rendezvous mit einem Scharnier zwischen der vergangenen Welt eines alten Kontinents und der zukünftigen Verheißung einer neuen Welt.
Ich fragte Damon-Barry, wohin die neue Reise denn nun gehe – ob die Menschheit bloß eine Fortsetzung eines alten Zyklus, den man seit 7000 Jahren kennt, erlebe oder ein völlig neues Kapitel der Weltgeschichte aufgeschlagen werde – von welcher Seite auch immer. Er erwiderte, dass Portugal an den Gestaden des Atlantiks liege. Von seinen Häfen aus brachen einst Karavellen zu neuen Ufern auf. Im gegenwärtigen Zyklus unserer Welt führten die damaligen Entdeckungen zu mehr Wissen und Reichtum. Allerdings, betonte er, habe Portugal eines Tages ein schicksalhaftes Rendezvous mit Antilia, die die Portugiesen als Ilha Encoberta (die Verborgene Insel) und Ilha das Sete Cidades (Insel der Sieben Städte) bezeichnen. Sie diente als eine Art Scharnier zwischen der vergangenen Welt eines alten Kontinents und der zukünftigen Verheißung einer neuen Welt. Sie liege im Okeanos, dem mythologischen Weltstrom. Sie sei das Portal zu anderen Dimensionen.
Damon-Barry erwähnte die Hoffnung vieler spiritueller Politiker, dass der Mensch eines Tages nicht nur mit seinen Mitmenschen in der dritten Dimension sinnvoll und richtig kommunizieren werde, sondern auch mit seinen Verwandten in den höheren Dimensionen. Plötzlich erwähnte er Arsène Heitz, den belgischen Visionär und Urheber der Europaflagge. Angeblich ließ er sich von der Vision einer Frau aus der Offenbarung des Johannes für den endgültigen Entwurf der Europaflagge inspirieren. In der Offenbarung wird diese beschrieben als eine Frau, „mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen“ (12,1).
Manche behaupten, dass diese Frau Maria, die Muttergottes, darstelle. Damon-Barry meinte, sie sei viel älter. Mythologisch stamme sie von den Sternen und werde von den Sternen beschützt. Einst trank sie vom Wein Babylons und war verloren. Aber ferne Generationen werden sie wieder finden. Dann sagte er überraschend, vielleicht habe der populäre Krimi-Autor Dan Brown doch das Richtige getroffen, als er über eine ähnliche Frau in seinem Roman Da Vinci Code schrieb: „Zuletzt ruht sie, unter den Sternenhimmel gerückt“. Immerhin bleibt sie ein Mysterium. Es kann sein, dass bereits im 3. Jahrtausend v. Chr. Teti II., der Gründer der 6. Dynastie in Ägypten, das Geheimnis hätte lüften können, als er die folgenden Jenseitstexte auf den Wänden der Innenräume seiner Grabanlage in Saqqara (PT 419, 747-749) einmeißeln ließ:
Geöffnet sind die Türflügel an den geheimnisvollen Stätten.
Steh auf, entferne deine Erde, schüttele deinen Staub ab, erhebe dich!
Du mögest mit den Verklärten wandern.
Deine Flügel sind die eines Falken,
Dein Glanz ist der eines Sternes.
Nicht beugt sich ein Feind über dich.
Nicht wird dein Herz genommen…
Durchfahre den Himmel zum Binsengefilde,
nimm deinen Aufenthalt im Opfergefilde
unter den unvergänglichen Sternen.
Ich verließ das Treffen mit Damon-Barry verwirrt und besorgt. Konnte es wirklich sein, dass Politiker, die unsere globale Zukunft in den Händen hielten, solchen Mythen nachhingen, ja sie zur Grundlage ihrer Politik werden ließen? Ich dachte an die zahlreichen Verschwörungstheorien, die sich geradezu lachhaft realistisch gegen solche Ideologien ausmachten. Umringt von einer globalen Elite von Machthabern, die sich immer mehr auf eine krude Form mystischer Geopolitik einließen, schien mir die EU mit ihrem Glauben an Aufklärung und Ausgleich plötzlich überraschen naiv. Vielleicht, so dachte ich, als ich der Altstadt von Prag den Rücken kehrte, war das einer der Gründe für ihre wachsende Zerbrechlichkeit.
Bild: DonkeyHotey (Titel); Erdenebayar (Mongolen); Beny Shlevich (Volland) (Safed); (Kirche Portugal)
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