„verbunden sein“ scheint die perfekte Sparte für einen Artikel über soziale Netzwerke. Doch wie viel Verbindung schaffen sie tatsächlich – und wie viel Distanz?
Vor kurzem ist auf der Platte „We Were Here“ der Band BOY „Hit My Heart“ erschienen; ein Titel, der sich nachdenklich mit diesem Thema befasst. Der Text bezieht sich – unspezifisch, aber dennoch deutlich – auf den privat genutzten Teil sozialer Netzwerke, zu deren wichtigsten auch im deutschsprachigen Raum Facebook, Twitter oder Instagram gehören.
These machines are always running
Like the rivers and the clocks
And these wheels don’t get tired of turning
On and on and up and up
Ohne Ruhezeiten bieten sie uns pausenlos die Möglichkeit, Gedanken und Ideen zu teilen. Dank den entsprechenden Applikationen kann direkt vom Smartphone aus der Moment verewigt werden, bevor er überhaupt vorbei ist. Eigentlich eine schöne Sache, nur: Hat sich nicht auch der Zwang eingeschlichen, dass es immer gleich sein muss? Ein alltägliches Beispiel: Bei Essensfotos (von fraglicher Notwendigkeit) besteht zugegebenermaßen noch eine gewisse Dringlichkeit. Wer teilen möchte, welche Köstlichkeiten er oder sie gerade isst, der sollte dies aus optischen Gründen tatsächlich tun, bevor angefangen wird zu schlemmen.
Doch dem Bild folgt der dazugehörige Post, das Verlinken des Restaurants und der Begleiter sowie das Abwarten, bis der gesamte Prozess abgeschlossen ist (es gibt gefühlt wesentlich mehr Restaurants ohne WLan, aber dafür mit schlechtem Empfang, als zu vermuten wäre), während die hungrige Gesellschaft gerne beginnen würde. Auf Tischmanieren würde an dieser Stelle meist nur noch von Eltern hingewiesen werden, welche leichtfertig als Generation ohne Bezug zur Gegenwart abgetan werden könnten.
And everybody’s going somewhere
Something’s always going on
Barely blink, we might miss out
On so much laughter, so much fun
Blinzeln oder gar Wegsehen scheint gar keine mögliche Alternative mehr zu sein – was steigende Nutzerzahlen aktiver User gut belegen können. Facebook hat diesen August einen Rekordwert von einer Milliarde Nutzer an einem einzigen Tag gemeldet. Jeder siebte Mensch auf diesem Planeten war demnach online, um laut Gründer Mark Zuckerberg mit Freunden und der Familie digital verbunden zu sein. Doch warum eigentlich?
Die Entwicklung alter Kommunikationsmittel wie Telefon und Brief zu Mobiltelefon und E-Mail, um einen beschleunigten, flüssigen Kontakt zu erzeugen, ist zweifelsohne ein praktischer und vorteilhafter Schritt gewesen. Aber hätte man sich einst die selbe Mühe gemacht, so viel seines Lebens zu teilen? Der Selektionsprozess ist mit der grenzenlosen Austauschmöglichkeit von Informationen scheinbar komplett abhanden gekommen – oder eben nicht. Präsenz, besser: Überpräsenz, ist ein Spiegelbild des besonders erfüllten Lebens geworden.
We want our names on all the lists
Don’t really mind if they’re misspelled
Auf allen Listen, auf allen Pinnwänden, in allen News zu erscheinen hält einen auf dem Radar der anderen. Andernfalls geht man schnell unter in diesem Springbrunnen der Eindrücke, aus welchem ständig neue, bunte und aufregende Posts sprudeln. Ein Gedankenanstoß: Ein Freund meldet sich nach genau einem Jahr wieder, als er von Facebook an meinen Geburtstag erinnert wird. Andere Länder, andere Freunde, andere Hobbies – über viel, was einen mittlerweile trennt, hätte man sich austauschen können.
Die Nachricht aber lautet: Es wäre ach so lange her. Auf Facebook gab es gar nichts von einem zu lesen. Nichts zu lesen, wie wahr… Aber wann ist es aus der Mode gekommen, einfach anzurufen? Man kann sich über die Qualität dieser Freundschaft streiten, aber die Frage, die sie aufwirft, gibt dennoch zu denken auf: Kommunizieren wir mehr mit den Menschen, die häufiger online sind? Die aktiver vernetzt sind? Steckt hinter all der Selbstdarstellung statt eventueller Angeberei auch ein verzweifelter Versuch, einfach nicht in Vergessenheit zu geraten?
And if nobody takes a picture
We take pictures of ourselves
„No Selfie Control“ ist eine Anlehnung an den gleichnamigen Popsong des amerikanischen Rappers Cazwell aus dem Jahre 2013, der in einem quietschbunten Videoclip die Ausmaße der Selbstinszenierung im Netz auf die Schippe genommen hat. Nur, dass die überzogen dargestellte Posing-Orgie mittlerweile gar nicht so überzogen ist, wie sie „damals“ wirken sollte. Denn: There is no such thing as bad publicity. Selbst höchst unpassende Momente kann man noch mit seiner digitalen Gefolgschaft teilen. Mit etwas Glück kommt man dann in die aktualisierte Liste der zehn unangemessensten Selfies.
Anhand eines Urlaubsreports kann an dieser Stelle von höchst skurrilen Selbstporträt-Erlebnissen berichtet werden: Sind über 100 Fotos beim Schwimmen, beim Liegen am Strand und Kopfstand im Sand tatsächlich nötig, um daraus die besten fünf für Instagram zu wählen? Und das, um den persönlichen Rekord an Likes zu brechen? Ist ein Tag am Strand dann eigentlich noch Entspannung oder ist es eine neue Form von Arbeit?
Look at us
Look how we shine
Look how we celebrate our time
Welche tatsächliche Verbindung dies zwischen dem Postenden und dem Likenden schafft, ist fraglich. Wer mehr Follower hat ist nicht zwangsläufig beliebter, wer weniger Besucher auf seinem Profil hat ist nicht wirklich einsamer. Ein Umkehrschluss kann hier sogar in den Sinn kommen: Wer tatsächlich ein erfülltes Leben voller Hobbies, Freunde und Vergnügen hat, hat gar keine Zeit, darüber im Netz zu berichten. Er wäre vermutlich viel zu beschäftigt, es hundertprozentig zu genießen und durch die vielen Interaktionen mit seinen Kollegen wohl eher davon abgehalten, noch eben ein Foto von sich zu machen.
Sind also überpräsente User in sozialen Netzwerken vielleicht einsame Menschen auf der Suche nach Aufmerksamkeit und Anerkennung, die sich aber hervorragend zu verkaufen wissen? Wenn ihnen die digitale Reaktionen ihrer Community, ihrer Netzgemeinschaft, nun genau dies gibt, was sie benötigen – was kann nun schlecht daran sein?
The greenest grass
Right at our feet
Look how we skip from peak to peak
Sehr viel sogar! Denn die Konsumenten dieser Informationen können dadurch mit Unzufriedenheit infiziert werden. „Social Comparison“ ist ein Phänomen, das beispielsweise in einschlägigen Artikeln bei Forbes oder Journal of Social and Clinical Psychology angesprochen wird: Der Grad von depressiven Gefühlen ist eng verlinkt mit der Zeit, die auf Facebook verbracht wird.
Durch den direkten Vergleich mit den Highlights und Glücksmomenten der anderen ist das eigene Leben düster, trostlos, eintönig. Dies schürt aber nicht nur negative Gedanken sich selbst und dem eigenen Alltag gegenüber, es ist auch eine hervorragende Nährfläche für Neid und Missgunst. Und es schafft Druck, mitzuhalten.
Denn leider hat man das „grünste Gras“ nicht immer automatisch selbst unter seinen Füssen – da muss eventuell noch einmal mit ein paar Filtern nachgeholfen werden! Und somit ist der unschuldige Anspruch, ohne viele Hintergedanken mit Freunden und Verwandten Erlebnisse zu teilen, dahin…
So we’re drifting downstream
Exposed but unseen
All covered in exclamation marks
Doch abgesehen von all diesen Faktoren gibt es noch eine weitere reale Gefahr zu bedenken: die des kompletten Ausgeliefertsein im Netz. Denn bei allem händeringenden Aufmerksamkeitssuchen ist man zwar vielleicht unsichtbar für die angestrebte Zielgruppe – aber gleichzeitig vollkommen ausgestellt. Das wird häufig diskutiert, interessiert aber meistens niemand, sollte er sich nicht direkt bedroht sehen. Die US Regierung hatte ja schon einmal erklärt, wenn man nichts zu verstecken hätte, habe man ja auch nichts zu befürchten. Und Eric Schmidt, ehemaliger CEO von Google, lieferte noch die Gebrauchsanleitung zur Sorglosigkeit: einfach gar nicht erst machen, was nicht entdeckt werden soll. So einfach wäre das.
Das Problem ist nur, dass im Moment des Geschehens meist nicht klar erkennbar ist, was später einmal gar nicht entdeckt werden darf. Denn da ist es ja alles bereits gepostet, geshared und geliked. Nun kann dieser Schuss bereits gleich bei Veröffentlichung nach hinten losgehen: Mit Kommentaren und Emoticons, den kleinen Gesichtern und Symbolen, die den Text unterhaltsamer machen, kann ein Beitrag sofort zunichte gemacht werden. Oder – und dies ist meistens noch viel schlimmer – nach langer Zeit kann hier ausgegraben werden, was nie gefunden werden sollte.
Delikaterweise muss man das nicht einmal selber hochgeladen haben. Zwar gibt es Möglichkeiten, seine Profile einzuschränken und Beiträge erst zu sehen, bevor man sie auf der eigenen Seite zulässt. Sollte sie aber jemand anders veröffentlichen, können diese leicht übersehen werden. Human Ressources vieler Firmen greifen heutzutage selbstverständlich auf soziale Netzwerke zu, um potenzielle neue Angestellte gründlich zu überprüfen. Aber wenn Sie nichts Schlimmes getan haben, haben Sie ja nichts zu befürchten…
Look how it eats up all our time
Viel Zeitaufwand (vor allem bei Jugendlichen weit über zwei Stunden am Tag) also für den schlechten Zweck? Viele Youtube-Millionäre würden dies nicht so unterschreiben. Leute, die tatsächlich über Facebook alte Freunde wiedergefunden haben, werden dem etwas entgegenzusetzen haben. Liebhaber, die sich über Instagram kennen gelernt haben (welches in der Tat mittlerweile vollkommen natürlich zum Daten verwendet wird), können darüber nur lachen – ganz zu schweigen von erfolgreichen Partnervermittlungsseiten. Und das ganz abgesehen von den zahlreichen beruflichen Erfolgsgeschichten, die über die hier vernachlässigten sozialen Netzwerke wie LinkedIn oder Xing entstanden sind.
Mit der Vernetzung könnte man es wie mit dem Alkohol sehen – eine gesunde Dosis hier und da kann erheitern, verbinden und unglaubliche Momente bereiten. Sie kann einem Türen öffnen, genauso, wie sie welche schließen kann. Denn übermäßiger und vor allem unbedachter Konsum kann tragische Nebenwirkungen haben. Man muss daher nicht gleich komplett darauf verzichten – sondern nur darauf achten, genau das herauszufiltern, was einen bereichert.
Oder in den Worten von BOY: etwas, was das Herz berührt.
A touch, a beat, a wave of heat that hits the heart
A thought that sticks and flips a switch and shakes me up
A little thing that I’ll let in, a word that sparks
And hits my heart
Bild: Ben_Kerckx