Klänge es nicht so pathetisch, wäre man versucht, Syrien und Irak für Geschichte zu erklären. Die auf Basis eines Verrats an den arabischen Verbündeten von Frankreich und England gegründeten Staaten haben den Nahen Osten für beinahe ein Jahrhundert geprägt. Nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs durch seine Niederlage an der Seite der Achsenmächte schufen die Kolonialmächte auf dem Reißbrett Interessensgebiete, denen sie den Anstrich von Nationalstaaten verpassten – inklusive Hymnen, Flaggen und Herrscherhäusern. Mit dem viel progagierten „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ hatten diese Neugründungen freilich ebenso wenig zu tun wie mit der Belohnung der im Krieg so hilfreichen orientalischen Milizen.

Im Gegensatz zur Schrumpfung Deutschlands und Zerschlagung Österreichs – Folgen des Krieges, die heute kaum noch Gemüter erregen – zeitigt die Willkür der Siegermächte im Nahen Osten bis heute gewaltsame Spuren. Grund hierfür ist die Schaffung von Staaten, deren Abhängigkeit von Frankreich und Großbritannien u.a. damit gesichert wurde, dass man Grenzen mitten durch einheitliche Religionsgebiete zog – und auf der anderen Seite miteinander vereinte, was (freundlich ausgedrückt) schon im Osmanischen Reich im Wettbewerb miteinander stand. Die völkerrechtlich verbindliche – und vom Islamischen Staat 2014 faktisch aufgelöste – Grenze zwischen Syrien und dem Irak geht auf das 1916 getroffene Sykes-Picot-Abkommen zurück, das die damalige osmanische Provinz Syrien in eine britische und französische Einflusssphäre teilte.

Diese europäische Grenzziehung wirkt – weit über die eigentliche Kolonialzeit hinaus – bis heute nach. Auf den Ruinen des Osmanischen Reichs hatten Frankreich und England von 1919 bis 1949 ein Staatensystem geschaffen, das zum einen die „europäischen“ Religionen Christentum und Judentum bevorzugt behandelte (indem man beiden Religionsgruppen einen eigenen Staat bescherte: den Libanon und Israel), zum anderen die restlichen Religionen unterschiedlichen Nationen zuwies: So fanden sich die (arabischen) Sunniten gleich in 5 Ländern wieder (Libanon, Syrien, Irak, Jordanien und Palästina), Seite an Seite mit den ihnen oppositionellen Gruppen der Schiiten (Syrien, Irak), Kurden (Syrien, Irak), Drusen (Syrien, Libanon) und Alawiten (Syrien).

 

Die blutige Spur religiös verbrämter Interessenspolitik

Nun könnte man natürlich in gut laizistischer Weise argumentieren und fragen, was denn Nationalstaaten mit Konfessionen zu tun hätten. Bayern und Preußen hätten nach anfänglichen Auseinandersetzungen (1866) schließlich auch noch in einem Staat (1871) zusammengefunden. Ohne auf die bis heute andauernden Konflikte zwischen der „süddeutschen“ und der „norddeutschen“ Mentalität verweisen zu müssen, sei angemerkt: Im Gegensatz zum „Deutschtum“ oder zur „französischen Nation“ bildeten und bilden die religiösen Grenzen bis heute die eigentliche Identität im Nahen Osten. Statt diese Identitäten durch die Errichtung säkularer Staaten allmählich aufzulösen, nutze sie das Ausland geschickt für ihre andauernde politische Einflussnahme. Von der Protektion der Christen im Libanon durch die Franzosen bis hin zur Protektion der Alawiten in Syrien durch den Iran zieht sich eine blutige Spur religiös verbrämter Interessenspolitik.

Vor diesem Hintergrund mutet die Geschichte der Region wie ein Paradebeispiel für die Anwendung des altbekannten Prinzips „Teile und herrsche“ an. Der Iran, immer schon mehrheitlich schiitisch, gerierte vom westlichen Verbündeten zum Paria, als er die Islamische Republik ausrief. Der Irak, ebenfalls mehrheitlich schiitisch, galt erst als Verbündeter der USA gegen den Iran, später dann als Schurkenstaat und nach dem Sturz Saddam Husseins als Zwitterwesen zwischen pro-iranischer Regierung und pro-amerikanischer Einflusssphäre. Syrien, immer schon mehrheitlich sunnitisch, galt aufgrund der anti-israelischen Politik der Alawiten ebenfalls als Schurkenstaat. Nach Ausbruch der Revolution finanzierte man im Westen wie in Saudi-Arabien alles, was Assad schaden könnte, von Freunden des Laizismus bis hin zu dessen größtem Feind, dem sunnitischen Gotteskriegertum.

 

Wir haben den Nahen Osten auf dem Gewissen

Wer angesichts dieser Tatsachen ernsthaft davon spricht, die Gewalt im Nahen Osten sei ein hausgemachtes Problem der (als Hitzköpfe und rückständig karikierten) Muslime, das wir als demokratische und säkulare Staaten nur fassungslos zur Kenntnis nehmen können, hat entweder wenig Ahnung von Geschichte – oder verfolgt eigene politische Interessen. Der viel beschworene Frieden der demokratischen Staaten untereinander hat einen blutigen Preis: 70 Jahre Krieg im Nahen Osten – um Einflusssphären, Absatzmärkte und Rohstofflieferung. Wir haben den Nahen Osten auf dem Gewissen – und spielen uns nun einmal mehr als dessen Retter auf.

Wenn auf ZEIT ONLINE heute getitelt wird: „Gebt den Sunniten einen Staat! Der Nahe Osten braucht eine neue Ordnung, um den Hass zu besiegen,“ erahnen wir, wohin die Reise gehen wird: Die Ära kolonialer Grenzziehung ist noch nicht vorbei. Das politische Ziel der westlichen Einmischung liegt auf der Hand: die Eindämmung des iranischen Einflusses in der Region, der durch die Regierungen des Irak, Syriens und des Libanon zuletzt bis ans Mittelmeer reichte. Für dieses Ziel wird man die Rolle der Sunniten stärken müssen – auch um die Anziehungskraft des „Islamischen Staats“ als „Alternative für Sunnistan“ zu beenden.

All dies wird ebenso wenig den Frieden in den Nahen Osten bringen wie die aliierten Bomben auf Mossul und Raqqa gegen den IS. All dies wird die Geschichte der Teilung und der inszenierten Grenzen fortschreiben, wo immer diese auch gezogen werden. All dies wird den Nahen Osten als Brutstätte des Terrors am Leben erhalten und neben wachsenden Opfern im Westen vor allem die Muslime der Region in ihrer perversen Opfer-Täter-Dauerschleife halten. Die einzige Lösung, die von Dauer sein könnte, wäre ein Ende all dessen, was zu den anhaltenden Konflikten geführt hat: der Missbrauch der Region als Schachbrett fremder Spieler.

Der Nahe Osten braucht keine neue Ordnung, um den Hass zu besiegen. Wie wäre es, diese westliche Rechnung einfach mal umzudrehen? Aufhören, Hass zu säen, wäre sicher eine stabilere Grundlage für eine Ordnung im Nahen Osten als neue Grenzen zu ziehen.

 

Bild: skeeze

Written by Nicolas Flessa

Nicolas Flessa studierte Ägyptologe und Religionswissenschaft. Der Chefredakteur von seinsart drehte Spiel- und Dokumentarfilme und arbeitet heute als freischaffender Autor und Journalist in Berlin.

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