Während einer Rede, die David Miliband, der Präsident der International Rescue Committee, am 20. Juni 2019 im King‘s College London gehalten hatte, argumentierte er, dass sich der Westen zunehmend von seinem Prinzip der globalen Verantwortung zurückgezogen habe und dabei auf gefährliche Weise repressiven Staaten immer mehr das Feld räumte, die rücksichtslos und straffrei handelten. Wir lebten in einem „Age of Impunity“, einem Zeitalter der Straffreiheit, so lautete seine These, in dem Nationalstaaten straflos davonkommen können, ohne irgendwelche Rechnung für die Resultate ihrer Taten ablegen zu müssen. Nationale Souveränität setzte sich über alle anderen Prioritäten hinweg, einschließlich derer der Menschenrechte. Er sieht diese Entwicklung als ein weiteres Zeichen für die zunehmende Schwächung der liberalen Demokratien, die sich heute weltweit in verschiedenen Teilen unseres Globus abspielt.
Als einschlägiger Fall lohnt es sich einmal, kurz unsere Aufmerksamkeit auf den russischen Staat zu lenken. Zunächst einmal bietet der russische Staat uns ein Modell an, in dem Rechtsstaatlichkeit kein Regierungsprinzip darstellt. In der Tat stellt Russland ein vollständiges Gegenmodell zu einer von universalen Werten bestimmten Weltordnung auf, wie sie der Westen schon lange angestrebt hat. Es stützt sich auf eine Politik, die die westlichen Werte im Namen eines Autoritarismus systematisch zugrunde richtet – bis jetzt mit beachtlichem Erfolg.
Tatsächlich ist es dem russischen Staat gelungen, die westliche Gesellschaft ideologisch, politisch und auch finanziell zu destabilisieren, sowie sie durch die Überflutung von Desinformation zu schwächen. Es sieht so aus, als sei Russland fest entschlossen, eine antidemokratische, illiberale Politik zu exportieren, Faktizität zu vernichten und eine beispiellose Amoralität im Namen hehrer, heiliger nationalistischer Absichten und Ziele zu verbreiten. Es will offenbar ähnliche Tendenzen in Europa und in den USA optimal beschleunigen.
Frevelhafte Fakten
Zur ideologischen Leitfigur dieser besonderen Art von Politik ist der christlich-faschistische Philosoph Iwan Iljin (1883-1954) erwählt worden. Auffallend sind die Parallelen zwischen den ideologischen Richtlinien der russischen Regierung und der Politik und Philosophie Iljins. Seine Ideen fanden Anhänger im russischen Machtapparat. Wladimir Putin hat ihn rehabilitiert und zitiert ihn öfters in seinen Reden. Dmitri Medwedew, der Vorsitzende der Partei „Einiges Russland“ und stellvertretender Leiter des Sicherheitsrates, empfahl seinen Landsleuten Iljin zur erbaulichen Lektüre, und Wladislaw Surkow, Putins Propagandaminister, adaptierte geschickt Iljins Gedanken für die modernen Medien.
Die Kernaussage von Iljins Werken ist, dass Russland der Ausdruck des christlichen Heilsversprechens der Zukunft sei. Iljin zufolge war das Universum die Totalität Gottes vor dem Schöpfungsakt. Als Gott aber die Welt erschuf, zerstörte er die absolute Wahrheit. Vor der Geschichte war Gott und die Welt wahr. Aber mit dem Eintritt in die Geschichtlichkeit entstanden Fehler, das Sinnliche überhaupt, Leidenschaften, Gedanken, Meinungen und Fakten, die nie wahr sein können. Für Iljin war es unmoralisch, Fakten verstehen zu wollen. Denn Leidenschaften und die daraus entstehenden Fakten sind frevelhaft.
In diesem Sinne aber billigte er Russland und dem russischen Volk eine spezielle Ausnahme zu. In seinem Wesen bewahrte Russland die vorgeschichtliche Gegenwart. Alle anderen mögen zwar fehlgeleitet und von Fakten und Meinungen geplagt sein, Russland aber hat seine wahre, ursprüngliche, vorgeschichtliche Unschuld bewahrt. Das ist der neuer Ausgangspunkt für die Zukunft. Alle Ansichten über Moral und Rechtsstaatlichkeit, die von den natürlichen Feinden des Landes kommen, verblassen vor der ungeheuerlichen Unschuld Russlands, die es mit allen Mitteln zu verteidigen und zu fördern gilt. Gegenwärtig sieht es so aus, als würden die gemeinschaftsbildenden Kräfte von Moral, Ethos und Religion der Beliebigkeit verfallen. Für die Menschheit ist dieser Zustand gefährlich.
Unschuld und Ignoranz
Im Jahre 2006 hielt der damalige Papst Benedikt XVI. eine denkwürdige Vorlesung an der Universität Regensburg. Er wies auf eine Aussage zur Rolle der Gewalt im Islam hin, die Manuel II. Palaiologos (1350-1425), der Kaiser von Byzanz, gegenüber einem persischen Gelehrten gemacht hätte. Wie erwartet, sorgte das Zitat für eine Menge Verwirrung und Aufregung. Weniger beachtet aber wurde die Aussage über das Wesen des Logos im Kosmos. Manuel II. zitierend, sagte der inzwischen emeritierte Papst, nicht SYN LOGOi zu handeln, sei dem Wesen Gottes zuwider. Mit diesem Zitat wies er auf die Einheit von Welt und Kosmos hin, sowie auf die Analogie zwischen dem ewigen Schöpfergeist und unserer geschaffenen Vernunft.
Der Menschheit scheint diese Aussage verborgen zu sein. Die Analogie zwischen dem Wesen des Logos und dem Wesen unserer Seele ist gar nicht evident. Die Beschaffenheit der menschlichen Seele beschränkt sich unglücklicherweise auf eine bestimmte Dimensionalität, die sie daran hindert, das volle Ausmaß dieser Aussage zu erkennen.
Es ist gut möglich, dass hinsichtlich dieser universalen Selbstverständlichkeit die Menschheit eine Anomalie im Kosmos bildet. Immerhin sind wir am Rande einer Galaxie angesiedelt, deren Bürger, die sich in endlosen Dimensionen befinden, vielleicht nicht einmal ahnen, dass wir tatsächlich existieren, geschweige denn ihre normalen Gesetze und Regeln kennen. Die Frage, ob die Menschheit wegen ihrer Unschuld und Ignoranz von den Konsequenzen ihrer fehlgeleiteten Handlungen befreit ist, lässt sich nicht eindeutig beantworten.
Eine neue Zukunft?
Mythologischen Legenden zufolge sind die ursprünglichen Gesetze, die der Menschheit präsentiert wurden, von außen eingeführt worden. Sie waren für die Entstehung und Entwicklung unserer Zivilisation und Kultur verantwortlich. Wir hören von den ME in Sumer und der Ma‘at in Ägypten. Sie umfassten nicht nur eine Wirklichkeit, sondern viele. Und die Menschheit musste vor einem Gerichtshof Rechenschaft für ihr Handeln ablegen. Aber die Sandbänke der Zeit haben solche Kenntnisse schon lange zugedeckt und die Ebbe und Flut sie für immer weggeschwemmt.
Interessant ist ein Bericht aus dem ägyptischen Neuen Reichs (1550 bis 1070 v. Chr.), der in Granit auf den Wänden des Tempels in Karnak gemeißelt wurde. Er beschreibt eine Vision, die ein Verstorbener auf einer Jenseitsreise erfahren würde. Er sei auch eine Mahnung an zukünftige Herrscher. Es handelt sich um eine Inschrift Thutmosis‘ III, des genialen Feldherrn bei der Schlacht von Megiddo und eines der dynamischsten Pharaonen des Neuen Reichs, in der er seiner Thronerhebung durch die Gunst des Gottes Amun gedenkt. Er befindet sich in der großen Hypostylhalle des Tempels von Karnak.
„Ich stand am Platz des Herrn.
Er wunderte sich über mich….
Es ist doch wahr!
Sie enthüllten vor den Menschen
die Geheimnisse in den Herzen der Götter, die diese kannten.
Es gab keinen, der sie kannte, keinen außer ihm.
Er öffnete mir die Türflügel des Himmels;
er öffnete mir die Tore seines Lichtlandes.
Ich flog empor zum Himmel als göttlicher Falke,
ich sah seine Mysterien, die im Himmel sind,
ich betete seine Majestät an.
Ich sah die Wandlungen des Horus vom Lichtland
auf seinen geheimnisvollen Wegen im Himmel.“
Es ist ein Bericht, der jeder weiteren Diskussion entbehrt – eine Botschaft aus einer Vergangenheit, die eine neue Zukunft verheißt.
Bild: kremlin.ru (CC BY 4.0)
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