Meine Hände zitterten, gleichzeitig stiegen kleine, heiße Wellen im Magen hoch. Ich ging im Kopf alle Lebensmittel durch, die zum sofortigen Verzehr im Kühlschrank bereit stünden: Fruchtjogurt, Soja-Würstchen, Toast. Oder vielleicht doch eine Banane oder eine klitzekleine Fruchtschnitte? Alles, was ich jetzt um 4 Uhr morgens essen könnte, enthielt entweder Zucker oder Gluten – und damit bin ich schon mitten am dritten Tag meines Experiments „Zehn Wochen ohne Zucker und Gluten“ oder besser gesagt mitten in der dritten Nacht.
Der Start führte mich gleich mitten hinein in meine neue Welt der Paleo-Fans, Clean Eater und No Carbs: Nach der Diagnose meiner Ärztin „Dünndarmfehlbesiedelung durch Zucker- und Weizenmehlkonsum“ ging ich auf direktem Wege zum Drogeristen meines Vertrauens. Und das nicht nur einmal. Ganze drei Mal besorgte ich Unmengen von Buchweizenmehl, Hirse, Quinoa, Chiasamen, Basen-Frühstücksbrei, Rote-Linsen-Nudeln, Reismilch, Mandelmilch und Nüsse aller Arten. Ich verbrachte gefühlt Stunden zwischen den Regalen und studierte Zutatenlisten. Nur um festzustellen: So einfach wird es nicht.
Denn das, was uns die neuen Green Foodies und Veggie-Fans in ihren Blogs und Slow Food-Bibeln erzählen, stimmt oft nur zur Hälfte: In vielen der Bioprodukte ist ebenfalls Zucker. Nur halt kein weißer. So enthält Räucherertofu beispielsweise oft Rohrzucker, in der Quinoa-Mischung mit Chiasamen ist Agavendicksaft und in den abgepackten glutenfreien Bio-Broten finden sich wiederum Zuckerersatzstoffe oder Glukosesirup. Zucker und Gluten? „Das wird hart“ attestieren mir meine persönlichen Experten auf Facebook, die ich mit einem „Help!“-Post zu Rezepten und Anteilnahme aufgefordert hatte.
Innerhalb weniger Tage wurde ich zum Vollprofi in meiner neuen Mission. Immer dabei: Die „Zuckerfibel“ von Sarah Wilson, „Goodbye Sugar. Zuckerfrei glücklich in acht Wochen“. Die australische Bloggerin und TV-Gesundheitsmieze versteht es auf unterhaltsame und vor allem konsequente Art und Weise an die Thematik heranzuführen und begleitet ihre Jünger auf ihrem Weg zu einem zuckerfreien Leben. Keine Obstbowl-Rezepte für das Frühstück oder Verweise, dass Glukosezucker ja der „gute Zucker“ sei, der dem Körper nicht schade. Nein, mein Großvater hätte sie geliebt. Diese Frau war mein Colonel Kurtz in Sachen zuckerfreier Ernährung.
Auch mein Vorratsschrank verhieß „Apokalypse Now“: Er konnte es mittlerweile locker mit dem eines Preppers aufnehmen, der sich auf den Weltuntergang vorbereitet. Nachdem ich mich gewappnet hatte, ging es los: Morgens ein Paleo-Müsli mit Nüssen beziehungsweise ein warmer Hirsebrei mit ja, ich gebe es zu, einem Schuss Reissirup. Für die Arbeit bereitete ich mich mit Salat, Reiswaffel und Lachsstreifen vor. Und abends kippte ich mir eine Suppe in den Topf, die ich noch im Vorratsschrank gefunden hatte.
Ich setzte eine ungeahnte Energie bei der Nahrungsbeschaffung und Neuzusammenstellung frei – die leider viel zu schnell verpuffte. Denn schon nach zwei Tagen merkte ich, dass mein Körper anfing, auf die Ernährungsumstellung zu reagieren. Und das nicht etwa mit einem Nachlassen der Symptome – die verschlimmerten sich durch die plötzliche Umstellung sogar eher. (Wir erinnern uns an den aufgeblasenen Luftballon). Nein, ich hatte Hunger. Und zwar permanent. Ich war zwar angenehm wach – eine Folge des ungewollten Fastens – fühlte mich aber eher aufgescheucht als ausgeruht, eher wie ein Rakete, die zu schnell gestartet war, als ein Luftballon, der entspannt in den Lüften schaukelt.
Wer von einem Tag alle Kohlenhydrate und Zucker weglässt, der muss mit Proteinen und Fett ausgleichen. Oder, um es mit Sarah Wilson zu sagen: Fett macht uns satt und nicht dick. „Wenn man Zucker weglässt, ersetzt man ihn am besten durch vollwertige unverarbeitete Fette und hochwertiges Protein. Dazu zählen zum Beispiel Eier, Käse, Nüsse und Kokosnussprodukte.“ Um länger als drei Stunden satt zu bleiben, nützt es also nichts, einfach Sachen wegzulassen. (Ich halte nichts von Diäten und hatte auch nicht vor, abzunehmen.) Man muss die Lebensmittel durch andere ersetzen. Ansonsten konnte es sein, dass man tatsächlich so wie ich nachts vor Hunger wach lag.
In der zweiten Nacht, in der ich, ohne einen schnellen Snack parat zu haben, aufwachte, entschied ich mich also nochmal neu: Es reichte nicht, jede Menge Superfood heranzuschaffen und schicke Food-Blogs zu durchforsten. Ich musste ganz schnöde mit der Zubereitung von Essen anfangen. Meine größte Schwäche. Kochen, backen, einkaufen, vorbereiten. Rezepte lesen. Und vor allem: Konsequent bleiben. Am Ende der Woche hatte ich soviele neue Gerichte ausprobiert, wie in zehn Jahren nicht mehr. Und: Es gefiel mir.
Nur, ob ich diese Energie für die nächsten zehn Wochen und womöglich für mehr oder weniger den Rest meines Lebens würde halten können, da war ich mir nicht so sicher…
Lieblingsrezept dieser Woche:
Zucchini-Käse-Torte
Dieses Rezept stammt aus dem Buch „Goodbye Sugar” von Sarah Wilson. Guten Appetit!
Bilder: RyanMcGuire (Titel); Cosima Grohmann
Alle Teile von „My Sugarfree Diary“ hier auf #seinsart:
Teil 1 | Mein aufgeblasener Luftballon
Teil 2 | Kalter Entzug! Meine erste Woche ohne Zucker und Gluten
Teil 3 | Auf dem Weg ins Reich der Chiasamen
Teil 4 | Achtung, Fallen! Zuckerfrei leben mit Kindern
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