Einfach nur normal sein ist völlig out geworden. Langeweile und Durchschnittlichkeit sind das Schreckensgespenst in einer inszenierten Gesellschaft. Nur derjenige kommt an, der alle Möglichkeiten nutzt, um die grenzenlose Aufmerksamkeit seiner Mitmenschen zu bekommen. In ihrem Artikel befasst sich Birgitta Wallmann mit dem heutigen Zwang nach Anderssein und Selbstinszenierung. Eine Entwicklung, die zwangsläufig unzufrieden macht, weil sie ein selbstbestimmtes Leben in Normalität verleugnet.
Die zehn biblischen Plagen, die über Ägypten kamen, bieten auch heute noch viel Stoff zum Nachdenken. Sie schienen sich besonders gegen die Götter Ägyptens zu richten, denn alles, was sie verehrten, wurde ihnen zur Plage. Mindestens genauso viel Stoff zum Nachdenken bietet uns – abseits der biblischen Geschichte – die sich gerade rasant ausbreitende Landplage der aufgemotzten Selbstdarstellung.
Die Selbstdarsteller sind im Anmarsch
Ob in der Familie, unter Freunden oder im Job: Jeder kennt mindestens einen dieser Spezies. Tendenz steigend. Denn die Arena der Ich-Darsteller wird täglich größer und dringt in unser tägliches Umfeld ein. Alter und Geschlecht spielen keine Rolle. Der perfekte Selbstdarsteller und das Internet sind ziemlich beste Freunde. Und so hat er es via Facebook, Instagram, Whats App und Co schon bis in unsere Wohnzimmer geschafft. Gemäß seiner Maxime – Hauptsache sichtbar – hat er sich ungefragt in unser Leben eingeschlichen.
Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander
Er inszeniert sein Leben und sein tägliches Umfeld mit verzerrter Selbstwahrnehmung; ist anspruchsvoll und stets um Selbstoptimierung bemüht. Er ist nicht einfach nur berufstätig, sondern macht Karriere. Seinen Körper hält er nicht nur in Form, sondern modelliert ihn auf Idealmaß. Die Kinder sind Genies und die jeweiligen Lebenspartner traumhafte Fabelwesen. Für den gewöhnlichen Alltag ist er einfach zu gut. Und es gibt gute Gründe für ihn, täglich besser zu werden.
Von der umfassenden Persönlichkeitsbildung bis hin zur äußeren Runderneuerung. Sein Wunsch nach Anderssein kennt keine Grenzen. Denn nur so kann er parallel neben Beruf, Partnerschaft und aufsehenerregenden Hobbys jede Menge Erfolge vorweisen. In seiner Wahrnehmung ist der Selbstdarsteller etwas Besonderes und nutzt unermüdlich alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel, dies seiner Familie, Freunden und Kollegen, ja sogar der ganzen Welt mitzuteilen.
Ob wir es wollen oder nicht. Er lässt uns teilhaben an den banalsten Momenten seines Alltags; teilt mit uns schonungslos seine Beobachtungen und Selbstbetrachtungen und gewährt Einblicke in seine Gedankenwelt. Zu jeder Zeit und an jedem Ort dürfen wir Zeuge seiner Großartigkeit werden und ihn ehrfürchtig dafür bestaunen. Auch wenn es im Zweifelsfall gar nicht darauf ankommt, ob überhaupt etwas vorhanden ist, das die übermäßige Selbstdarstellung lohnt. Schließlich erreicht nur derjenige den Zenit der öffentlichen Aufmerksamkeit, der alles ist – bloß nicht normal und alltäglich.
Die Normalität steckt in der Krise
„Wir leben in einer Inszenierungsgesellschaft, in der die Darstellung wichtiger wird als der Inhalt. Das Prinzip Leistung schließt mittlerweile die Präsentation seiner selbst ein, schon die Bereitschaft dazu werde honoriert,“ schreibt Julia Wippersberg in ihrem Buch über die Entstehung und Erwartungen von Prominenz. Das normale Alltagsleben erscheint in Folge dieser modernen Landplage also wenig erstrebenswert. Denn normal sein bedeutet auch durchschnittlich sein. An der Normalität richtet sich alles aus. Ohne Normalität nichts Außerordentliches. Sie hat immer etwas mit Mitte und Maß zu tun.
Für den Philosophen Thomas Rolf „umreißt die Normalität eine Lebenseinstellung, deren Träger es darum geht, etwas aus sich zu machen, nämlich einen Menschen, der lebenstauglich ist, der in seinem Leben zurecht kommt und sich im Großen und Ganzen wohl darin fühlt. Sie lässt sich nicht auf Extreme welcher Art auch immer ein.“ Die Normalität verweigert somit die erschöpfenden Ausnahmezustände, die durch den permanenten Zwang zur originellen Selbstdarstellung entstehen. Es ist also nicht ganz einfach. Normalität ist der Normalzustand und das ist gerade out.
Wo alle herausragen wollen und den Hals nach oben recken, schafft es eben keiner mehr richtig.
Otto Normalverbraucher steckt also tief in der Krise. Er ist im ständigen Kampf mit sich selbst. Denn Selbstoptimierung und Perfektion sind so ansteckend wie der erste Grippevirus im Herbst. Er wird immer anspruchsvoller und somit notgedrungen enttäuschter. Trotz aller Anstrengung genügt er nicht. Er fühlt sich nicht mehr wohl in seinem Leben. Der tägliche Zwang, das Leben aus neuen Perspektiven zu sehen, sich immer wieder aufs Neue mit der scheinbar angesagten Vielfalt auseinandersetzen und darin auch noch beweisen zu müssen, strengt ihn enorm an. Es versetzt ihn in einen andauernden Ausnahmezustand.
Denn da, wo alle herausragen wollen und den Hals nach oben recken, schafft es eben keiner mehr richtig. Wenn das Außergewöhnliche zur Normalität wird, entsteht eine „Massen-Individualität, ein Begriff, der sich im Grunde selbst widerlegt,“ schreibt Thomas Rolf in seinen philosophischen Bemerkungen zur Normalität. Wen verwundert es also noch, dass die „selbstinszenierte Gesellschaft“ von dem bunten Treiben ihres menschlichen Daseins zunehmend erschöpft ist? Sie ist schlecht gelaunt und sehnt sich immer mehr nach Ruhe. Und ausgerechnet nach dem, was sie am meisten verschmäht: Nach entspannender Normalität.
Die Lösung liegt in uns selbst
Den Ausstieg aus dem Hamsterrad der Ich-Darsteller findet jedoch nur derjenige, der (wieder) normal wird und es sich einfach mal in der Mitte gemütlich macht; der seine Ansprüche wieder auf ein Normalmaß senkt und aufhört, unerreichbaren Zielen nachzurennen. In ihrem Buch über das Geheimnis kluger Entscheidungen schreibt Maja Storch „dass man normal wird, indem man lernt, auf sich selbst zu hören, und sich dann erlaubt, sich mit Hingabe dem zu widmen, was einem behagt. Eine Entwicklung, die das Maß für die eigene Norm aus sich selbst schöpft und sich aktiv dagegen zur Wehr setzt, dass die Normen für Normalität von außen kommen.“
Ziel ist es also, eine eigene, selbstgemachte Normalität zu schaffen. Den Mut zu haben, nach eigenen Normen zu leben und ein für sich selbst passendes Lebensmaß zu finden. Eines, das unsere persönliche Eigenart entfaltet, normal und dennoch entspannt ist. Ganz abseits der medialen Scheinwelt und dem hippen Internet. Vertrauen wir also unserem gesunden Menschenverstand und gönnen uns die Freiheit, ein entspanntes und zufriedenes Leben nach unseren eigenen Vorstellungen zu führen. Ein Leben, das gut tut – ohne Stress und Frust, das vielleicht auch ein bisschen bescheidener und stiller ist. Eben ein Leben in glücklicher Normalität.
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