Ein Gastbeitrag von Yussuf Samra, Beirut
Als ich letztes Jahr ein paar christliche Freunde im Libanon besuchte, war ich überrascht, wie viele von ihnen zu sogenannten Iftars eingeladen waren, Abendessen am Ende des Tages während des muslimischen Fastenmonats Ramadan. Große Unternehmen, erzählte man mir, organisierten ebenfalls Iftars für ihre Angestellten, die nicht selten ganz unterschiedlichen Religionen angehörten. Traditionelle Süßigkeiten, die man im Ramadan bäckt (übrigens die gleichen, die es im Orient auch zu Ostern gibt) wurden von allen gekauft, Christen wie Muslimen.
Meine Freunde erzählten mir auch, dass an Weihnachten und Neujahr Familien und Freunde von ganz unterschiedlichen Religionsgemeinschaften miteinander feierten. Viele muslimische Familien kauften Weihnachtsgeschenke für ihre Kinder und schmückten einen Weihnachtsbaum, einige von ihnen sogar mit einer eigenen Krippe. Durch die zahlreichen gemischten Familien kam es nicht selten vor, dass die Geschenke, die man für die christliche Enkelin, den christlichen Neffen gekauft hat, weitere Geschenke nach sich zogen: Wie sollte man schließlich den muslimischen Kindern erzählen, dass sie aufgrund ihrer Religion leider leer ausgehen würden?
Natürlich sind diese Art geteilter Feste nicht eine exklusive Angelegenheit des Libanon, aber in einem derart multireligiösen Land nehmen sie doch eine ganz besondere Bedeutung ein. Man könnte natürlich sagen, dass die Anwesenheit eines Weihnachtsbaums in einem muslimischen Haus einfach ein weiteres Phänomen der neoliberalen Ökonomie ist, die sogar den Glauben des einen an den jeweils anderen verkauft. Doch wie es den Anschein hat, gab es diese Form überlappender Feierlichkeiten in kleinen libanesischen Dörfern schon schon lange vor der Einführung des Kapitalismus…
Der mordende Weihnachtsmann
Als ich entschied, Neujahr dieses Jahr in Izmir zu verbringen, kam es mir daher gar nicht in den Sinn, dass ich vorhatte, den Beginn meines Neujahrs in einem Land zu feiern, in dem man das neue Jahr traditionell im Oktober begeht – dem islamischen Kalender nach. Auf den Straßen der Stadt bemerkte ich schnell, dass ich enttäuscht werden würde: Die Dekoration war spärlich und um Mitternacht stand ich fast alleine inmitten des Konak-Platzes und wartete auf den Andrang. In Wahrheit kam niemand außer ein paar zufälligen Passanten. Als ich zurück in mein Hotel kam, war der Rezeptionist immerhin so freundlich, mir „Merry Christmas“ (sic) zu wünschen.
Ein paar Tage zuvor hatte ich eine merkwürdige Warnung erhalten, die ich nicht so recht verstehen konnte. Ein Junge drückte mir einen Flyer in die Hand mit einem bösartigen Weihnachtsmann hinter einem Weihnachtsbaum, der mit blutigen Kreuzen, Bomben und Panzern geschmückt war. Später erzählte man mir, dass diese makabere Zeichnung von einem Text begleitet wurde, der die Einwohner von Izmir davor warnte, das Neujahr der Christen zu feiern, die die Welt in Blut getränkt hätten. Die gleiche Warnung war auch in einigen Freitagspredigten in den Moscheen der Stadt am 30. Dezember zum Ausdruck gebracht worden und in den sozialen Medien.
Meinen Flyer hatte eine Organisation mit dem Namen Silva Vakfi unterzeichnet. Ich dachte, sie zielten darauf ab, an die Spannungen zwischen Christen und Muslimen in einer Stadt zu erinnern, die blutige Konfrontationen zwischen den Religionsgemeinschaften vor allem während des grauenhaften Sommers und Spätsommers 1922 zur Folge hatten. Gleichzeitig kam mir in den Sinn, dass eine Organisation, die nicht mal zwischen Weihnachten und Neujahr unterscheiden konnte, vielleicht nicht ausreichend qualifiziert war, was geschichtliche Zusammenhänge anging…
Da es in Izmir in der Neujahrsnacht nur wenig zu erleben gab, ging ich früh ins Bett. Nur wenig später wurde ich durch einen Anruf meiner Familie geweckt, die – wie später noch Dutzende andere Anrufer – in Erfahrung bringen wollte, ob ich in Istanbul sei und unverletzt. Ich blieb wach und weigerte mich, die Bilder des Anschlags im Fernsehen anzusehen, aber ich bekam ein Bild nicht mehr aus dem Kopf: das des grünen Weihnachtsmannes von dem Flyer. Hatte sich der Attentäter von Istanbul nicht in genauso ein Kostüm gesteckt?
Endlich im 21. Jahrhundert?!
Am nächsten Tag erhielt ich von meiner Schwester einen Artikel aus The Economist, der auf den 17. Dezember 2016 datiert war und folgenden Titel trug: „Die Zeitmaschine des Prinzen: Saudi Arabien nimmt den gregorianischen Kalender an und zieht Saudi Arabien damit ins 21. Jahrhundert.“ Der Artikel hatte keinen Autor und wurde von einer Karikatur von Claudio Munoz begleitet. Aus dem Stil des Artikels und der Zeichnung ging hervor, dass sich der Journalist über Saudi Arabien lustig machen wollte.
Eine Haltung, die viele Leser in ihren Kommentaren kritisierten. Da Leser nicht selten intelligenter als Journalisten sind, machten sie den Autor darauf aufmerksam, dass es in zahlreichen Ländern der Welt andere Kalender gab und gibt, darunter den japanischen und den iranischen Kalender. Ein anderer Leser erinnerte daran, dass die türkische Regierung seit 1925 den gregorianischen Kalender verwendet, während viele orthodoxen Christen noch heute dem julianischen Kalender anhängen.
Vielleicht erwarten Sie jetzt eine Analyse oder eine Schlussfolgerung von mir, was die oben geschilderten Zusammenhänge betrifft. Da ich aber daran glaube, dass Leser meistens klüger als Journalisten sind, überlasse ich diese Schlussfolgerung Ihnen. Als Gedankenanstoß möchte ich nur darauf hinweisen, dass im Nahen Osten vor Ziehung der künstlichen Landesgrenzen durch die europäischen Mächte im 20. Jahrhundert zeitliche und räumliche Grenzen viel durchlässiger waren. Und trotzdem fanden die Menschen rechtzeitig zueinander, jeder nach seinem eigenen Kalender.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen frohe neue Jahre!
Bilder: Lion Multimedia Production (Titel); Twitter
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