„Der Motor meines ganzen Handelns ist die Gerechtigkeit. Gerechtigkeit in meinem persönlichen Leben; in dem Land, in dem ich lebe; in der ganzen Welt. Ein Leben, in dem ich nicht alles in meiner Macht Stehende getan hätte, um dieses Ideal zu verwirklichen, wäre für mich ein verpasstes Leben.“ So definierte Alice Schwarzer ihr Lebensmotto 1968. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Diesen Dezember wird die streitbare Feministin und Journalistin 75 Jahre alt.
„Gerechtigkeit“, „Macht“, „Ideale“ und „Empathie“ sind Schlagworte, die in ihrem opulenten Werk immer wieder fallen und ihr Lebenslauf macht deutlich, dass sie sich stets um diese Werte sehr bemüht hat, auch wenn sich ihr Gerechtigkeitsverständnis zuweilen dem sehr persönlichen Empfinden dieser leidenschaftlichen Frau unterordnen musste.
Ihr Werk kreist stets um das Thema Macht und ist Grundlage ihres radikalen Feminismus, der keine Toleranz bei der Definition von „Gewalt gegen Frauen“ oder „Prostitution“ zulässt. Verschärft wird dies Haltung durch die Tendenz zum Dogmatischen. Ihre Kritiker betonen stets, dass ihre Haltung zu vielen Themen – Sexarbeit, BDSM, Kopftuch, Genderforschung – festgefahren und intolerant ist.
Doch ganz gleich was ihre Kritiker sagen, in die Geschichte wird sie als „Mutter der Frauenbewegung“ eingehen. Zweifellos ist sie eine der wichtigsten intellektuellen Leitfiguren für weibliche Gleichberechtigung und Befreiung – gegen alle Widerstände und Konventionen ihrer und heutiger Generationen.
Unangepasstheit und Aufbegehren wurden ihr schon in die Wiege gelegt: Alice wird am 3.12.1942 um 8:00 Uhr in Wuppertal geboren. Sie ist das ungewollte und nichteheliche Produkt eines Fronturlaubsflirts. Ihre Mutter entscheidet sich gegen eine Vertiefung der Beziehung zum Liebhaber – und gegen Alice. Diese wächst daher bei ihrem „sehr mütterlichen Großvater“ und ihrer Großmutter auf, die sie als „sehr politisiert mit einem hohen Gerechtigkeitssinn“ beschreibt.
Die ihr vorgelebten verkehrten Geschlechtsrollen waren prägend für sie. Besonders ihr liebevolles Verhältnis zum eher im Hintergrund agierenden Großvater beeinflusste ihre Einstellung zu Männern stark. Überhaupt kann sie privat sehr gut mit Männern. Und auch in Interviews und TV-Auftritten ist immer wieder zu sehen, wie viel entspannter und humorvoller sie mit den ihr nicht gefallenden Argumenten von Männern umgehen kann als mit denen andersdenkender Frauen. Zum Beispiel beim medienwirksamen Streit zwischen ihr und Verona Feldbusch oder weniger dramatisch mit der Philosophin Barbara Bleisch.
Auch mit ihrer progressiven, atheistischen Großmutter hatte sie keine einfache Beziehung. Doch ist sie stolz auf deren gelebten Widerstand gegen die Nazis und die Solidarisierung mit den Opfern. Spannend, dass Schwarzer mit 12 entscheidet, sich evangelisch taufen zu lassen. Auch wenn sie betont, wie frei ihre Kindheit war, frage ich mich, ob dies nicht vielleicht daran lag, dass sie nicht genug ideelle Werte in ihrer Kindheit vermittelt bekam.
Mit 21 Jahren findet sie sich nach einer kaufmännischen Ausbildung als gelangweilte Sekretärin in Schwabingen wieder. Ein Bekannter, der ihr Anfang 1964 von seinem Journalistikstudium berichtet, inspiriert sie schlagartig, es ihm gleich zu tun. Schwarzer beschreibt dies als eine spontane Eingebung, in der sich alle ihre Vorlieben – Politik, Schreibtalent, Zeitungslesen auf einmal zu einem Berufsbild kristallisierten – mehr als ein Hauch von Berufung lag in der Luft.
Da sie kein Abitur hat, setzt sie sich am 18.4.1964 in einen Zug nach ihrem „Sehnsuchtsort“ Paris, um die Welt kennenzulernen und sich dann zu bewerben. Bald schreibt sie erste Artikel aus der Ferne in die Heimat. Im Sommer 1965 trifft sie an der Seine auf Bruno, ihre erste große Liebe.
Seinetwegen – völlig unfeministisch, wie sie später bemerkt – kehrt sie Deutschland von 1970 bis 1974, wohin sie 1966 eigentlich zurückgekehrt war, erneut den Rücken. Sie entscheidet sich für die Beziehung und gegen ihre interessante Festanstellung als Reporterin, die sie sich in der Heimat erkämpft hatte. Doch auch in Paris findet sie schnell Arbeit als freie politische Korrespondentin und studiert Psychologie und Soziologie bei Michel Foucault. Es sind prägende und vorbereitende Jahre für ihren weiteren Weg.
Durch ihr Studium wird sie ab 1971 aktiver Teil der sich formierenden Frauenbewegung MFL. Anders als in der linken Szene fühlt sie sich im Kreise der aufbegehrenden Frauen sofort heimisch und radikalisiert sich innerhalb kurzer Zeit. Besonders wichtig ist dabei der Einfluss der Philosophin Simone de Beauvoir. Von 1971 bis 1983 entstehen zahlreiche Interviews mit der Frau, die zu ihrem feministischen Idol wird. Auch Beauvoir schätzt die junge Frau – vielleicht sah die Vorreiterin der streitbaren Frauen in ihr eine würdige Nachfolgerin?
Ebenfalls 1971 initiiert Schwarzer die berühmte deutsche Kampagne »Wir haben abgetrieben«, in der sich am 6. Juni 374 mutige Frauen im Stern zu ihren Abtreibungen bekennen, darunter Romy Schneider und Senta Berger. Als ihr Engagement für die Frauenbewegung in Deutschland immer stärker wird, trennt sie sich 1975 von Bruno und zieht nach Berlin. Noch ist sie eher in intellektuellen Kreisen bekannt, als sie das legendäre Streitgespräch mit der Anti-Feministin Esther Vilar, aufgezeichnet am 14.1. und ausgestrahlt am 6.2., mit einem Schlag in der ganzen Republik berühmt macht. Danach beschimpft die BILD sie zum ersten Mal als „Hexe mit dem stechenden Blick“.
Nachdem ihr größter Bucherfolg von insgesamt 19 Büchern, „Der kleine Unterschied“, im August 1975 erscheint, brechen allerdings weit heftigere Demütigungen und öffentliches Vorgeführtwerden über sie herein. „Jeder andere wäre verstummt,“ resümiert sie später über diese Zeit. Sie hielt durch und ist seither die bekannteste und umstrittenste Frau des deutschen Feminismus‘.
In dieser harten Zeit zeigt Schwarzer, was für eine Kämpferin in ihr steckt. Anstatt den Kopf in den Sand zu stecken, investiert sie ihre Bestseller-Tantiemen im Herbst 1976 in die Gründung des Emma-Verlags. Am 26. Januar 1977 erscheint die erste Ausgabe der Frauenzeitschrift, die dieses Jahr ihren 40. Geburtstag als unabhängiges politisches Kampagne-Magazin feiern konnte. Ihre wichtigsten Themen waren und bleiben Pornografie, Prostitution, Körperbild, Islam, Abtreibung, Muttersein, Karriere und Geschlechterdefinitionen.
Schlagzeilen machte Emma häufig, zum Beispiel als sie den Stern 1978 wegen Pornographie und sexueller Gewalt verklagte und verlor oder 1993 das Werk von Helmut Newton zerriss.
Immer wieder betont Schwarzer, dass sie Emma als Mutter nicht hätte machen können und bezeichnet das Blatt gern als ihr Baby. Die Publizistin hat sich ein sehr geliebtes, kontrovers diskutierendes und streitbares Kind geschaffen. Kein Wunder, dass es ihr so schwer fällt, es los zu lassen. Anfang 2008 wäre es fast einmal so weit gewesen. Zu ihrem 65. Geburtstag überkamen Schwarzer Rückzugsgelüste. Doch die neue Chefredakteurin konnte sich nur wenige Wochen behaupten, bevor die Hausherrin wieder die Zügel des Verlags an sich nahm. Der Generationswechsel misslang.
In den Jahren zuvor war es nie wirklich ruhig um die rege Frau geworden. Immer auffälliger wurde: Nicht nur in ihrem Redaktionsbüro ließ sie neue Gesinnungen nicht zu, auch allgemein beklagte Schwarzer schwindendes Engagement der Frauen für die eigene Sache und einen zunehmenden „Wellnes-Feminismus“. Als Leitfigur der 2. Feminismuswelle in Deutschland tat und tut sie sich schwer, das Gedankengut der jüngeren Denkerinnen der 3. und 4. Welle zuzulassen. Auch andere Widersprüche taten sich auf. Vielen Anhängern schien es beispielsweise befremdlich, dass sie staatliche Auszeichnungen wie 2005 das Bundesverdienstkreuz annahm oder sich 2007 ausgerechnet von der BILD in eine Werbekampagne einspannen ließ.
Noch stärkeres Unverständnis fand ihre Rolle im „Kachelmann-Prozess“, der sich vom 6. September 2010 bis zum 31. Mai 2011 hinzog. Dass sie wiederum ausgerechnet die BILD als Sprachrohr für ihre heftige Vor- und Nachverurteilung des wegen Vergewaltigung angeklagten Jörg Kachelmann nutzte, brachte ihr wenig Sympathie ein. Nachvollziehbar, dass sie in ihren medialen Attacken auf den Angeklagten einen Stellvertreterkampf für alle betrogenen, gedemütigten, sexuell ausgebeuteten Frauen austrug, egal, ob Kachelmann schuldig war oder nicht.
Abgeschlossen ist der Fall keineswegs: Im Februar 2017 sprengte Kachelmann eine ihrer Vorlesungen. Die Geister, die ich rief… Im Herbst 2011 erschien auch ihre Autobiographie, in der sie zum ersten Mal ausführlich über ihr Privatleben berichtete. Unter anderem outet sie sich dabei als in einer langjährigen lesbischen Beziehung lebend.
Ihre moralischen Ansichten über Fairness und Gerechtigkeit, die sich zuletzt im Kachelmann-Prozess so eindrücklich Bahn brachen, fallen ihr auf den Kopf, als der Spiegel sie am 2. Februar 2014 als Steuersünderin enttarnt. Die Schadenfreude ist verständlicherweise groß. Hier hätte sie eine Chance gehabt, ein wenig demütiger und den Fehlern anderer verzeihender entgegenzutreten, aber auf eine demütigere „neue“ Alice wartet die Welt bis heute.
Inzwischen gibt es für sie sowieso wichtigere Themen. Entfacht durch die „Kölner Silvesternacht 2015“ widmet sie sich voller Leidenschaft ihrem Kampf gegen Islamisierung und entfremdet die jungen Frauen ihrer Bewegung immer mehr. Während letztere das Idealbild einer Welt postulieren, in der jede/r ohne Geschlechtsbezug einfach Mensch sein kann, bleibt für Schwarzer klar: Die Verhältnisse, die sind nicht so!
Daher ist für die große Praktikerin des Feminismus auch mit 75 Jahren nicht an Abdanken zu denken. Ihre Gabe, das große Ganze der Frauenbewegung zu sehen und weniger Augenmerk auf die individuelle Entfaltung zu legen, hat sie längst über den europäischen Tellerrand hinaus blicken lassen. Wenn die europäischen Frauen sich nicht mehr hinter sie stellen, ist weltweit immer noch genug zu tun.
Auch ich gehöre zu den Frauen, die aus heutiger Lebensperspektive ihren Dogmatismus bei vielen Themen nicht nachvollziehen können. Doch weiß ich, dass ich mir diesen Luxus nur leisten kann, weil sie tat, was sie tun musste. Also wünsche ich dieser großartigen und wilden Frau ein fantastisches Jubeljahr. Mögen noch viele folgen.
Titelbild: Alice Schwarzer bei der Gala zur Verleihung des Fernsehpreises Romy in der Hofburg in Wien; Foto: Manfred Werner (Tsui) (CC BY-SA 3.0)
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