Kevin Garwood und sein Sohn Nicholas treiben ambitioniert Sport. Sehr ambitioniert. Sie bestreiten Triathlon-Wettbewerbe, am liebsten die anspruchsvollsten: Ironmans. Und das, obwohl der 15-jährige Nicholas zerebrale Kinderlähmung hat. seinsart war beim Ironman Südafrika dabei.
Der Anblick ist unglaublich: Tausende von Schwimmern stürzen sich um 6.30 Uhr frühmorgens bei Port Elizabeth, Südafrika, gleichzeitig in den Indischen Ozean. Das Meer ist voll von Neoprenanzügen und rudernden Armen. Es ist ein Gewimmel, ein Gerangel um Platz für die Arme all der Männer und Frauen, die möglichst schnell den Boden unter ihren Füßen verlieren wollen, gegen die Wellen und die Brise ankämpfen, satte 3,7 Kilometer lang, allein aus der Kraft der eigenen Arme und Beine.
Mittendrin in dieser Gischt aus Salzwasser und dem ersten Schweiß sieht man einen orangeroten Fleck mit einem gelben Mittelpunkt, der sich langsam, aber sicher durch die Schwimmer manövriert. Ein Boot mit einem Passagier in Rettungsweste, dessen Arme immer wieder voller Energie und Schwung durch die Luft rudern. Nicholas Garwood. Wer noch näher rankommt, entdeckt, dass ein Schwimmer das kleine Kajak über einen Gurt um die Taille zieht: Kevin, der Vater von Nikki. Das Team Garwood bestreitet heute zum zweiten Mal den Ironman Südafrika, einen der schwersten Triathlons der Welt.
Ein neues Leben im Team
Nikki ist 15 Jahre alt. Er hat eine spastische Form der infantilen Zerebralparese, auch zerebrale Kinderlähmung genannt. Und er hat einen Vater, dessen sehnlichster Traum es schon immer war, mit seinem Sohn zusammen Sport zu treiben. Der nicht akzeptieren wollte, dass sein Sohn kein aktives Leben nach seinen eigenen Vorstellungen führen können soll. Um mehr Zeit mit ihm verbringen zu können und für ihn da zu sein, hat er seinen Job an den Nagel gehängt, als Nikki zwei Jahre alt war. Kevin ist Südafrikaner, er lebt mit seiner Familie in Johannesburg. Sein Sohn und der Sport sind sein Leben – was den Triathlon angeht, stimmt das allerdings erst seit fünf Jahren.
Ganz früher ist Kevin Garwood gelaufen, wenn auch nicht sehr intensiv. Dann, beginnend vor etwa acht Jahren, gab es eine lange Phase, in der er praktisch keinen Sport trieb. „Ich hatte nicht einmal ein paar Laufschuhe“, erzählt er. Dafür hatte er zehn Kilogramm Übergewicht und wusste nicht recht, was er mit seinem Körper anfangen sollte. Und mit seinem Traum von einem sportlich aktivem Leben mit seinem Sohn. Denn: Was kann ein kleiner Junge mit Handicap schon machen, sei er auch noch so voller Energie und Lebenslust wie Nikki? Er kann schließlich nicht alleine gehen und stehen, die Koordination seiner Arme und Beine ist stark eingeschränkt.
Die Frau seines Pastors wies Kevin auf ein Internetvideo hin, in dem der Amerikaner Dick Hoyt mit seinem behinderten Sohn an einem Triathlon-Wettbewerb teilnimmt. Für Kevin war dieses Video wie ein Wecker: Er wachte in einem neuen Leben auf. „Bis dahin hatte ich nicht nur das Handicap meines Sohnes einfach akzeptiert, es war, als hätte ich mir selbst ein Handicap auferlegt, das meinen Bewegungsdrang einschränkte“, erzählt er. Was er sagt, kann man kaum glauben, wenn man den durchtrainierten 50-Jährigen heute sieht – und die Intensität der Beziehung, die im „Team Garwood“ herrscht.
Die Wiege der Ironmen
„Ich zeigte meinem Sohn damals das Video und fragte ihn, ob er sich Triathlon mit mir vorstellen könnte“, erzählt Kevin. „Und ob ich das will!“ Nikki war Feuer und Flamme. Er ist ziemlich ehrgeizig, wie wir noch erfahren sollen.
Kevin stieg mit einem Mountainbike ins Training ein, war aber so untrainiert, dass es weder ihm noch Mitfahrern Spaß machte, zusammen zu fahren. Mit dem Wike, auf den ihn ein Freund aufmerksam machte, schien die Motivation allmählich Früchte zu tragen. Das ist ein Multifunktionsgerät, ein Trailer und großer Jogger zugleich. Darin konnte Nikki am Training per Bike und beim Laufen teilnehmen. Trainiert wird seit langen Jahren im Cradle-of-Humankind-Gebiet, also der „Wiege der Menschheit“, einem weltbekannten Naturschutzgebiet, das fast direkt an Johannesburg angrenzt. Dort flitzen die beiden beispielsweise auch an Löwengehegen entlang. Den ersten Duathlon beendeten sie als Letzte – aber sie waren Finisher!
Irgendwann kam der erste Ironman Südafrika. Da durfte Kevin ganz überraschend die Radstrecke nur alleine absolvieren: „Das Wetter war sehr schlecht, und die Teilnahme mit Hänger schien dem Veranstalter zu gefährlich“, erklärt er. Natürlich gab es immer wieder Rückschläge auf dem Weg der zwei Ironmen, „aber wir sind einfach drangeblieben“, meint Kevin lapidar. „Es ist immer wieder die unglaubliche Herausforderung, deshalb betreiben wir Triathlonsport“, sagt Kevin mit für einen nüchternen Menschen wie ihn sehr verträumten Augen.
Steil aufwärts ging es, als Kevin vor drei Jahren über das Internet das ideale Bike für das Team Garwood entdeckte: Das Tandem Pino des deutschen Herstellers Hase Bikes. Bei diesem „Teambike“ sitzt der Captain hinten. Der vordere Sitz ist ein Liegesitz, sodass auch Menschen mit Handicap dort sitzen können. Die Beine von Nicholas können sicher angeschnallt werden. „Und noch etwas ist toll an diesem Rad“, erklärt Kevin: „Durch die Kombi von Liegesitz und Sattel sind wir uns sehr nahe. Ich kann während der Fahrt mit Nikki reden und merke schnell, wenn er irgendetwas braucht. Außerdem kann ich ihn so auch füttern und aufpassen, dass er genügend trinkt.“ Natürlich ist ein mit zwei Personen besetztes Tandem schwerer als die Highend-Triathlonmaschinen für den Rennsport, auf denen die meisten anderen Teilnehmer fahren. Doch das ist nicht das Entscheidende für das Team. Es ist das gemeinsame Erleben.
„Go, Dad, go!“
Und so liegt am heutigen Tag um halb sieben morgens ein 15-jähriger Junge mit zerebraler Kinderlähmung johlend und jauchzend in einem Boot unter Tausenden von Schwimmern, durch die ihn sein Dad hindurchschleust. Und er feuert ihn an: „Go, go, go, Dad!“ Bis zur ersten Boje, die alle links passieren müssen, ist es schwierig: Es ist eng, die Schwimmer sind noch nervös, jeder versucht, seinen Rhythmus zu finden und gleichzeitig eine gute Ausgangsposition.
Dann wird es ruhiger. Der Mann mit dem Kajak am Gurt ist gut im Takt, fühlt sich wohl mit seiner Fracht am Haken. Jetzt zieht die Taktik des besonnenen Sportlers. „Ich habe mir Gruppen gesucht, die in etwa meine Geschwindigkeit schwimmen, und habe mich drangehängt“, erzählt er später. „Und immer wenn ich eine Gruppe verließ, dann nur, um mich einer anderen anzuschließen, die mehr zu meinem Speed passte.“ Für das Schwimmen hatte Kevin im letzten Jahr sehr hart trainiert. Mit Erfolg, es ist heute seine stärkste Disziplin.
Home is where my school is
Nicholas’ Krankheit rührt von einer Sauerstoff-Unterversorgung seines Gehirns her. Die Nabelschnur hatte sich im Mutterleib um seinen Hals gewickelt, die Entwicklung des Gehirns wurde stark gebremst. Später stellten die Ärzte die Diagnose: Nikki wird nie sprechen können. Doch die Mediziner rechneten nicht mit Elternliebe, die Kevin und Cheryl Nikki entgegenbrachten. Nicholas kann heute sprechen, kann sogar lesen und schreiben, hat sich wesentlich weiter entwickelt, als die Ärzte es vermuteten. Auch ein Ergebnis davon, dass Kevin seinen Sohn seit Jahren zu Hause selbst unterrichtet. Zwar gibt es in Südafrika Schulen ähnlich den deutschen Förderschulen, doch „unser Sohn wurde hier zu wenig gefördert“, erzählt der Vater. Die Schule, die Nikki einige Jahre besuchte, war vor allem auf ADHS ausgerichtet.
Nicht nur Nicholas hat sich durch den Hausunterricht weiterentwickeln können: Man merkt den beiden Sportsfreunden an, dass eine enorm enge Beziehung zwischen ihnen besteht. Der Junge ist nicht nur ein echter Teamplayer – er ist ein Bekannter in der Tria-Szene, er und sein Vater sind beinahe Stars. Schon bei den Vorbereitungen zum Rennen am frühen Morgen kommen befreundete Sportler vorbei, umarmen Kevin, treiben Unsinn mit ihm und wünschen dem Team viel Glück. „Wir sind in der Triathlon-Gemeinde ganz ohne Vorbehalte aufgenommen worden, das ist wunderschön“, erzählte Kevin.
Dass Nicholas ein Handicap hat, spielt dabei keine Rolle: Die Sportsfreunde verkehren auf Augenhöhe. Nikki lacht, ist überschwänglich und mit seiner emotionalen, aufgeschlossenen Art bei allen, die ihn kennen, beliebt.
Warten auf den Erfolg
Nikkis Mutter Cheryl geht am Strand auf und ab und wartet auf die Ankunft ihrer Männer. Die quirlige Frau ist mit Herz und Seele dabei, wenn das Team Garwood einen Ironman, einen halben Ironman oder einen anderen Triathlon absolviert – immerhin sind das fünf bis sechs Wettkämpfe im Jahr. „Nur das Warten, das Warten ist so anstrengend für mich, ich warte so viel auf die beiden“, lacht die IT-Spezialistin, die dafür sorgt, dass die Finanzen dafür vorhanden sind, damit die Sportskanonen das machen können, was die Familie als Team zusammenschweißt.
7.45 Uhr: Plötzlich sind sie da. Erschöpft, aber prallvoll mit Adrenalin und ebenso hoch motiviert kommt das Team aus dem Wasser – mit einer fantastischen Zeit: Kevin brauchte 1:15 Stunden für 3,7 Kilometer Schwimmen mit Nikki im Anhang – und zwar nicht im ruhigen Wasser des Schwimmbads, sondern im Indischen Ozean.
„Ich habe einen erstklassigen Trainer“, winkt er bescheiden ab, als wir ihn auf seine Leistung ansprechen. Aber schließlich meint er: „Auf der letzten Teilstrecke haben wir aufgeholt und sind sogar an vielen aus der zweiten Startergruppe vorbeigezogen – stimmt schon: Wir waren beim Schwimmen richtig gut!“ Kevin Garwood ist – bei aller Willenskraft, die schon auf den ersten Blick erkennbar ist – ein emotional eher zurückhaltender Typ. Besonnen. Aber immer das Ziel vor Augen. Und wer genau zuhört, bemerkt: Kevin spricht immer vom „Wir“. Das Team ist es, das am Ende zählt. Und er übertreibt nicht. Das Team gibt die Kraft – und er setzt sie frei.
Jetzt muss alles schnell gehen. Cheryl hilft beim Umziehen, eine Stärkung für beide ist fällig. Dann wird Nikki aufs Pino gesetzt, seine Füße werden festgeschnallt. „I want my medal. I want my medal!“ fordert er strahlend, aber mit durchaus ernst zu nehmendem Anspruch. Und ab geht’s. „Radfahren ist für mich der härteste Teil“, hatte Kevin uns vor dem Rennen noch erzählt. „Wir haben hart trainiert und auch Fortschritte gemacht. Aber wir müssen natürlich auch deutlich mehr Gewicht als die anderen die Berge hochschieben“, grinst er. „Genau das ist die Herausforderung dabei.“
Die Berge sind diesmal besonders anspruchsvoll: Die Radroute ist seit letztem Jahr geändert worden, es gibt jetzt zwei lange, heftige Anstiege, die es in sich haben. Zu allem Überfluss ist der Gegenwind auf großen Teilen der Strecke ein übermächtiger Gegner, der seinen Tribut fordert: Viereinhalb Stunden braucht das Team Garwood für die erste Runde. Für die zweite muss Kevin alle Reserven mobilisieren, denn wer nach dem Bike-Cut-off kommt, wird aus dem Rennen genommen!
Das Letzte geben
An der Radstrecke treffen wir Cheryl wieder. Sie ist nervös: „Sie müssen jetzt alles geben, um noch aufzuholen. Sie müssen in der Zeit bleiben!“, ruft sie uns schon von Weitem entgegen. Wir warten. „Das ist toll“, sagt sie: „Wenn es darauf ankommt, ist unser Sohn immer schon ein Vorbild an Glauben und Durchhaltekraft für uns gewesen.“ Hinter einer Kuppel taucht endlich das Team Garwood auf, erkennbar aus der Ferne an der Kombi aus Liegesitz und Sattel. Sofort fangen wir an, die beiden anzufeuern. Ein „Go, Daddy, go!“ ist schon vernehmbar. Der peitschende Rhythmus bricht nicht ab. Vor Anstrengung verzerrte Gesichter, aber der Blick immer noch voller Energie und ein ernstes Lächeln, so passieren sie uns. Und sie haben aufgeholt. „Still they have to catch up!“ Sie geben alles. Cheryl schaut aufgeregt auf ihre Uhr. Wird es reichen?
Es reicht nicht: Am Ende ist das Team zehn Minuten über dem Limit. Das ist das Aus für das Team Garwood für diesen Ironman South Africa. Die Enttäuschung der beiden ist groß. Nikki weint hemmungslos, ist nicht mehr zu beruhigen. Kevin ist gefasst wie immer – aber man merkt ihm seine große Enttäuschung an. „It’s okay“, sagt er immer wieder, „we did try it, we did try it!“ Nicholas wird länger brauchen, um sich zu beruhigen.
Doch auch wenn er es jetzt noch nicht realisiert: Eine Niederlage war das nicht. Dieser Ironman war ein weiterer Meilenstein in Sachen Teamplay. Es hat die beiden noch näher zusammengebracht. Und mit der Leistung haben Kevin, Nikki und Cheryl einmal mehr gezeigt, wozu echte Teams fähig sind. Wie unglaublich intensiv es sein kann, sich gemeinsam einer Herausforderung zu stellen. Und das Team Garwood hat einmal mehr gezeigt, wie glücklich Menschen mit und ohne Handicap zusammenleben können. „Der gemeinsame Wettkampf hat uns noch einmal viel, viel näher gebracht“, erklärt Kevin immer wieder.
Auch wenn er dieses Jahr kein Finisher war: Nikki wird auch in Zukunft in seinem Jogger oder auf dem Pino sitzen und mit weit ausgebreiteten Armen rufen: „I am an Ironman! I am an Ironman!“ Und das stimmt.