Wir sprechen von Flucht, wir sprechen über Flüchtlinge. Das Leid, die Ängste und die Hoffnungen der zu uns Strömenden rufen ganz instinktiv unsere eigenen Ängste und Hoffnungen auf den Plan. Angesichts der Heimatlosen fragen wir uns, was aus unserer Heimat wird, aus unserer Identität. Wir fragen uns, welche Rolle wir spielen werden in einem Land, das sich verändert, weil sich die Welt um uns herum in ein Irrenhaus verwandelt hat.
Die Heimat zu verlieren – diese leicht zu zitierende und schwer zu begreifende Phrase – trägt einen Schmerz in sich, der an anderen Orten, zu anderen Zeiten längst Wirklichkeit geworden ist. Die Hispanisierung al-Andalus‘, die Türkisierung Istanbuls, die Polonisierung Breslaus sind Beispiele für einen historischen Heimatverlust, der unumkehrbar real geworden ist. Immer war er die Folge eines Krieges, einer Eroberung, einer politischen Zäsur, die sich in einem fortwährenden Wandel der Bräuche und Sprache bei gleichbleibender Verortung manifestierte.
Städte, die die Nationalität gewechselt haben, sind demnach kein junges Phänomen. Sie sind weit älter als das Konzept des Nationalismus und wurden durch diesen eher verschärft denn verhindert. Was aber haben solche Städte mit Orten zu tun, die sich langsam weiterentwickeln und verändern, sei es durch Einwanderer, neue Regierungsformen oder neue Religionen?
Sehnsucht als politisches Kapital
Dem physischen Verlust der Heimat steht hier das diffuse Gefühl gegenüber, fremd im eigenen Land zu sein. Und während Vertriebene historische Wunden lecken und zwangsläufig optimistisch in die Zukunft sehen, nimmt diese für Zeugen des Wandels im eigenen Land bedrohliche Formen an. Die Sehnsucht der Griechen nach Konstantinopel, die Sehnsucht der Araber nach Andalusien und die Sehnsucht der Deutschen nach Breslau – sie alle sind in eine mythische, fast vorwirkliche Zeit entrückt; die Sehnsucht der Heimatverteidiger nach ihrer eigenen goldenen Vergangenheit aber nimmt im Gegenteil stetig zu.
Diese Sehnsucht ist das politische Kapital der Gegenwart. Überall in der Welt werden damit Wahlen entschieden, sei es mit der Sehnsucht der Türken nach dem Osmanischen Reich, der Sehnsucht der Franzosen nach der Grande Nation, der Sehnsucht der Briten nach ihrem Empire oder der Sehnsucht der Russen nach sowjetischer Größe. Wir sind Zeugen eines Zeitalters des „hüzün“, jenes schwermütigen Gemütszustands, den der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk wie folgt beschreibt:
„Da es sich dabei nicht um etwas Transparentes handelt, sondern vielmehr um etwas, womit man die Wirklichkeit verhängt, um besser mit ihr zurechtzukommen, könnte man ‚hüzün‘ mit dem Dampf vergleichen, der sich an einem kalten Wintertag auf einem Fenster niederschlägt.“
Pamuk, der „hüzün“ für ein Charakteristikum seiner Heimatstadt Istanbuls hält, betont, dass es sich dabei nicht um das Leiden eines einzelnen Menschen handelt, sondern um „millionenfach erlebte Kultur, Atmosphäre, Empfindung.“ Während Istanbul längst seine Rolle als Hauptstadt und kultureller Ankerpunkt eines islamischen Riesenreichs verloren hat, ist Europa gerade erst dabei, in seine nationalen Bestandteile zu zerfallen. Wie zu Zeiten von Atatürk ist es eine fatale Mischung aus Wirklichkeitsfremde der Zentralregierung und Partikularinteressen lokaler Kräfte, die der multinationalen Einheit ein für alle Mal ein Ende zu bereiten droht.
Fremd im eigenen Land
Was derzeit in Aleppo geschieht – vor unserer aller Augen, zumindest aber mit unserer aller Wissen – ist in der neueren Geschichte beispiellos. Wenn von Stadtvierteln und Straßenzügen die Rede ist, die von Rebellen gehalten oder von Russen bombardiert werden, so geht es längst nicht mehr um von Menschen bewohnte Häuser, sondern um in Trümmer verwandelte, zurückgelassene Heimaterde, die keine Hoffnung mehr erschüttert, keine Freude mehr berührt. Wir haben es mit Geisterstädten zu tun, die umkämpft werden, weil sie einmal so etwas wie Bedeutung besaßen – historisch, strategisch, wirtschaftlich, vor allem aber persönlich, individuell.
Aleppo und vergleichbare Orte in Syrien werden wohl wieder bevölkert werden – und im Gegensatz zu Andalusien, Istanbul oder Wrocław durch Heimkehrer und Neuankömmlinge des gleichen Zungenschlags. Was aber wird ihnen diese Heimat geben können außer Arbeit und Hoffnung, dass eines Tages Häuser auf Trümmern, Leben auf Leichenbergen folgen werden? Werden sie sich fremd im eigenen Land fühlen oder als Angehörige einer Stunde 0, die es zu feiern gilt?
Etwas über 100 km weiter westlich hat man eine solche Stunde 0 bereits hinter sich. Vor 26 Jahren, als sich die Berliner aus Ost und West in die Arme fielen, ließen im Osten und Westen Beiruts die Milizen ihre Waffen fallen, mit denen sie sich und ihre Familien über Jahre terrorisiert hatten. Beirut, diese Stadt, die ohne Rücksicht auf ihre Geschichte so hemmungslos nach Zukunft giert, hat die meisten seiner Wunden längst geschlossen, zumindest aber betäubt.
Diese Lust an der Gegenwart mag auch daher rühren, dass Beirut selbst die Schöpfung von Flüchtlingen aus verschiedenen Ecken des osmanischen Reichs und seiner Nachfolgestaaten ist. Die libanesische Hauptstadt kann ein Beispiel sein für das Nachkriegssyrien, das heute noch in weiter Ferne scheint. Ein Syrien, das nur weiter bestehen kann, wenn es nicht nach Rache dürstet, sondern auf gemeinsamen Interessen gegründet ist. Und wenn man der Versuchung widersteht, das künstlich geschaffene, aber längst vereinte Land in natürliche, heute künstliche Entitäten zu zerschlagen.
Die gute alte Zeit
Und wir? Die deutschen Städte, die sich ebenfalls wandeln, weil Kriege Orte wie Aleppo oder Homs in Ruinenhügel verwandeln? Im Gegensatz zu den Vertriebenen aus Syrien haben wir unsere Heimat nicht verloren und werden sie, im Gegensatz zu den Flüchtlingen aus Andalusien, Konstantinopel oder Breslau, auch nie aus den Augen verlieren. Sie wird sich weiter verwandeln – wie sie es seit Jahrhunderten tut. Die gute alte Zeit ist schon deshalb eine Schimäre, weil sie offen lässt, wann wir sie verorten. Vor dem Zuzug der Hugenotten? Vor der Ermordung der Juden? Vor dem Fall der Mauer?
Jeder trägt seine ganz eigene gute alte Zeit in sich. Diese zu objektivieren und gar anderen Menschen abzuverlangen, ist nicht politisch, sondern pathologisch. Zugleich ist Heimat viel zu wichtig und Exil viel zu schmerzhaft, um sie als Munition in einem ideologischen Grabenkampf zu verwenden. Gerade wir Deutschen, ein Volk von Auswanderern und Zuwanderern, die wie kaum eine andere Nation Vertreibung verursacht und erlitten haben, besitzen einen kulturellen Instinkt für das Leid der Entwurzelung, dessen wir uns erinnern sollten.
Die Hoffnungen der Heimatlosen können uns lehren, dass „hüzün“ keine Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung sein kann. Die Welt als Spielplatz des europäischen Reichs mag untergegangen sein; doch auf den Trümmern von Werten, die nur für uns selbst gelten, kann mit etwas Empathie und Verstand so etwas wie eine bessere Welt entstehen. Wenn wir es richtig anstellen, hat die gute alte Zeit noch nicht einmal begonnen.
Bild: niekverlaan (Titel), Rico_Loeb (Osterreiter), yad (Aleppo)
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