Das Berliner Galli-Theater war gut gefüllt an diesem Montagabend. Die Rahmenbedingungen der Veranstaltung waren auch wirklich vielversprechend: Anlässlich einer Buchpräsentation hatte der Heyne-Verlag in Aussicht gestellt, in Zeiten wachsenden gesellschaftlichen Unmuts die ausufernde Parteienherrschaft und die damit einhergehende schrumpfende Volkssouveränität zu diskutieren – und das mit der ebenso beliebten wie umstrittenen Spitzenkandidatin der Linken, Sahra Wagenknecht.
Als gleich zu Beginn der Veranstaltung verkündet wurde, dass die Politikerin aufgrund einer Erkrankung nicht vor Ort sein würde, war die Enttäuschung dementsprechend groß. Die wenigen, frei bleibenden Plätze im Auditorium mögen auf geladene Gäste zurückgehen, die diese Planänderung – wie der Autor – noch vor Beginn des Abends erfahren haben. Der „Rest“ der Gesprächsteilnehmer, immerhin der Autor des vorgestellten Buchs – Hans Herbert von Arnim – und der Deutschlandfunk-Korrespondent Frank Capellan, trat kein leichtes Erbe an.
Die Kernaussage des Verfassungsrechtlers ist rasch skizziert: Längst sind es nicht mehr die Bürger, die die gestaltende Macht im Staate besitzen, sondern die Parteien und ihre Kader, die sich weit über ihre Kompetenzen hinaus in fast allen Bereichen des öffentlichen Lebens festgesetzt haben. Aus einem Vehikel zur Organisation des politischen Volkswillens ist spätestens durch den Verfassungstheoretiker und Bundesverfassungsrichter Gerhard Leibholz (1901–1982) ein sich selbst erhaltendes System fortwährender Machtanmaßung geworden – gemäß der Losung der Parteienstaatslehre, die Parteien seien gewissermaßen das Volk.
Dass dem geneigten Zuhörer durchaus historische Parallelen in den Kopf steigen konnten (an die Stelle der festgelegten Sitze bei den Wahlen der DDR sind in der BRD feste Wahllisten getreten, die die freie Wahl eines Abgeordneten verunmöglichen), war wohl ebenso erwünscht wie die Beschwörung der kritischen Oppositionsparteien FDP und AfD. Wieviel Macht der Souverän des demokratischen Staates angesichts des allgegenwärtigen Parteienkartells überhaupt noch besitzt, wurde denn auch gleich von mehreren Seiten beleuchtet – von der Innovation hemmenden „Ochsentour“ junger Parteisoldaten bis hin zur Ernennung der eigenen Kritiker im Bundesverfassungsgericht.
Echte Alternativen zum bestehenden politischen System (das dem Autor zufolge immerhin „Klagen auf hohem Niveau“ ermöglicht) waren an diesem Abend Mangelware. Der Ruf nach „mehr direkter Demokratie“ und Volksentscheiden auf Bundesebene wirkte angesichts mangelnder Durchsetzbarkeit kraftlos und ein wenig bemüht. Arnim, der nicht müde wurde, ein und denselben Gedanken in epischer Länge und buchhalterischer Spannkraft zum Besten zu geben, gelang es nicht, das zwischen Linksaußen und besorgtem Bürger angesiedelte Publikum zu jenem Widerstand zu inspirieren, den er selbst für die Voraussetzung eines „Aufbrechens des bundesrepublikanischen Panzers“ hält.
Als Beispiel für den Duktus der Veranstaltung sei hier eine kurze Stelle zitiert, in der von Arnim seine Idee einer „Alternativstimme“ bei den anstehenden Bundestagswahlen erläutert:
Ob Sahra Wagenknecht den Abend gerettet hätte, sei dahingestellt; als sicher gelten dürfte aber, dass sie der deutlich an Esprit und Geschwindigkeit mangelnden Veranstaltung nicht nur optischen Glanz verliehen hätte. Der zweifellos aufregende Gegenstand der Veranstaltung drohte nicht nur stellenweise in einer Mischung aus umständlicher Vorlesung und etwas ratloser Moderation zu entschlafen.
Man könnte auch sagen: Mission erfüllt! Die frischesten Gedanken dieses Abends formulierte tatsächlich das Volk in Gestalt des anwesenden Publikums. Besser hätte man dem Souverän das fragwürdige Gestaltungsmonopol von Experten nicht vor Augen führen können.
Hans Herbert von Arnim
Die Hebel der Macht und wer sie bedient:
Parteienherrschaft statt Volkssouveränität
erschienen im Heyne Verlag (am 13.02.2017)
ISBN: 978-3-453-20142-2
Preis: € 21,99 [D] inkl. MwSt.
€ 22,70 [A] | CHF 29,90* (* empf. VK-Preis)
Bilder: Nicolas Flessa
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