Wien 2001. In der Küche des „Auge Gottes“ begegne ich meinem ersten Syrer. Als er erfährt, dass ich nach Österreich gezogen bin, um hier Ägyptologie zu studieren, weicht seine ernste Miene einem breiten Lächeln: Zwei Fremde, die sich im Ausland begegnen, um ihre gegenseitigen Muttersprachen zu lernen, das muss gefeiert werden. Auch wenn er den Inhalt meines Studiums nicht ganz korrekt zusammengefasst hat, begehen wir unser Kennenlernen mit einem überwältigend leckeren Abendessen. Nach zahlreichen Tellern mit syrischen Spezialitäten, die er zum Teil eingefroren aufbewahrt, holt er eine Rolle mit Plakaten aus seinem Zimmer, die er mir stolz überreicht. Palmyra ist darauf zu lesen und Aleppo, zum ersten Mal sehe ich die großen Kolonnaden der antiken Wüstenstadt und die Zitadelle einer der ältesten Städte der Welt, der er in unserem Gespräch einen fremdländischen Namen gibt.

Unsere Begegnung, die trotz des gemeinsamen Studentenwohnheims die Zufälligkeit und Kurzlebigkeit einer Reisebekanntschaft hat, wiederholt sich nicht, da ich schon wenige Tage danach in ein anderes Stockwerk des Hauses verlegt werde. In Erinnerung bleibt mir meine Verwunderung über den Nationalstolz auf ein Land, das ich mit einer Diktatur und er mit Monumenten verbindet, die er mir mit dem Stolz eines Besitzers präsentiert, ohne mir die Fragen beantworten zu können, warum sie da sind, wo sie sind, und wer sie wann einmal errichtet hat. Ich erinnere mich an eine außergewöhnliche Freundlichkeit, die zugleich ein anderes Gefühl nicht ganz überdecken konnte und das ich mit Angst identifizierte. Kurzum: Er war mir unangenehm; und das zu fühlen war mir noch unangenehmer. Syrien, das war mir nach dieser Begegnung noch fremder geworden. 

Der Grund meiner Reise ist nicht Syrien, der Grund ist ein billiger Flug und eine anschließende Taxifahrt über die westliche Landesgrenze.

Damaskus 2009. Ich lande zum ersten und bislang einzigen Mal in der syrischen Hauptstadt. Der Grund meiner Reise ist nicht Syrien, der Grund ist ein billiger Flug und eine anschließende Taxifahrt über die westliche Landesgrenze. Es ist kurz nach Weihnachten und am Flughafen begrüßt mich ein geschmückter Plastikbaum und ein geradezu klinisch reiner Marmorboden, der mich nach meinen zahlreichen Reisen nach Ägypten überrascht. Vom üblichen Trugschluss der Europäer, arabische Länder in der eigenen Vorstellung in einen Topf zu werden, hatte mich mein Studium ebenso wenig befreit wie von meinem Unwissen über Stätten wie Palmyra oder Aleppo. 

Zum ersten Mal hatte ich eine Botschaft aufsuchen müssen, um mir ein Visum zu besorgen. Für einen vom Schicksal durch eine mitteleuropäische Geburt begünstigten Menschen ein völlig ungeübter Akt. Die Angestellten hatten mich distanziert, aber freundlich behandelt. Wieder dieses seltsame Gefühl von Angst, aber dieses Mal auf meiner Seite. Alles, was ich über dieses Land wusste, stammte aus den Nachrichten und Wikipedia. Hotspot der Kulturen, vom Sykes-Picot-Abkommen ebenso gezeichnet wie von einer Familie, die seit über 40 Jahren die Geschicke des Landes bestimmt. Der Augenarzt mit der schönen Frau, der Kampf gegen Israel, die Dominanz über das Nachbarland, wegen dem ich nach Damaskus gekommen war.

Wieder so ein undenkbarer Akt für einen Mitteleuropäer: Eine Taxifahrt von der Hauptstadt des einen Landes in die Hauptstadt eines anderen Landes – aus Kostengründen. Das Taxi, das ich am Flughafen vorfinde, kommt mir seltsam vor. Es mag daran liegen, dass man mich davor gewarnt hat, mit dem Fahrer über Politik zu sprechen. Assads Geheimdienst ist gefürchtet und es sei nicht ungewöhnlich, dass Ausländer aus dem Westen fahrende Taxler nach ihrer Arbeit befragt werden – ob aus freien Stücken oder gegen ihren Willen, sei mehr eine Frage finanzieller Verpflichtungen denn moralischer Überzeugungen. 

Mein Fahrer scheint jedenfalls wenig Freude an diesem Auftrag zu haben. Das Anstehen an der Grenze ist ihm ebenso lästig wie die allgegenwärtigen Bekundungen christlicher Religiosität auf der libanesischen Seite. Als wir in einem der Dörfer an einer festlich geschmückten Kirche vorbeikommen, deren Glocken ein markantes Sonntagsgeläut anstimmen, dreht er demonstrativ das Radio lauter und wirft einen prüfenden Blick in den Rückspiegel, den ich aufgrund meiner mangelnden Erfahrung nicht einordnen kann. Statt wie verabredet ins Zentrum von Beirut zu fahren, setzt er mich am Rande einer Überlandstraße zwischen verlassenem Bauschutt und Müll ab. Ich steige hinter die Leitplanke und rufe meine Freunde an: „Keine Ahnung, wo ich bin, aber holt ihr mich bitte schnell hier ab?“

Ich begreife, dass wir es mit einer Miliz der Salafisten zu tun haben, gegen die die politischen Ziele der um die Macht ringenden Muslimbrüder erschreckend modern anmuten.

Alexandria 2011. Es ist Revolution. Die ganze Stadt ist seit dem Sturz von Mubarak in einem einzigen Rausch. Alles scheint möglich, alles soll neu verhandelt werden, die Pressefreiheit, die Bürgerrechte, die Durchführung der Wahlen. Ich treffe mich mit Freunden in einem Café der Stadt, in dem schon die Revolutionäre um Abdel Nasser gesessen haben, und führe erhitzte Gespräche über die Zukunft des Landes und den Film, den ich darüber drehe, welche Rolle Künstlerinnen und Künstler in dieser spannenden Übergangsphase spielen. Gerade eben bin ich nach einem dieser Abende in einen der ortsüblichen Mikrobusse gestiegen, um zu der von mir angemieteten Wohnung im Osten der Stadt zu kommen, als wir in einer dunklen Seitenstraße der Corniche unvermittelt zum Stehen kommen. Die Seitentür des Kleinbusses wird aufgerissen, langbärtige und langkleidige Männer, die imposante Waffen um die Schulter tragen, haben uns umstellt und durchleuchten die Kabine. 

Was will er hier? fragen sie meine Mitreisenden auf Arabisch und zeigen dabei auf mich, den einzigen Ausländer an Bord. Ich begreife, dass wir es mit einer Miliz von Salafisten zu tun haben, die sich im Zuge der Revolution immer stärker für die Errichtung eines streng religiösen Staates nach saudiarabischem Vorbild stark machen. Instinktiv wird mir klar, dass sich in einem Land, in dem sich Polizei und Militär weitgehend aus den Straßen zurückgezogen haben, mein Aussehen von einer Quelle ausgesprochener Sicherheit zu einer Quelle relativer Unsicherheit gewandelt hatte. In einem Akt kollektiver Zivilcourage verweigern meine Mitreisenden, von denen ich niemanden persönlich kenne, die Auskunft und wenig später meine Auslieferung. Nach längeren Diskussionen lassen uns die Männer schließlich fahren. Auf der Küstenstraße fällt die Spannung von uns ab und man beginnt mich freundlich auszufragen, nicht ohne den Hinweis drauf, dass Ägypten ein schönes Land sei. Ich nicke, vielleicht niemals skeptischer und überzeugter als in diesem Moment. 

Ich bin froh, dass ich nicht sehen kann, ob am Grunde der Krater die Reste ausgebrannter Wagen an die Brutalität des Krieges gemahnen oder nicht.

Afqa 2018. Auf dem Weg zum schönsten Wasserfall des Nahen Ostens fahren wir von Byblos aus gute 20 Kilometer gen Osten. Als wir die mehrheitlich schiitisch bewohnten Gebiete in der Nähe der Quelle erreichen, bitten mich meine Freunde, nicht mehr laut mit ihnen Englisch zu sprechen, um mich nicht als Ausländer zu identifizieren. Ich halte ihre Vorsicht für übertrieben, folge ihnen aber, um sie nicht zu beunruhigen. Die letzten Kilometer fahren wir abwechselnd über schwer passierbare Landstraßen und die Reste ehemaliger Autobahnen. Übersäht mit Bombenkratern aus dem Konflikt der Hisbollah mit Israel im Jahr 2006 erscheinen sie mir wie ein morbider Hindernisparcours; ich bin froh, dass ich nicht sehen kann, ob am Grunde der Krater die Reste ausgebrannter Wagen an die Brutalität des Krieges gemahnen oder nicht.

Die Quelle von Afqa ist beeindruckend. Kleine Mädchen im Grundschulalter fotografieren sich vor dem herabstürzenden Wasser. Ob sie wissen, dass dieser Fluss den Namen des Adonis trug und an seinem Ufer ein Tempel der Aphrodite stand? Sie lachen und reichen sich Kaugummis und beachten uns kaum. Ich spüre, wie schwer es mir fällt, an so einem magischen Ort zu sein, ohne mit seinen Besucherinnen in Kontakt treten zu dürfen oder über meine Eindrücke zu sprechen. Als wir losfahren, folgt uns ein Wagen, der uns bei unserer Ankunft gar nicht aufgefallen ist. Meine Freunde werden nervös und ich spüre, dass ihre Sorge nicht unbegründet ist. Nach einigen Minuten überholt uns der Wagen und signalisiert unserem Fahrer, die Scheibe runterzulassen. Ob er wisse, wo es zu einem bestimmten Ort in den Bergen gehe. Er verneint. Die Männer in dem Mittelklassewagen nicken und fallen wieder zurück. Nun sind wir identifiziert, meinen meine Freunde. Wir entspannen uns erst, als wir eine unsichtbare Grenze passiert haben, die irgendwo vor der Küstenstraße von Byblos nach Beirut zu verlaufen scheint. 

Ausgerechnet dieser Ort, der so überdeutlich von den Spuren einer jahrtausendealten durchgehenden Besiedlung gezeichnet war, vermittelte mir den Eindruck, im sprichwörtlichen Sinne aus der Zeit gefallen zu sein.

München 2024. Auf dem Weg zu meiner Familie nehme ich den kürzesten Weg von meinem Gleis am Hauptbahnhof zum Untergeschoss mit der S-Bahn. Auf der Rolltreppe hinter dem Starnberger Bahnhof kommt mir eine Gruppe junger Syrer entgegen. Sie strahlen vor Aufregung und tragen um ihre Schultern die grün-weiß-schwarz-gestreifte Revolutionsflagge des Landes, die seit heute auch über Damaskus weht. Der Diktator ist geflohen, innerhalb weniger Stunden fiel das Land nach dreizehn Jahren Bürgerkrieg in die Hände einer aufständischen Miliz. Es ist arabischer Frühling, noch einmal, und wieder beginnt er im Winter. Ich denke an meinen Tag in Damaskus auf der Rückreise aus dem Libanon vor genau 15 Jahren. 

Die Stadt war im Gegensatz zu Beirut wie aufgeräumt. Der Verkehr zog zäh, aber geordnet an mir vorbei, und zahlreiche Gebäude von der osmanischen bis zur französischen Kolonialzeit waren sichtbar in Schuss gehalten. Als ich aus den Ruinen des Jupitertempels vor dem Suq al-Hamidiya auf den Vorplatz der ehemaligen Johannesbasilika und heutigen Umayyaden-Moschee trat, fühlte ich mich auf einmal völlig zu Hause. Ausgerechnet dieser Ort, der so überdeutlich von den Spuren einer jahrtausendealten durchgehenden Besiedlung gezeichnet war, vermittelte mir den Eindruck, im sprichwörtlichen Sinne aus der Zeit gefallen zu sein. Plötzlich spürte ich, dass der genius loci, der Geist eines Ortes, gerade andersherum funktionierte als wir das für gewöhnlich annahmen. 

Nicht der Ort bleibt gleich und die Zeit ändert sich. Nein. Die Zeit bleibt gleich, kehrt immer wieder an ihren Ursprung zurück, durchläuft Mensch für Mensch die gleichen Etappen von Geburt, von Wachstum, von Reife oder Verknöcherung, nur der Ort, er wandelt sich ständig um uns herum, ist nie der alte, ist wie Heraklits Fluss eine Chimäre, an deren Brust wir zurückzukehren meinen, seit jeher dazu verdammt, uns in ihr zu täuschen. Es ist Revolution, wieder einmal. Und im Gegensatz zu uns wissen Damaskus, Alexandria und Beirut, was das heißt.

 

Bild: Nicolas Flessa

Written by Nicolas Flessa

Nicolas Flessa studierte Ägyptologe und Religionswissenschaft. Der Chefredakteur von seinsart drehte Spiel- und Dokumentarfilme und arbeitet heute als freischaffender Autor und Journalist in Berlin.

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