Selbsterkenntnis kann man auf vielen Wegen erlangen. Eine besondere Erfahrung ist die Kombination, in den Weiten der Wüste Kraft zu tanken und sich auf Aikido einzulassen. Aikido ist nicht nur eine körperliche Kampfkunst, sondern auch eine Philosophie, die das Leben verändern kann.
Es ist eine Gruppe mehrerer Männer und Frauen unterschiedlichen Alters, die sich zu der zehntägigen Reise zusammengefunden haben. Sie praktizieren schon lange die Kampfkunst Aikido und sind auf der Suche nach einer weiteren Erfahrung, oder haben sich als Anfänger auf diese Reise zu sich selbst eingelassen. Sie alle wollen, umgeben von orientalischem Zauber und im Einklang mit der Natur und dem Universum, diese wundersame Kampfkunst in der Wüste erleben, Lebensenergie tanken und einen neuen Weg beschreiten.
Ich treffe mich mit ihnen in der quirligen Stadt Marrakesch, um mit ihnen gemeinsam die Reise anzutreten. Nach einer Nacht in einem alten marokkanischen Herrschafthaus, umfunktioniert in ein Hotel, dessen orientalisch eingerichtete Zimmer an alte Geschichten aus Tausendundeiner Nacht erinnern, werden wir in eine neue, aufregende Welt katapultiert. Am nächsten Morgen beginnen wir unsere Reise per Jeep einmal quer durch die Weite des Landes mit unserem Tourguide Brahim, dessen Lächeln uns die Warmherzigkeit der marokkanischen Kultur vor Augen führt. Wir fahren auf der Straße der 1000 Kasbahs (Festungen), die rötlich in der Sonne funkeln, und durchqueren das Atlasgebirge auf unzähligen Serpentinen. Im Wechsel ziehen üppig grünende Oasen und karge Landschaften an uns vorbei, während die schneebedeckten Gipfel des Hohen Atlas aus der Ferne grüßen. Ein Rausch von Farben, fremden Gerüchen und Tönen umfängt und betört uns.
Zwischen Keigogis und Hakamasin in der Sahara
Unser Wüstenhotel, erbaut in traditioneller Lehmbauweise, befindet sich in Merzouga. Der kleine Ort, Tor zur Wüste im Südosten Marokkos, liegt keine 50 km entfernt von der algerischen Grenze. Als wir ihn in der Abenddämmerung erreichen, offenbart sich uns neben einem liebevoll eingerichteten Hotel im landestypischen Berberstil mit vielen farbenfrohen, handgeknüpften Teppichen und einem Swimmingpool eine ockerfarbene, leicht hügelige Wüstenlandschaft, in deren Dünen sich vereinzelt liegende Dromedare auf die einbrechende Nacht vorbereiten. Merzouga zählt um die 500 Einwohner und liegt zu Füßen des Erg Chebbi, einer durch Wind geformten, malerisch-kargen Dünenlandschaft mit einer Ausdehnung von 22 Kilometern in Nord-Süd-Richtung und bis zu fünf Kilometern in Ost-West-Richtung. Wir sind gefangen von dem Zauber dieses Ortes, der in den nächstenTagen unser Domizil sein wird.
Man setzt sich auf eine Sanddüne. Man sieht nichts. Man hört nichts. Und währenddessen strahlt etwas in der Stille.
(Antoine de Saint-Exupéry)
Es ist früh am Morgen des nächsten Tages. Die Sonne schiebt sich langsam über die Düne. Erste Strahlen erwärmen den Wüstensand der Sahara. Mehrere Aikidoka in weißen Keigogis (Trainingsjacken) und schwarzen Hakamas (traditionelle japanische Beinbekleidung), die durch einen kunstvoll verschlungenen Obi (Gürtel) zusammengehalten werden, betreten barfuß den noch kühlen Sand. Schweigend nähern sie sich einem mit Linien in den Sand gemalten, quadratischen Übungsplatz ihres Senseis (Lehrers), den sie am Abend zuvor gemeinsam mit ihm ausgesucht und mit vier Steinen an seinen Ecken begrenzt haben. An seinem Rand steht ein großes Foto des Aikido-Gründers Morihei Ueshiba, das von einem rosa Oleanderzweig eingerahmt wird. Dieser Dojo (Ort des Weges) ist der Raum, in dem traditionell das Training abgehalten wird, in dem viel gefallen und abgerollt wird. Er ist wie ein Schutzraum, in dem man den Umgang mit der Energie und den Kräften bei der Suche nach dem für einen selbst richtigen Weg üben kann. Hier in der Weite der Wüste begrenzt er einen Raum, in dem in konzentriertem Rahmen zweimal am Tag bei Sonnenauf- und ‑untergang trainiert wird.
Der Sensei erwartet sie bereits. Dietrich Wolbert ist ein großgewachsener, freundlicher Mann Anfang fünfzig, der seinen Schülern mit Respekt und Freude begegnet, denn er strahlt wie alle guten Lehrer Güte, Geduld und Zuversicht aus, ist humorvoll und hat stets ein Lächeln auf den Lippen. Mit fast 30 Jahren Aikido-Erfahrung und als Träger des 4. Dan ist er ein wegweisender Lenker mit dem Wissen um den Weg zum Erlangen von Selbsterkenntnis. Er begleitet, unterstützt und stützt seine Schüler, zeigt ihnen neue Wege und vermittelt ihnen Sicherheit und Orientierung.
Verneige Dich vor Deinem Gegenüber, wenn es vor Dich tritt – schicke es auf seinen Weg, wenn es Dich verlässt.
(Morihei Ueshiba)
Nacheinander betreten die Aikidoka durch eine virtuelle Tür den Dojo, begrüßen einander ganz der japanischen Tradition entsprechend und knien vor dem aufgestellten Schrein zu Ehren des Aikido-Gründers Morihei Ueshiba nieder. Nach einer tiefen Verneigung aller vor diesem dreht sich der Sensei nach einem gemeinsamen Moment des Sammelns zu seinen Schülern um, und das Training beginnt. Es gibt unterschiedliche Übungsformen: alleine und mit einem oder mehreren Partnern. Als Vorbereitung wird der Körper erwärmt, gedehnt und mit Atemübungen wach und geschmeidig gemacht. Dann wird in vielfältigen Partnerübungen durch Imitation, Synchronistation, Ergänzung und Spiegelung an der einzelnen Bewegung und den Bewegungsabläufen gearbeitet und unterschiedliche Aikidotechniken geübt.
Nutze die Kraft Deines Gegners!
Es gibt spezielle Hebel-, Halte-, Wurf- und Atemkrafttechniken, die im Mittelpunkt des Trainings stehen. Ein wesentliches Prinzip ist es dabei, dem Gegner die Möglichkeit zu geben, zuerst anzugreifen. Dafür muss man eine Lücke öffnen und dem Angreifer die Illusion geben, dass er in diesem Moment treffen könnte. Durch das Wahrnehmen, Aufnehmen, Umlenken und Weiterführen wird der Angriff neutralisert. Es ist das Ziel, durch Wachsamkeit und sich Öffnen diesem Angriff vorauszukommen und die Kraft des Gegners zu nutzen, um sie kontrolliert in einen Wurf oder Haltegriff umzuleiten. Durch einen Ausweichschritt oder eine Drehbewegung verändert man blitzschnell die eigene Position zum Gegner, und sein Angriff läuft ins Leere. Dadurch entstehen typische Kreisbewegungen, die es ermöglichen, sich dem Gegener zu entziehen, sich gegebenenfalls dem nächsten zuzuwenden und diesen möglicherweise in Richtung des ersten Angreifers zu lenken.
Die größte Herausforderung beim Erlernen von Aikido scheint es, in der Situation des Angriffs groß, offen, souverän und beweglich zu bleiben. Dafür muss man alte Gewohnheiten aufgeben und sich bei einem Angriff nicht wie gewohnt schützen, kleinmachen oder kontern, sondern aufrecht und gelassen aus der Konfrontation heraustreten, um sie dadurch aus einer neuen Perspektive betrachen zu können. Das ermöglicht Überblick, Ruhe, Sicherheit, freie Atmung – und kreativ zu reagieren.
Bleibe mit Dir in Verbindung und führe es zu Ende.
(Dietrich Wolbert)
Die Übungsatmosphäre in diesem Wüsten-Dojo ist geprägt von gegenseitiger Achtung: Man hilft sich bei der Entwicklung, jeder auf seinem Niveau, und tut das weniger durch Worte als vielmehr durch das Zeigen und Üben. Immer wieder weist der Sensei darauf hin, wie wichtig es ist, sich im Sand mit beiden Beinen fest stehend zu positionieren, in seinem Körper zu ruhen, sich auf seine Mitte zu konzentrieren und auf die Energie und Umgebung einzulassen, denn: „Wie wir die Welt erleben, hat unmittelbar mit unserem Körperempfinden zu tun. Wenn wir also schon den eigenen Körper nicht richtig wahrnehmen, wie können wir dann die Welt um uns herum richtig wahrnehmen?“
Ohne mich belesen zu haben, was Aikido ist und bewirkt, lasse auch ich mich ein, beobachte, mache mit. Wir trainieren jeweils eine gute Stunde. Dabei übt jeder mit jedem, unabhängig von der Menge seiner Aikido-Erfahrungen. Behutsam werden die Anfänger durch den Sensei angeleitet und von den erfahrenen Aikidoka unserer Gruppe begleitet, und bereits nach kurzer Zeit bemerke ich eine Veränderung. Der Alltagsstress scheint von uns abzufallen, und die anfängliche Fremdheit einzelner Gruppenmitglieder löst sich auf.
Aikido – eine junge japanische Kampfkunstmethode
Das tägliche gemeinsame körperbezogene Training, in dem man sich aufeinander einlassen und berühren muss, führt dazu, dass Ressentiments und auftretende zwischenmenschliche Probleme schnell angesprochen, abgebaut und geklärt werden. Wir werden innerhalb kürzester Zeit eine kleine Gemeinschaft, in der nur noch das Menschsein wichtig ist.
Dies ist für alle Teilnehmer eine beglückende Erfahrung. Außerdem machen gerade wir Anfänger die Erfahrung, dass Bewegung nicht mehr nur die bloße Fortbewegung des Körpers von einem Ort zum anderen ist, sondern Bewegung eine individuelle Ausdrucksform eines Menschen als Zeugnis all seiner Erfahrungen und individuellen Einflüsse.
Nach einer gemeinsamen Wüstentour sitzen wir mit den Dromedaren, die nun unweit von uns leise im Schlaf schnauben, unter dem blauschwarzen, mit Sternen übersäten, afrikanischen Nachthimmel. Die Milchstraße erhellt wie ein weißes Band den nun kühleren Wüstensand, während mir Dietrich Wolbert von seinem persönlichen Weg und der Kampfkunst erzählt, die so viel mehr ist als nur eine körperliche Betätigung.
Die Philosophie von Aikido ist es, Dich wachsen zu lassen, ohne den anderen klein zu machen. (Dietrich Wolbert)
Aikido ist eine junge japanische Kampfkunstmethode, die Angang des 20. Jahrhunderts als eine Synthese unterschiedlicher traditioneller Disziplinen wie Judo (Ringen), Kendo (Fechten), Karate (Schläge mit Händen und Füßen), Kyuto (Bogenschießen), Ladio (Schwert), Jodo (Stock) und weiteren von dem Japaner Morihei Ueshiba (O Sensei – der große Lehrer) entwickelt und seitdem ständig weiterentwickelt wurde. Der Begriff wird aus den drei sinojapanischen Schriftzeichen Ai (Entspannung, Harmonie & Liebe), Ki (Lebenskraft & universelle Energie) und Do (Lebensweg) geformt und kann als „Weg der Harmonie mit der Energie des Universums“ übersetzt werden. Das Praktizieren von Aikido wird als Weg verstanden, auf dem man durch häufige Übung die Gesetze des Zusammenspiels von Körper und Geist erforscht, sie anwendet und begreift.
Kampfkunst statt Dauerstress
Es ist das Ziel dieser Kampfkunst das Ai, also Entspannung, Harmonie & Liebe, als Grundlage des Seins in unserer Welt zu bewahren, weiter zu entwickeln und zu stärken, sowie das Ki, also die ursprüngliche Energie und Lebenskraft, richtig zu bündeln, so dass es nicht zu Konflikten kommt und Blockaden gelöst werden können. Das Do ist dabei die Übung, die man macht, oder der Weg, auf den man sich begibt, um die Prinzipien des Aiki, also die Harmonisierung ursprünglicher Lebensenergien, zu bewahren oder wieder herzustellen. Damit geht das Aikido weit über die reine Kampfkunst hinaus. Im Unterschied zu anderen Kampfkünsten darf sie laut Ueshiba niemals in bloßen Kampf und Wettstreit abgleiten, denn es geht nicht nur um eine Unterweisung in Kampftechniken, sondern um die grundsätzliche Haltung den Dingen, den Wesen und dem Leben gegenüber.
Aikido ist übertragbar auf das eigene Leben. Es hilft dabei, besser mit sich selbst verankert zu sein. Und wenn man Entscheidungen treffen muss, braucht man die Verankerung in sich selbst. (Dietrich Wolbert)
Diese philosophische Einstellung lässt sich auf viele Lebensbereiche übertragen, auch auf das Leben von Dietrich Wolbert. Einst wichtiger Entscheidungsträger im Managment-Controlling in diversen großen Firmen, in denen er von einem Termin zum nächsten hetzte und fremdbestimmt in der Mühle täglicher Anforderungen und Dauerstress gefangen war, entschied er nach einem Burnout und ersten Berührungen mit der Kampfkunst Aikido in der Silvesternacht 1990, sein Leben zu verändern. Mit der bewussten Entscheidung, auf Grundlage der Lehre des Aikido in einer fremden Stadt neu anzufangen, beschritt er einen neuen Weg, den er, wie er sagt, nie bereute.
Neben seinem dreimal wöchentlich stattfindenden offenen Training im fünften Stock einer großen, hellen, mit olivgrünen, weichen Wildledermatten (Tatamis) ausgelegten Alt-Berliner Fabriketage verbindet er heute in seiner Coachingagentur KI-AI-COACHING die wirkungsvollen Aikido-Prinzipien mit klassischem Coaching und hilft Menschen dabei, unausgeschöpfte Potenziale zu entdecken und zu nutzen und stimmige, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen. Dabei bezieht er sich auf einen Kernsatz der Lehre des Aikido-Gründers Morihei Ueshiba: „Die Fähigkeit, einem Angriff zuvorzukommen, ist das, was die frühen Meister als Voraussicht verstanden haben. Wenn der Geist ruhig und klar ist, kann man die Aggression unmittelbar wahrnehmen und ihr begegnen.“
Zurückgekehrt in Berlin besuche ich Dietrich Wolbert einige Zeit später zu einem Probetraining in seinem Berliner Dojo. Wieder treffe ich auf die gleiche Sorgfalt, Geduld und Freude des Senseis wie in der Wüste. Während ich mich bei einer der Übungen auf der Tatamis rund wie eine Kugel mache, träume ich ein wenig von der letzten Reise und beschließe: Beim nächsten Mal bin ich wieder dabei.
Wer Lust auf den Workshop in der Wüste bekommen hat, kann sich direkt bei Dietrich Wolbert melden. Der nächste Aikido-Workshop in der Sahara findet bereits vom 15. bis 29. September 2015 statt:
Bilder: Astrid Winterfeld