Wer mutwillig Angst vor »fremden Kulturkreisen« schürt, platziert sich selbst in reichlich kulturfremde Kreise.
Eines wurde in den Debatten der letzten Monate zum Thema Migration und Integration immer wieder deutlich: Bestimmte Kulturen besitzen allem Anschein nach so etwas wie unabänderliche Wesenszüge, die sich aller Aufklärung und Moderne zum Trotz einfach nicht tot kriegen lassen. Wo immer man ihnen Platz einräumt, suchen sich ihre mittelalterlichen Antworten einen Platz im Rampenlicht zeitgenössischer Fragestellungen. Die Rede ist nicht von Mahmud Ahmadinedschad oder Osama bin Laden. Die Rede ist von der derzeit aufbrandenden »verbalen Reconquista«, in deren Schlagschatten populistisch agierende Spitzenpolitiker den Versuch unternehmen, durch markige Sprüche und kollektive Diskriminierung einen Untergang des Abendlands zu verhindern, den sie zuvor selbst publikumswirksam an die Wand gemalt haben. Dass diese politische Mode keineswegs ein zeitgenössisches Phänomen ist, beweist ein Blick auf die in letzter Zeit so oft beschworene jüdisch-christliche Historie.
Betrachten wir das angespannte Verhältnis der drei abrahamitischen Religionen zueinander, so können wir es durchaus mit dem Zwist dreier ungleicher Geschwister vergleichen. Während der älteste Sohn, das Judentum, von Geburt an in handfeste Auseinandersetzungen mit gewaltbereiten Nachbarjungs verwickelt war (Stichwort: Ägypten, Babylon, Rom), erfuhr gerade das Christentum als Sandwich-Kind mit Adoptionshintergrund eine fast klassische Anerkennungsproblematik: Mitten im römischen Reich geboren, galt es bis zu seiner »Verstaatlichung« im 4. Jahrhundert zunächst als jüdische Sekte und dann als Staatsfeind Nummer 1. Der Islam hingegen verlebte wie viele Nesthäkchen zunächst eine fast traumhafte Kindheit: Mit rasender Geschwindigkeit eroberte er schon im zarten Alter von wenigen Jahrzehnten mit militärischer Dominanz und religiöser Toleranz einen fast globalen Freundeskreis.
Psychologen zufolge besitzen unsere ersten Jahre ja bekanntlich eine enorme Wirkung auf unsere spätere Entwicklung. Ohne den Vergleich von den drei ungleichen Brüdern strapazieren zu wollen, scheint sich auch bei Judentum, Christentum und Islam eine jeweils typische Haltung der religiösen Verwandtschaft gegenüber bereits in frühen Jahren herausgebildet zu haben. Während der Islam ein potenziell entspanntes Verhältnis zu den ihm »schutzbefohlenen« älteren Geschwistern an den Tag legte, galt er den Christen von Anfang an als eine Bewegung, die ihnen den Rang streitig machte – sicherlich neben theologischen Differenzen auch aus der Erfahrung heraus, gerade im ersten Jahrhundert der arabischen Expansion große Teile des eigenen Einflussbereichs an diese junge »Sekte« verloren zu haben. Dieser »anti-muslimische« Reflex des Christentums (den das Judentum übrigens niemals entwickelt hat) ist bis in die gegenwärtige gesellschaftliche Diskussion deutlich spürbar.
Wer im »Westen« an die Begegnung von Islam und Europa denkt, dem fallen im historischen Kontext zunächst »die Türken vor Wien« und vielleicht noch der »Fall von Konstantinopel« ein. Muslime besitzen ganz andere Assoziationen: die religiös motivierte Vertreibung des Islam aus Al-Andaluz, einem Hort der religiösen Toleranz und der kulturellen Blüte unter den liberalen Umayyaden, die stetigen christlichen Aggressionen im Rahmen der Kreuzzüge und – nicht zu vergessen – der Kulturimperialismus des Westens im Rahmen der Kolonisation Nordafrikas und der Levante.
Die derzeitige Verbalverschanzung Europas hinter christlich-jüdischen Mauern offenbart, dass die gefühlte »Überfremdung« im Prinzip wenig mit Ehrenmorden, totalitären Mullas und Selbstmordattentätern zu tun hat. Ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass Ehrenmorde, Mullahs und Selbstmordattentate nur deshalb unser Bild vom Islam prägen, weil sie ein viel älteres Vorurteil bedienen, das wir bereits seit Jahrhunderten verinnerlicht haben: der Muslim als kulturfremdes, ja kulturfernes Wesen, dessen »mittelalterliche Zeitrechnung« und »Wüstenethik« nicht in eine aufgeklärte Gesellschaft passt. Insofern ist es müßig, stets auf den Unterschied zwischen Islamisten und Muslimen hinzuweisen, da sich der Deckmantelcharakter dieser Unterscheidung in der aktuellen Debatte von selbst ad absurdum geführt hat.
Um auf das Bild der ungleichen Brüder zurückzukommen: Statt uns gegenseitig Entfremdung und Intoleranz vorzuwerfen, sollten wir von Zeit zu Zeit einfach mal einen Blick in unser gemeinsames Familienalbum werfen. So »fremd«, wie uns die Feinde des Haussegens auf beiden Seiten immer wieder weismachen wollen, sind wir uns nie gewesen.
Bild: judithscharnowski (Titel)
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