Skandinavien. Allein der Klang des Namens löst bei vielen Menschen romantische Vorstellungen aus und weckt Sehnsüchte nach einer natürlichen, klaren, ehrlichen Welt. Dieser nördliche Teil Europas gilt vielen als ein letztes Reservat der guten alten Zeit: Funktionierende Sozialstaaten mit geringer Arbeitslosigkeit, harmonischen Gesellschaften und einer weitgehend intakten Natur. Und auch das Bild des Skandinaviers ist hierzulande mit vielen Klischees verbunden: Der höfliche, fröhliche, sachliche, bisweilen auch reservierte, wenn nötig trinkfeste Nordmensch, der lieber auf einer Bank vor seinem Holzhäuschen sitzt und ein Buch liest, anstatt vor Trash-TV auf dem Sofa zu vergammeln. Und Klischees wären nicht Klischees, entsprächen sie nicht wenigstens teilweise der Realität. Tatsächlich ergibt sich bei genauerer Betrachtung ein vielschichtiges Bild der nordischen Staatenwelt.
Da ist zum einen die unterschiedliche Größe. Während Norwegen, Dänemark und Finnland jeweils ca. fünf Millionen Einwohner haben, sind es auf Island nur 330.000 Menschen, in Schweden dagegen fast zehn Millionen. Dafür ist dort die Arbeitslosigkeit mit zehn Prozent am größten. In den anderen vier Ländern liegt sie deutlich darunter. Norwegen hat mit drei Prozent Arbeitslosen fast Vollbeschäftigung erreicht. Island und Finnland sind Republiken mit einem gewählten Präsidenten als Staatsoberhaupt. Dänemark, Norwegen und Schweden dagegen sind parlamentarische Monarchien und werden von einem König oder einer Königin in Erbfolge vertreten.
Unabhängig von der monarchischen Staatsform wurde der Adel in allen skandinavischen Ländern abgeschafft. Alle Bürgerinnen und Bürger sind gleichberechtigt und bestimmen die Zusammensetzung der Mehrparteien-Parlamente in demokratischen Wahlen. In Island gab es ohnehin nie eine Monarchie. Nach dem Ende der dänischen Vorherrschaft wurde 1944 die Republik eingeführt. Allerdings gibt es auf Island einen Bürger-Adel (ähnlich den „Hanseaten“ in Hamburg), der jedoch in der Öffentlichkeit sehr diskret auftritt.
Eine Gemeinsamkeit aller fünf Länder ist die „soziale Demokratie“, basierend auf einem gut konzipierten Sozialstaat, „Wohlfahrtsstaat“ genannt. Dieses Modell ermöglichte den Skandinaviern im 20. Jahrhundert einen beispiellosen wirtschaftlichen Auftstieg mit hohem Lebensstandard für die Bevölkerungen und einer gleichzeitig sehr geringen Kriminalitätsrate. Ebenso überragend ist das Bildungssystem. So lernen Schulkinder in Norwegen schon ab der ersten Klasse Englisch und werden über Gesundheit, Ernährung und Lebensmittel unterrichtet, was sich später positiv auswirkt.
In Schweden gilt das „Öffentlichkeitsprinzip“. Das heißt, alle offiziellen Dokumente und Belege werden eingescannt und können jederzeit von jedem Bürger, jeder Bürgerin ohne Angabe von Gründen eingehen werden. Das ermöglicht ein Höchstmaß an Transparenz und Kontrolle der Macht, wovon sich auch Deutschland und Österreich eine Scheibe abschneiden könnten. Der Zusammenhalt und die Solidarität der Skandinavier untereinander ist sehr groß, zumal man viele Gemeinsamkeiten pflegt: Die Gleichberechtigung von Mann und Frau seit über 100 Jahren, eine liberale Gesellschaft und die Gewährung von Minderheitenrechten sowie das Bekenntnis zum protestantischen Christentum – ca. 90 Prozent der Menschen gehören der evangelisch-lutherischen Kirche an. Politisch haben sich die fünf Länder im „Nordischen Rat“ zusammengeschlossen, dem auch die autonomen Regionen Grönland, Faröer Inseln und Aland angehören. Dieser Zusammenschluss wird auch „Der Norden“ oder manchmal auch „Das Kreuz des Nordens“ genannt.
Doch der Status Quo ist bedroht. Zum einen durch das transatlantische Freihandels-Abkommen TTIP, das soziale und kulturelle Standards auflösen könnte. Dabei spielt es keine Rolle, dass Island und Norwegen nicht der EU angehören, da sie als Mitglieder des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) ebenfalls betroffen wären. Zum anderen sorgt der Ukraine-Konflikt und das militärische Auftreten Russlands für große Unruhe. So verletzen regelmäßig russische Kampfflugzeuge den finnischen Luftraum und in der Ostsee wird eine verstärkte Aktivität von russischen Spionage-Ubooten registriert. Das hat in Finnland und Schweden, die beide nicht der NATO angehören, eine Diskussion über die Aufgabe der Neutralität ausgelöst, an deren Ende ein Beitritt zum westlichen Militärbündnis stehen könnte. Denn die Skandinavier gelten zwar als friedfertig, aber ihre Wehrhaftigkeit ist nicht zu unterschätzen. Bereits im Mittelalter wurden angreifende Slawen und Mongolen erfolgreich abgewehrt – und darauf ist man im hohen Norden heute noch stolz.
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