Seit 43 Jahren fahre ich an die belgische Küste, an die Grenze zu Frankreich. Ich spreche sowohl Flämisch als auch Französisch, mein Vater lebt dort als Deutscher. Erst im letzen Jahr habe ich das Elend der Flüchtlingscamps in Dunquerke und Calais mitbekommen. Spontan haben meine Familie und ich uns entschieden, dort zu helfen: im Dschungel von Calais.
Bei unserem ersten Besuch vor Ort haben wir unseren Combi mit Schlafsäcken, Zelten und Jacken vollgepackt. Wir sind mitten rein gefahren ins Camp, haben den Kofferraum aufgemacht und die Sachen verteilt. Das ist nicht ganz ungefährlich, da natürlich eine Menschenmasse auf uns zugeströmt kam, abgesehen davon, dass wir unter der Beobachtung der französischen und englischen Polizei, die Posten rund um das Camp bezogen haben, standen.
Der Dschungel von Calais: Geschätzte 7000 Menschen leben derzeit dort unter katastrophalen Bedingungen – in einer Zeltstadt, dem Wetter gnadenlos ausgesetzt, Familien, Kinder, junge Männer. Sie versinken im Schlamm, im Dreck. Sie kommen aus Syrien, Afghanistan, Eritrea, Sudan und anderen Ländern und warten dort auf den letzen Sprung ins Eldorado England. Sie versuchen täglich, auf LKWs durch den Tunnel oder auf Fähren über den Kanal nach England zu kommen. Es schaffen nur noch wenige: Die Zäune rund um die Auffahrten zum Tunnel La Manche und zu den Fähren werden immer höher, stehen schon in Zweierreihen.
Nicht nur französische Polizei kontrolliert hier, sondern auch die Briten sind präsent. Die Stimmung wird immer aggressiver, der Winter macht das Leben im Camp zum Überlebenskampf. Die hygienischen Bedingungen sind katastrophal. Ein Slum mitten in Europa. Zur Zeit grassiert dort massiv „Jungle Lung“, Lungenentzündung und Durchfallerkrankungen; dazu kommen die Verletzungen, die sich die Bewohner bei ihren täglichen Versuchen, auf einen Zug oder LKW aufzuspringen, zuziehen.
An dem Tag der Anschläge in Paris brach ein Feuer im Camp aus, viele Menschen standen danach wieder vor dem absoluten Nichts.10.000 Quadratmeter brannten ab. Das Wenige, das sie hatten, war mit einem Mal weg.
Dieses Wochenende fahre ich wieder hin. Im Gepäck nicht nur ein mulmiges Gefühl gepaart mit dem Willen zu helfen, sondern auch mit Medikamenten, Verbandszeug, Desinfektionsmitteln. Ich weiß, durch enge Kontakte zu den Hilfsorganisationen, dass die Menschen dort darauf warten.
Mittlerweile hat die Polizei dort Kontrollen eingerichtet, den Zugang zum Lager gesperrt. Ich habe mir schon Wege ausgesucht, um diese Kontrollen zu umfahren. Schließlich war ich schon so oft hier, dass ich Schleichwege kenne. Oft ist die Autobahn dicht, die Zufahrten zum Hafen und dem Tunnel sind dicht, da wird man erfinderisch.
Menschenschmuggel ist ein lukratives Geschäft. Und je schwieriger den Menschen die Flucht durch den Tunnel gemacht wird, desto mehr floriert es auch in Nordfrankreich. Über 10 Millionen Euro hat die britische Regierung locker gemacht, um die Zäune am Tunneleingang noch höher, den Stacheldrahtzaun noch unüberwindbarer zu machen. Calais erinnert an einen Hochsicherheitstrakt. Ein Fluchtversuch mag Anfang des Jahres noch gefährlich gewesen sein, jetzt ist er lebensgefährlich.
Durch unsere Hilfe im Camp, die sicherlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist, haben sich wunderbare Freundschaften zu Migranten und anderen Helfern entwickelt. Meine Tochter Rieke (11) hat nun eine englische Brieffreundin, ebenfalls in ihrem Alter, der sie wöchentlich schreibt. Sie war übrigens auch schon mit, anfangs sehr ängstlich, aber immer schwer beeindruckt von der Freundlichkeit und Dankbarkeit der Flüchtlinge im Camp. Wir werden nicht aufhören zu helfen! Ich sage immer mit einem Lachen: „Wir sind die kleinste Hilfsorganisation der Welt: Eine Bottroper Familie.“
Ich hoffe, dass am Wochenende alles gut geht und unsere Spenden die Hilfsbedürftigen erreichen. Und vor allem, dass ich heil nach Hause zurückkomme.
Bild: Silke Wedeking