Viel Glaubwürdigkeit besitzen jene Länder, die sich – teilweise selbst, teilweise in Fremdzuschreibung als „der Westen“ bezeichnen – im Nahen Osten ohnehin nicht mehr. Zu tief sitzt die Enttäuschung über 100 Jahre „Feindkontakt“, der neben Inspiration und enttäuschter Leidenschaft vor allem viel blutiges Unrecht hervorgebracht hat. Viel zitiert: der Betrug an den „Arabern“ nach erfolgter Waffenhilfe gegen das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg; die Gründung eines als „westliche“ Kolonie wahrgenommenen Staates Israel aufgrund deutscher Verfehlungen im Zweiten Weltkrieg; Einmarsch und Zerstörung des Irak durch die USA.
Die Quintessenz dieser politischen Entscheidungen lautet – wie immer man zu ihrer Durchführung im Einzelnen stehen mag: „Der Westen“ benutzt uns, wenn er uns braucht, missachtet uns, wenn er uns nicht mehr braucht, und zerstört uns, wenn es nützlich für seine Geschäfte ist. Der Zeitalter der Kolonisation ist dieser Erzählung nach nie zu Ende gegangen; es hat sich lediglich aufgehübscht und fremde Herren durch willfährige Herrscher der eigenen Ethnie ersetzt.
„Der Westen“ benutzt uns, wenn er uns braucht, missachtet uns, wenn er uns nicht mehr braucht, und zerstört uns, wenn es nützlich für seine Geschäfte ist.
Viel Phantasie braucht es nicht, um dieses latente Gefühl des „Betrogenwerdens“ auch als „Westler“ nachspüren zu können. Geschichte ist immer mehrdimensional und so wäre es durchaus opportun, jeder der erwähnten Episoden westlicher Verfehlung die ergänzende anderslautende Sicht hinzuzufügen. Doch dieser multipolare Ansatz würde uns dem Verständnis dessen, was in der arabischen Welt derzeit über „den Westen“ gedacht wird, keinen Schritt näher bringen. Im Gegenteil: Gerade die Rechtfertigung dessen, was als kontinuierliche Verhinderung einer echten politischen Selbstbestimmung empfunden wird, würde neues Salz in die Wunde streuen. Wird doch der Widerspruch zwischen behaupteten Idealen und knallharter Interessenpolitik im arabischen Raum geradezu als Charakteristikum westlicher Politik wahrgenommen und kritisiert.
Das Versagen im Syrienkonflikt, aber auch der Umgang mit autokratischen Regimen wie Sisis Ägypten oder Salmans Saudi-Arabien belegen, dass Demokratie, Freiheit und Frieden keine absoluten Ziele des westliches Engagement in der Region sind. „Der Westen“ als Gouvernante, die alles besser weiß und die Wilden zu ihrem Glück erziehen muss, ist ohnehin eine Grimm’sche Märchenfigur, die eigens in der Ära Bush noch einmal medienwirksam ausgemottet werden musste. Natürlich wissen „wir“ es nicht besser und – noch wichtiger – wollen wir es auch gar nicht „besser“ machen. Was wir wollten, ist ein offenes Geheimnis: Rohstoffe und Einfluss, politischer wie militärischer Natur.
Diese Politik des „alten Westen“ stößt zunehmend an ihre Grenzen: Im Osten, der es satt hat, Schlachtfeld von „Imperialisten“ zu sein, aber auch im Westen selbst, wo seit dem Erstarken von Antikapitalisten, Globalisierungsgegnern und Pazifisten die Diskussion über eine gerechtere Politik im Nahen Osten zum guten Ton politisch korrekter Diskussionen gehört. Die Krise der Demokratie, die derzeit von allen Medien beschrieben und beschworen wird, hat ja in erster Linie mit der Glaubwürdigkeitskrise der eigenen Politiker zu tun. Das mehrfach erlebte Muster, „die da oben“ seien vor den Wahlen erst gegen Waffenlieferungen und verkauften danach dann doch die Panzer, kratzt auch im Westen seit Langem an dem traditionellen Gefühl politisch-kultureller Überlegenheit.
Wer erst gegen Waffenlieferungen ist und dann Panzer verkauft, kratzt am Gefühl der politisch-kulturellen Überlegenheit.
Wenn nun der amerikanische Vizepräsident Joe Biden am Tag der ersten Bodenoffensive der türkischen Streitkräfte auf syrischem Boden von seinen kurdischen Verbündeten verlangt, ihren Traum von einem eigenen Staat zu begraben, haben wir es mit einem neuen Sündenfall westlicher Politiker zu tun, der unabschätzbaren Schaden anrichten wird. Erst als Bodentruppen der kampfmüden Amerikaner aufgerüstet, sehen sich die Kurden nun einer Realität gegenüber, die man nur mit dem Verhalten von Engländern und Franzosen den siegreichen arabischen Truppen gegenüber vergleichen kann, von denen anfangs die Rede war. Hoffnung als Währung, einen Krieg für sich schlagen zu lassen, dessen Resultat man am Ende strikt an den eigenen Interessen orientiert.
Sollte sich diese Ursünde westlicher Politik im Nahen Osten nun auf dem Rücken der Kurden wiederholen, wird das Ergebnis eine weitere Welle anti-westlicher Ressentiments und Gewalt in der Region sein. „Wir“ werden auch den letzten „natürlichen Verbündeten“ im Nahen Osten verlieren – zugunsten weiterer brüchiger Koalitionen. Aber vielleicht ist das ja auch gar kein Kollateralschaden. Vielleicht ist das im Gegenteil von vornherein das Ziel „unserer“ Syrienpolitik gewesen. Wer diesen Gedankengang für einen orientalischen Mythos der Gegenwart hält, dem sei gesagt: Wer die Vernunft mit Füßen tritt, wird Verschwörungstheorien ernten.
Bild: janeb13
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