Ein sonniger Tag, Jugendliche spielen draußen auf der Straße. Die Familie Carter sitzt am Tisch, der Vater mit seinen Kindern, der Jüngste noch auf dem Schoss der Mutter. Doch was ein angenehmes Zusammensein zu Mittag sein könnte, ist eine bitterernste Unterhaltung. Denn Familienoberhaupt Maverick erklärt seiner 9-jährigen Tochter Starr und deren 10-jährigem Bruder Seven nicht, dass sie gute Noten schreiben sollen oder Ähnliches. Er erklärt ihnen Überlebensregeln – Überlebensregeln im Umgang mit weißen Polizisten.

Alleine die Tatsache, dass ein Schwarzer seine Familie vor weißen Gesetzeshütern warnen muss, ist erschütternd. Noch stärker trifft dieser Monolog, wenn man in die ehrfürchtigen Gesichter Kinder sehen muss, die in so jungen Jahren auf die harte Realität vorbereitet werden müssen. Das Ende der Unschuld, die Ghetto-Version.

Bereits nach diesem Intro ist klar, dass die Verfilmung des Romanbestsellers „The Hate U Give“ von Angie Thomas kein Film sein wird, der den Zuschauer kalt lässt. War die letzte Welle an Young-Adult Filmen stets zwischen Fantasiewelten und Liebesgeschichten angesiedelt, beschäftigt sich George Tillman Jr. Jugendbuchadaption mit einer harten Wirklichkeit für viele Schwarze in den USA.

Im Zentrum der Geschichte steht die junge Starr, die in zwei Welten gleichzeitig aufwächst. Auf der einen Seite lebt sie mit ihrer Familie in einem berüchtigten Schwarzenviertel, auf der anderen Seite besucht sie eine Privatschule mit reichen weißen Mitschülern. Zu Hause versucht sie, ihre genau einstudierte, glatte Art aus dem Unterricht nicht zu übernehmen. Dort wiederrum will sie auf keinen Fall durch ihr sonst selbstbewusstes Auftreten aufzufallen. Kein Aufsehen erregen, auf keiner der beiden Seiten. Somit wird ihr Alltag durch ständige Selbstkontrolle beherrscht.

Doch dieses fragile Gleichgewicht gelängt nach einer verheerenden Nacht aus den Fugen: Nach einer Party muss sie mit ansehen, wie ihr Jugendfreund Kahlil von einem Polizisten bei einer Verkehrskontrolle erschossen wird. Obwohl sie in der Theorie von ihrem Vater vorbereitet ist, überrollt Star eiskalt die soziale Ungerechtigkeit nach den Schüssen: Es ist unklar, ob der Täter überhaupt vor Gericht gestellt werden wird, sowohl Presse als auch Ermittler stürzen sich lieber auf die kriminelle Vergangenheit des Opfers als auf die Umstände seines Todes.

Während ihre Mutter Lisa versucht, Starr aus der Schusslinie zu ziehen, bekräftigt sie die Wut ihres Vaters Maverick in der Entscheidung, vor einer Grand Jury auszusagen, um eine Anklage gegen den Schützen zu erwirken. Doch diese Entscheidung tritt eine ungeahnte Lawine für die ganze Familie los:

Maverick wird von seiner Vergangenheit eingeholt, die durch ein kompliziertes Familiengeflecht näher mit Kahlils kriminellen Machenschaften verbunden ist, als den Carters lieb sein kann. Seven wird Opfer körperlicher Gewalt und die Anfeindungen seitens der Polizei als auch aus den eigenen Reihen gewinnen an Intensität. Als schließlich Schüsse auf ihr Haus abgefeuert werden, hat sich etwas in Starr selbst verändert: Das unauffällige Mädchen sieht sich gezwungen, aus seiner eigenen selbst auferlegten Rolle auszubrechen und sich seiner Umwelt (entgegen)zustellen. Ob sie es will oder nicht, sie muss Stellung beziehen – bei Ihren vermeintlichen Freunden, ihrer Familie und nicht zuletzt einer ganzen Bewegung, die sie mit ihrem Augenzeugenbericht unterstützt.

Das eine von solchen Themen geladene Geschichte trotz zahlreicher eindringlicher Momente nicht zu einem Trauerspiel gerät, liegt vor allem an Amandla Stenbergs großartigem Spiel. In einem Interview spricht sie von „zeitgenössischen Rassismus“, welcher das Leben ihrer Figur umgibt. Wie alle Darsteller kann sie selbst auf viele persönliche Erfahrungen zurückgreifen, welche ihrer Darstellung mehr Tiefe verleihen als nur pures Talent es kann. Daher ist auch schnell klar, was den Film besonders auszeichnet: Es ist die tiefe Menschlichkeit, mit welcher er seine Geschichte erzählt.

Stenberg ist das Herz und Zentrum des Geschehens. Die Verknüpfung aller Geschehnisse geben ihrer Figur eine angenehm realistische und logische Entwicklung, die sich in jedem Schritt nachvollziehen lässt und sich nicht in übertriebenen Gesten zeigt. Fein balanciert sie Angst, Wut und Mut und zeichnet so das Bild eines intelligenten Mädchens, dass weiß, wo ihre Limitationen liegen und was sie bewegen kann (und muss). Sie ist eine junge Frau, die nicht an ihren Lebensumständen bricht – sie wächst an ihnen und ist durch ihre traumatische Vergangenheit, von der wir langsam erfahren, sogar an ihnen gewachsen. Allen Widrigkeiten zuwider ist sie eine starke und lebensfrohe Person, die den liebevollen Rückhalt ihrer Familie nutz, um Kraft für ihre tägliche Maskerade zu schöpfen.

Dies funktioniert besonders gut, weil ihre Familiensituation und soziale Einbindung in die Schule ebenfalls differenziert dargestellt werden. Russell Hornsby spielt ihren Vater mit bestimmter Härte, tiefer Zuneigung und hart erlernter Weisheit. Daneben glänzt Regina Hall als Mutter Lisa, die fest entschlossen ist, ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Wie ihr Mann – oder auch wegen ihm – hatte sie s nicht immer leicht, ist aber fest gewillt, ihrem Motto treu zu bleiben und stets nach vorne zu sehen.  In kleineren Rollen brillieren Anthony Mackie als bedrohlicher aber dennoch menschlicher Dealer und K.J. Apa als Starrs (weißer) Freund.

Seine Lauflänge von 128 Minuten nutzt „The Hate U Give“ für einen Rundumschlag von wichtigen sozialen und menschlichen Themen, die angesprochen werden: Neben der Polizeigewalt, sozialen Missständen und dem Aufruf zur Zivilcourage schwenkt er auch bei unterschwelligem und inversem Rassismus, Gewalt innerhalb der schwarzen Gemeinschaft und für Jugendliche existenzielle Fragen vorbei. Auch wenn nicht jede Station so intensiv ist wie das Intro, trifft der Film sehr genau den richtigen Ton und hat eine beeindruckende Leichtigkeit, alles organisch ineinander zu verweben.

Zwar ist anzumerken, dass die juristischen Folgen der Schüsse – der eigentliche Angelpunkt der Geschichte und Auslöser der Eskalation des Konflikts –  gegen Ende hin aus dem Fokus verloren werden und der Epilog vielleicht etwas geschönt ist. Doch an seinem Höhepunkt findet der Film noch einmal die Wucht der ersten Szene zurück, wenn der Film für Folgen der Gewaltspirale eine beinharte Visualisierung findet. Die komplette Bedeutung des Kredos THUG LIFE (= The Hate U Give Little Infants Fucks Everybody) des Rappers Tupac Shakur, an welchen der an welchen der Titel angelehnt ist, wird dem Zuschauer lange nicht mehr aus dem Sinn gehen.

Regisseur George Tillman, Jr. erwähnt im Making Of, dass er bereits beim Titel wusste, dass es sich hier „um etwas Echtes“ handelt. Eine ungekünstelte Geschichte, die Diskussionen anregen will und wird. Mit seiner Verfilmung ist ihm ein ebenbürtiges Werk gelungen, welches seinen eigenen hohen Ansprüchen, der Vorlage und den facettenreichen Thematiken gerecht wird.

Hoffentlich inspiriert er viele Diskussionen – getan hat er es bereits mit diesem Artikel.

„The Hate U Give“ erscheint am 11.7. überall zu kaufen. Unbedingt ansehen.

Titel The Hate U Give
Veröffentlichung 11.07.2019
Altersfreigabe FSK ab 12 freigegeben
Länge 128 Minuten

Bild: 20th Century Fox Home Entertainment

Written by Alexander Frühbrodt

Alexander Frühbrodt arbeitete nach seinem Medienstudium für internationale Filmproduktionen. Der Marketingbeauftragte von seinsart schreibt als freier Autor über kulturelle und gesellschaftliche Themen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert