An heißen Tagen stehen Stühle und Kaffeehaustische da wie Gehirne, die sich Kaffeehausgäste ausdenken. Ich stehe mit Eiswürfeln und Lichtkörpern in Händen vor meinem Kaffeehaus in Berlin Mitte und versuche stündlich die verzweifelte Dramaturgie Leben in den Griff zu bekommen. Heute erst weiß ich, dass das Licht, das der eine von uns gemieden und der andere gesucht hat, uns beide blendete.
Meine Welt ist mein Kaffeehaus und ich lerne stündlich aus meinen Niederlagen. Angenommen, man wird nicht mit einem berühmten Namen als Marke in die Welt hinein geboren, wie soll man da heute überleben? Es wird einem wohl nichts anderes übrig bleiben, als den Zufall auf seine Seite zu bekommen und zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, flüstert einer der wenigen Gäste im Kaffeehaus. Ich kenne die Personen genau, die sich immer geärgert haben, dass die zufällig reich Geborenen die schönsten Plätze an der Sonne ergattern konnten, während sie mit ihren Fleißkärtchen nur in der Provinz herrschen durften. Bei diesen „reich Geborenen“ sieht alles nach einer ausgeklügelten Logistik aus, aber in Wirklichkeit improvisieren sie von Augenblick zu Augenblick.
Meine Sympathie im Kaffeehaus gehört der stillen Blume, die dort am hinteren Tisch 26 sitzt und irgendwann gepflückt werden will. Für Berlin ist sie zu langsam, um entdeckt zu werden, und dann ist sie auch schon verblüht. Ihr Name ist Ana. Der argentinische Kellner serviert ihr einen Espresso. Ana öffnet das Zuckertütchen, das sie in ihrer Hand hält. Sie gibt das fein gemahlene Weiß auf ihren Löffel. Wie durch eine Sanduhr lässt sie den Zucker auf die schwarze Oberfläche ihres Espressos rieseln, bis auf dieser Oberfläche ein kleiner Zuckerberg entsteht, der bald versinkt und sich löst, tief unten im Schwarz.
Die Hitze an diesem Tag nimmt zu. Ich setze mich an Tisch 34, hier ist es ein wenig kühler im Kaffeehaus. Kellner Karl bringt mir meinen geheiligten Aperitif. Dazu verselbstständigen sich, wie jeden Nachmittag gegen 17 Uhr, meine Gedanken. Ohne Geborgenheit werde ich unruhig. Ich stolpere ziellos vorwärts. Jeder Schritt nach vorne beginnt als ein Sturz, den die Muskulatur sofort auffangen muss. Ich wollte mein Leben lang immer alles sein. Heute bin ich ein netter Verwirrter. Unser ganzes Leben wird geprägt von den Rollenerwartungen, die die anderen an uns stellen. Und wir an sie. Es ist frappierend zu sehen, wie schnell wir uns alle in alle möglichen Rollen einfinden. Dann glauben wir, diese Rollen seien wir selbst. Wer Glück in seinem Leben hat, findet ein paar Menschen, die glauben, man sei o.k., und nicht nur Leute, die mit ihren Rotstiften dasitzen und schauen, was bei einem nicht stimmt.
Als ich den letzten Schluck meines Aperitifs zu mir nehme, denke ich, ob wohl unsere erlernten und eintrainierten Bewertungen und alles andere, was wir aus unserer Umgebung aufgesaugt haben, eigentlich unser ganzes Selbst ausmacht. Ich halte die Stunden zwischen Abenddämmerung und Morgengrauen für farbiger als den Tag in dieser Stadt und deshalb bin ich ein Jäger mit feinster Witterung für erstklassige Beute. Ob zu kurz gekommen oder durch den Zufall verwöhnt, alle bestehen wir aus einem Haufen biologischem und chemischem Müll. Mit 80% Wasser im Körper und 100% Zeit sind wir Touristen in unserem Leben bis zu dem Tag, an dem wir sterben und die Reise wieder zurückgeht in die atomare Geheimgesellschaft der kleinen, kleinsten Teilchen. Die Erde nimmt immer wieder das auf, was sie einst hervorgebracht hat. Herrlich, diese Lebensreise aus dem Nichts, ins Nichts zum Nichts. Ich werde diese kostbare Erkenntnis aushalten, mir den Tod zum Freund machen, bis das Kaffeehaus abends gegen 22 Uhr geschlossen wird. Aber auch nach 22 Uhr finde ich immer wieder das kleine, feine Lachen, im Glück meines Unglücks.
Als mich ein Stammgast letzten Freitag mit meinen Eiswürfeln und Lichtkörpern in Händen im Kaffeehaus aufsuchte, bat ich ihn mehrfach um Wiedergutmachung für die angebrannte Spaghettisauce unseres Kochs. Trage ich denn für alle Missgeschicke die Schuld, nur weil ich ein Arbeitgeber bin? Ich leide seit meiner Geburt an einer seltenen Krankheit, bin aber immer noch da, obwohl mich die Ärzte längst abgeschrieben haben. Ein falscher Buchstabe im Genalphabet, und du bist raus aus dem Spiel und kämpfst doppelt darum, kein bemitleidenswerter Statist im Leben zu sein.
Viele um mich herum haben Tumore, andere liegen in meinem Alter bereits mausetot am Schreibtisch. Aber auch wer gesund stirbt, ist definitiv tot und hat vielleicht sein Leben verpasst. Ein kurzes, buntes, mutiges Leben kann manchmal erfüllter sein als ein langweiliges, tumbes langes, und man kann um einiges besser leben, wenn man keine Erwartungen hat und die Dinge annimmt, wie sie der Zufall bestimmt. Richte zur Abwechslung mal die Hölle neu ein, sei nicht immer so überfreundlich angepasst, bringe Krieg und Frieden in dein Zaudern und Meckern, tanze mit deinem Leben, deinen Krankheiten und dem Tod. Es gibt so viele gesunde Schwachköpfe, die lustlos durch ihr Leben stolpern, und ich mit meiner seltenen Krankheit und den Behinderungen bin ein Lebenskünstler mit praller Lust am Dasein geworden. „Leben ist immer ein gefährdetes Projekt. Aber wir können nie tiefer fallen, als es die Natur für uns Menschen vorgesehen hat,“ flüstere ich leise dem Kellner zu, während er an mir vorübergeht.
Meine Worte spreche ich oft schutzlos hinein ins Kaffeehaus. Sie gelten nur für die nächsten Minuten, mit viel Glück vielleicht für die nächsten Stunden oder Tage. Meine Augen sind getrieben. Sie suchen nach der Symmetrie der Dinge. Sie suchen immer nach der Schönheit der Körper. Nach der Klarheit der Gedanken. Ich bin ein Wesen, das sich im Augenblick der Neugierde verzehrt, ohne dabei zu fragen, ob man mich später noch gebrauchen kann. „Der Mensch ist ein von Grund auf restaurationsbedürftiges Gebilde, das schon nach wenigen Stunden aus der Form gerät und deshalb müssen wir, die wir lieben und hoffen oder häufig an unserer Leere verzweifeln, jeden Tag renoviert werden,“ ruft Sloterdijk durch die Eingangstüre des Kaffeehauses.
Niemand ist von früh bis spät Genie. Alles was lebt, ist ein Mahnmal der Hinfälligkeit der Schöpfung. Seele, Liebe, Glauben sind Nervenreizungen, und gegen die Zumutungen der Natur gibt es kein Entrinnen. Für viele ist der bloße Akt des Weiterlebens die eigentliche Heldentat. Traurige Helden. Mit dem Leben ist es wie mit dem Schauspieler, der einen fremden Text so sagen kann, als hätte er ihn gerade erfunden. Es ist diese Fremdheit, aus der wir gemacht sind, aus der wir alle bestehen. Aus dieser Fremdheit schält sich das Selbst nach und nach heraus. So ist der Mensch ein Flickwerk, zusammengetragen aus dem Fremden, aus der Nachahmung, aus dem ständigen Spiegeln in den anderen. Das Selbst ist der größte Traum und Trugschluss des Menschen, kaum angedacht, verschwindet es wie eine Welle am Strand. Und trotzdem hat sich uns ein Selbst erschaffen, welches manchmal den Dingen gewachsen ist. Vielleicht habe ich mich dazu auserkoren, Geistesblitze im Kaffeehaus aufzufangen, um sie in Kunst, Besäufnisse und Sex umzuwandeln.
„Herr Ober, bringen Sie mir bitte eine Melange mit einem Glas stillen Wasser.“
Erinnerung! Was ist das „Ich“, frage ich mich wieder und wieder an diesem heißen Nachmittag im Kaffeehaus. Ist das „Ich“ nichts anderes als die Erinnerung an erlebtes Leben? Alles, was wir sind, ist Erinnerung. Am Anfang begleiten uns fremde Märchen. Später erzählen wir die eigenen. Die Erinnerung ist das unzuverlässigste was es gibt, denn man erzählt wahrheitsgemäß nur, was sich so nie begeben hat. Das „Ich“ ist ein Konstrukt des Gehirns, eine evolutionär nützliche Illusion. Und so erzähle ich mich lustvoll in der „Ich“form oder in der dritten Person, im Präsens und wenn es sein muss im epischen Präteritum, und ich glaube an die Dinge, die sich so nie begeben haben.
Die Erinnerung ist in Wirklichkeit nichts anderes als ein Kratzen an der Wand der Todeszelle des Lebens. Wenn man seine Erinnerungen verliert, verwandelt man sich in jemanden, den man noch nicht kennt. Und der, den man kannte, verschwindet. Meine Gedanken waren auf einmal so wild, dass ich plötzlich von meinem eigentlichen Ziel abgeschnitten war und meine Sätze klangen so, als würfelte ich nicht bei Tag im Licht, sondern im Dunkeln. Meine Gedanken trockneten am unteren Rand aus, Stück für Stück verdampften sie, und ich kehrte zurück in den Ozean ohne Erinnerung.
Mein Gehirn begann Ballast abzuwerfen, ich vergaß mich selbst, ehe die Welt beginnen konnte, mich zu vergessen. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass ich den Sonnenaufgang am Horizont nicht mehr erkennen konnte. Ich fand im Spiegel der Wellen mein Gesicht nicht mehr. Wenn ich die Wände meines eigenen Ichs zu erfühlen versuchte, fiel mich diese große, namenlose Trauer an.
Ich konnte nur noch die Luft atmen, die ich vorher abgekocht hatte. Ich hatte nie gelernt, ein Ich zu sein, das ohne die Gunst des Publikums überleben konnte. Aber, was heißt schon Ich. Ich ist immer ein anderer, sagte einst Rimbaud. Von uns selbst ist überhaupt nichts. Ich selbst bin schon nicht von mir. Ich will das Chaos nicht mehr kontrollieren, ich will es verstärken, die Ordnung in meinem Körper aufgeben, das Dynamit in meinem Rosenbeet zünden.
Ich bin ein begabter Dilettant, der eines begriffen hat: Nur der Tod erlöst uns von unserer Todesangst. Aber vielleicht war ich auch der gelungene Versuch der Evolution, in der Todeszelle des Lebens Haltung zu bewahren. Aber in Wirklichkeit interessiert der Tod mich nicht, es sei denn, er holt mich weg beim Sex. Es gibt keinen höheren Sinn, keine übergreifende Logik. Es gibt nur den Sinn, den du dir ausdenkst. Das Weglassen von Unsinn kann zum Beispiel Sinn ergeben. Es gibt keine Bedeutung, die über sich selbst hinausweist. Die Leute gehen nicht zum Südpol ihrer Träume. Sie gehen ins Büro, streiten sich mit ihrer Frau und essen Suppe. Sie sind immer etwas zu müde für das ersehnte Neue.
Wie oft verraten wir uns, nur weil wir allen gefällig sein wollen, weil wir um die Liebe und Anerkennung der anderen betteln. Unser Leben kommt niemals wieder, man sollte sorgsam mit ihm umgehen. Auch wenn einige von mir denken, ich würde mein Leben leichtsinnig wegwerfen: es ist voller Zufall, voller Leidenschaft. Ich hasse Wiederholungen! Wenn ich gehe, gehe ich, wie ich gelebt habe. Als fremder Körper, den ich mir in Laufe meines Lebens in harter Gedankenarbeit zu meinem eigenen Körper ausgedacht habe. „Aber wer traut schon seinen eigenen Erfahrungen,“ sagt der Kellner beim Vorbeigehen.
„Die Brille, durch die man schaut, beeinflusst, was man sieht, so wie einen die schlechten Zeiten daran erinnern, dass man die guten gar nicht wahrgenommen hat. Heraustreten aus den Ängsten, die Stempel seiner Vergangenheit erkennen, die Weltbilder, die einen bisher gefangennehmen, durchspülen,“ ruft der Philosoph an Tisch 44. Ab jetzt sollen alle in diesem Kaffeehaus ihre Gedanken heilen, eincremen mit Nivea, aus entzündeten Gedanken gesunde Gedanken denken. Das könne man durch tägliches Üben erreichen. Üben, üben und immer wieder üben! Der Philosoph am Tisch 44 bestellt Käsekuchen mit frisch geschlagener Sahne.
Selten habe ich die ganze Anwesenheit, sondern immer diesen Schleier um mich, dieser Hauch von anderswo. Ich schaue durch die Leute hindurch, irgendwohin, wo ich vielleicht lieber wäre. Ich will nicht an meine Abwesenheit verlorengehen, ich habe wunderbare Talente, viele haben nur die Abwesenheit. Heute bin ich launisch. Meine Widersprüche sind meine ständigen Begleiter. Dazu dieses Fieber ständig wechselnder Stimmungen. Überhitzte, unzuverlässige Gefühle.
Mein chemisches Gebiet gaukelt mir alles Mögliche vor. Gute und böse Bakterien plagen mich. Zu meiner schlechten Laune bestelle ich jetzt beim Kellner einen starken Espresso. Die Worte schwirren im Kaffeehaus herum wie Bakterien. Manche sind ansteckend, manche glückbringend, manche tödlich, die meisten reagieren nicht mehr auf das Penicillin.
Der tausendköpfige Drachen
Es gibt Tage im Kaffeehaus, da ist der tausendköpfige Drachen los, der mit tausend Zungen spricht. Viele der Gäste sind blind für die eigentlichen Fragen ihres Lebens und ich bemerke, dass für die meisten diese Blindheit ganz normal ist. Sie sind über die Jahre zu zynischen Opportunisten geworden, humorlos, farblos, ohne Lieder. Insgeheim verachten sie sich selbst und jeder verachtet den andern. Immer wieder dieser überregionale, heimliche Wunsch, der andere möge scheitern.
Jede Regung im Kaffeehaus wird vom Nutzen, von der Gier bestimmt. Jeder im Kaffeehaus ist Opfer und Täter seiner Umstände. Der eine ungeliebt, der andere unglücklich verliebt, der dritte ein verwöhntes Kind. Wieder andere fallen wie Sklaven ihrer Triebe übereinander her. Keiner hat gelernt, in Gelassenheit Ausschau nach der Liebe zu halten. Die flächendeckende Sucht nach dem Geliebtwerden, nach der Umarmung des Erfolgs, schwebt durch den Raum. Man will nur die Aufmerksamkeit der anderen, diese Aufmerksamkeit, die die unwiderstehlichste aller Drogen ist, man will gesehen werden, sein leeres Selbst ins Unendliche hin vergrößern. Nur diese anderen, glaubt man, bestimmen den Wert seines Selbst.
Alle sind klatsch- und geldsüchtig, und gleichzeitig herrscht die schlechte Angewohnheit, sich ständig mit den anderen zu vergleichen. In Wirklichkeit aber haben die Gäste im Kaffeehaus eine panische Angst vor ihrer Wegdenkbarkeit. Angst, die Geborgenheit und Ordnung ihrer falschen Gewohnheiten zu verlieren. Sie, die von der Überfülle sinnloser Produkte erschlagen werden, reduziert zum grauen Mittelmaß, abgerichtet zu tumben Konsumenten, deren Leben zu einer grauen Pflichtveranstaltung verkommen ist, sie sind ohne Poesie, die Sinne sind trockengelegt. In diesem Zustand kann kein Land mehr tanzen! Alle sehnen sich nach dem Tier, einer Liebe, dem Chaos, dem Kitzel, dem großen Abenteuer. Alle sehnen sich nach einem Erlöser, der sie aus ihren luxuriösen Käfigen befreit. Die Töchter und Söhne bestrafen sich mit zwanghaften Essstörungen.
Die trockene Luft im Kaffeehaus besteht aus Stickstoff, Sauerstoff, Wasserstoff und Neid. Neidorgien. Schwarmhysterie. Deflationen an Ideen. Und immer wieder dieser unstillbare Hunger nach Anerkennung, nach Ruhm, nach Zugehörigkeit, nach sozialem Aufstieg, nach unendlicher Vergrößerung. Kein Durchatmen. Gespräche, Drachengespräche, die einfach nicht verwehen. Ich bitte um ein anderes Theater in meinem Kopf.
An allen Lebewesen ist zu studieren, wie Erbgut in Handlung übersetzt wird. Eines ist dabei ganz sicher: Kein Mensch kommt böse zur Welt und jeder will erfahren, dass er von den anderen bejaht, geliebt, ja respektiert wird. Damals, als junger Mann, war für mich die Unordnung meines Geistes heilig. Ich war ein charmanter Ein-Mann-Rebell, ein Auflehnungsmeister. Heute muss ich wieder lernen, über den Dialog der Tauben hinaus auch wieder wehrhaft sein zu können, für die Gesundheit unsere Demokratie zu kämpfen. Raus aus dem dunklen Zimmer der Depression, raus aus der Langeweile. Sonst geraten wir in die Panik, in die fast schon gewohnte Erstarrung.
Ich habe mich jeden Tag zu entscheiden: Leben oder Gelebtwerden! Als junger Mann von 20 Jahren sagte ich allen, dass der Vater entthront werden muss, auf dass ich, der Sohn, herrschen möge. Aber dann, später, bin ich wieder zur Gegenseite übergelaufen und wurde zu dem Feind, den ich einmal hasste. War ich es oder war es der Fluss der Zeit, der meine Identität so gründlich änderte, dass ich mich auf der Straße nicht mehr wiedererkannte?
Oft gestatte ich mir, meine Tage in Untätigkeit zu verbringen. Ich sitze vor dem Kaffeehaus und sehe wieder jene den Boulevard zurücktreiben, die vor einiger Zeit hinaufgelaufen sind. „Üben und immer wieder üben,“ höre ich den Philosophen rufen, der längst seinen Käsekuchen verspeist hat und bereits ein Glas mit Cognac in Händen hält.
Angst. Eine Störung mit 60 Watt.
Ana und ich sind ein Paar. Heute, an diesem heißen Tag im Kaffeehaus wirft sie mir folgendes vor: „Ich bin gepeinigt, geschlagen von der Schlaflosigkeit, die du mir ständig aufdrängst. Statt der ersehnten Selbstvergessenheit und Leichtigkeit quälst du mich mit Gedanken. Unvollständige Gedanken, unfruchtbare Gedanken, zersplitterte Gedanken, die Angst vor dem Ungewissen, diese nächtliche Zerrissenheit. Du zwingst mich zu den Schlaftabletten, zur chemischen Beruhigung, diese verfluchten hohen Ansprüche, die du mir aufzwingst, diese ständige Unzufriedenheit, ich hätte mehr aus mir machen können, bessere Gedanken, besseres Schreiben. Erwartungsangst, Vermeidungsangst, Überforderungsangst, generalisierte Angst, Todesangst und Ruhmsucht, Versagensangst, Lebensangst, Krise und Größenwahn, die Angst das Falsche zu tun, die Angst vor der Ablehnung, die Selbstablehnung, die Angst vor der Angst, Verzweiflung und Höhenflug: alles vermischt sich zu einem Getränk in mir.“
Mit einer Energie von 60 Watt in ihrem Kopf spricht Ana weiter zu mir. „Ich bin eine ungeheure Vielheit. Ich habe wie Kraken ein Hauptherz und zwei Nebenherzen. Bin ich ehrlich, dann muss ich sagen, dass ich genauso geworden bin, wie das, was um mich herum passiert. Seit meinem ersten Atemzug verhalte ich mich genauso, wie der Markt um mich herum, depressiv, psychisch schwerst angeschlagen, euphorisch, ohne Mitte. Ich renne allem hinterher was der Schwarm ausbrütet, aber ich habe keine Mittel, meinen hysterischen Angstkörper zu beruhigen. Ich will mit dir auf der Stelle ficken, um diese Anspannungen loszuwerden.
Valium, Therapeuten ohne Ende, mit dem Fernrohr tief ins Innere schauen, und dabei erkennen, dass jeder von uns aus Zufall zusammengesetzt ist. Ich schaue weiter, ob Wesentliches zu entdecken ist. Ich bilde Rücklagen, eine nach der anderen, schließe Versicherungen ab ohne Ende, Versicherungen, die mir keinen inneren Frieden bringen. Der ständige Gedanke an die Zukunft macht meine Gegenwart zunichte, dabei wollte ich eigentlich Friseurin werden, um zu sehen, was sich in den Köpfen der anderen Leute abspielt. Letztlich ist alles auf Wasser geschrieben, und in den Wind gesprochen!
Die Zeit läuft einfach über alles hinweg. Das hat mich zur Grübelidiotin gemacht, mein klägliches Selbst aufgezehrt. Ich hoffe ständig geistig gesund zu werden, diesen Wahnsinn zu überlisten, so dass ich nicht mehr wissen muss, dass ich verrückt bin.
Meine Kunst beginnt, wenn mein Geist mehrere Dinge verbindet, zwischen denen normalerweise keine Verbindung besteht. Alle wollen den Leuten Dinge verkaufen, die sie vorher nicht vermissen.
Immer dieses Bemühen, Dinge aus meinem Kopf in meinen Mund zu befördern um mit meinen Worten ihre Erwartungen zu erfüllen! Aber eigentlich ist man nur dann gut, wenn man die Dinge macht, die einem selbst ähnlich sind.
Wir Menschen sind von unendlicher Bedürftigkeit. Wie zerbrechlich wir doch alle sind. Manchmal höre ich mich auf das Pflaster fallen und zerspringen. Ich will sie loswerden, die Ängste, die wir selbst sind, herausspülen aus meinem Blut, herausspülen aus den überfüllten Nervenzellen. Von allem haben wir zuviel. Diese Angst, die ich selbst bin, macht mich zur Spaziergängerin ins Nichts. Wo wohnt mein Zuhause, wo ist der friedliche, ruhige Ort, wo mir niemand etwas verkaufen will,“ fragt mich Ana mit einem Lächeln.
„Lege deine warme Hand in mich, das Meer dazu, das Licht, ich will wieder meine Freude sehen, wie schon einmal im Mai, als das quälende Insekt meinen Körper verließ und alle meine dunklen Gedanken aus meinen Augen stürzten, wie ein wilder, klarer Fluß. Du bist bei mir, ich weiß es jetzt. Du wirst Deine Hand auf meine Stirn legen, ich habe keine Angst. Es ist gut, zu dem Fluss zurückzufinden, der einen wirklich trägt.“ An die Bar gelehnt sagt Ana nach einer kurzen Pause: „Ach, wären doch nur unsere Gedanken still.“
„Komm einem Gangster nie mit Poesie, sonst bekommst du einen Schuss ins Herz,“ sagte der 80jährige Mann im dunklen Anzug, mit dunkler Brille im Gesicht, der soeben das Kaffeehaus betrat. Er bittet mich an seinen Tisch. Jeder richte es sich in der Wahrheit so ein, wie er mit ihr leben könne. Er sei unscharfe Aufenthaltsorte gewohnt. Er selbst sei in manchen Situationen zu einem unscharfen Aufenthaltsort geworden. Ich solle ihn nicht fragen, warum das so gewesen sei, es gebe nicht für jeden Vorgang einen Grund. Er, ich, das Licht, keiner von uns wisse je genau, an welchem Ort wir oder die Dinge auftreffen würden.
Heute fühle er sich wie ein alter, verbrauchter Haifisch, der nicht mehr zubeißen könne und die Orientierung im Meer verloren habe. Das Ziel aller geistigen Anstrengungen in seinem Leben sei das Erkennen der Schönheit. Aber jetzt sei er alt und er verachte das Alter. Das Alter mit seinen demütigenden Schnappatmungen. Dieser verfallende Körper, dieses biologische Verwelken, dieses sinnlose Überbleibsel unserer hoch entwickelten Medizin. Es ekle ihn an, das Alter, dieser entwürdigende Vorgang der Evolution. Er sehe sich beim Verfaulen zu. Das Schlimmste: Alt werde man auch, während man es leugnete. Bei den meisten Menschen beginne das Alter sehr früh, nämlich in dem Moment, wo Rentenansprüche gegen Leben eingetauscht würden. Er verachte das Alter, auch wenn hier Erfahrung und Weisheit vermutet würden. Weisheit sei flüssig. Sie verändere sich ständig und man hätte sie nicht einfach mit den Jahren. Hätte man aber etwas davon, könne man sie auch immer wieder verlieren. Manchmal denke er zurück an seine Eltern.
Diese seien eine Zumutung. Schon allein deshalb eine Zumutung, weil man sie sich nicht aussuchen könne. Niemand habe ihn gefragt, ob er überhaupt geboren werden wolle, niemand, ob er mit den Eltern, die ihm zugewiesen wurden, einverstanden war. Mit niemandem konnte er über Chancen, gesunde Gene, Anlagen und Talente, die ihm geliefert wurden, verhandeln. Die meisten Menschen seien aufgebähte Affen und er wolle auf keinen Fall wegen der vielen Blähungen an der Decke kleben. Schaue man nach oben, würde man sie dort alle sehen können. Er sei mit Geschichten angefüllt, die ihm das Leben gebracht hätten. Jeder von uns bestehe letztlich aus einer Vielzahl kleiner Geschichten. Der Mensch sei nun mal das Tier, das sich Geschichten erzähle, jede Familie hätte ihre eigene Geschichte und in jedem von uns läge ein tiefes Verlangen, seine eigene Geschichte zu erzählen. Die Vorstellung, zu sterben, ohne seine Geschichte zu Ende erzählt zu haben, gäbe uns das furchtbare Gefühl, niemals gelebt zu haben.
Die Hitze im Kaffeehaus wurde unerträglich. „Könnte man nur den Wind einladen,“ sagte der Alte. Aber man kann den Wind nicht einladen, man kann nur das Fenster offen lassen.
Der Wind
Seit diesem Tag laufe ich immer dem Wind entgegen. Er macht mich frei von falschen Gedanken. Er ist Wettermacher und Weltgeist, Lebensspender und Todesbote, Herbstluft, Wintersturm und Frühlingsduft. Der Wind schenkt mir Trost, flüstert und pfeift, lärmt und legt sich geschmeidig um mich. Wind entsteht, Wind vergeht, ein unsichtbarer, unberechenbarer, wilder Geselle, ein Freibeuter der Lüfte.
Der Wind flüstert mir zu, dass das einzig Konstante an ihm der permanente Wandel sei und dass das wahre Wesen der Dinge den meisten Menschen immer fremd bleiben wird! Der Alte verlässt das Kaffeehaus. Ich setze mich zu Ana am Tisch 26.
Der Kellner bringt zwei Espresso. Ana öffnet wieder das Zuckertütchen, das sie in ihrer Hand hält. Sie gibt das fein gemahlene Weiß auf ihren Löffel. Wie durch eine Sanduhr lässt sie den Zucker auf die schwarze Oberfläche ihres Espressos rieseln, bis auf dieser Oberfläche ein kleiner Zuckerberg entsteht, der bald sich bald löst und versinkt, tief unten im Schwarz.
Manchmal aber kommt ein wenig Glück und ein Stück Geborgenheit ganz einfach daher und man spricht plötzlich im Kaffeehaus mit dem Menschen hinter der Maske und man erkennt, dass man selbst entscheiden kann, ob sein Leben ein Riss in der Zeit ist, oder ein Baum, in dessen Krone man hingewachsen ist. Dank der Gravitationskraft, des geduldigen Staub- und Klumpensammelns, erwuchs aus dem Zufallskrümel Erde doch allmählich eine Kugel von erheblicher Attraktivität. In ihr, der Heimat von uns Menschen, können wir aber immer nur beginnen, nie vollenden. Dazwischen liegt unser wahres, kurzes und kollektives Zuhause.
Aus diesem Grunde ziehe ich meinen Gedankenworten die Tintenkleider aus, so sehe ich ihre nackten Körper, die genau wie alle anderen, Angst und Hoffnung vor ihren Schwächen und Gebrechlichkeiten haben. Alles was in unseren Weltbildern und Bewertung herumkreist, seien es Heimat, Religion, Philosophie, Wissenschaft, all diese Dinge sind bloße Geschichten, die wir uns erzählen und aus denen wir Trost und Glauben beziehen. Erklärungsmodelle für unser Dasein sozusagen.
Aus diesen Geschichten, von den Göttern bis zu den klugen Maschinen, ist unser Bewusstsein, unser „Ich“ entstanden: aus zufälligen Weltbildern in einer zufälligen Welt. Unser „Ich“ ist unser Zuhause, unser „Ich“ ist ein Märchen, welches das Gehirn sich selbstständig immer weiter erzählt. Da jeder Mensch seine eigene Märchenrealität hat, müssen wir, um miteinander klarzukommen, Realitäten haben, die sich überschneiden. Die Vorstellungen von „Zuhause“ oder „Heimat“ sind solche Realitäten oder besser: ausgedachte Hirnleistungen. Unser Gehirn ist süchtig nach Gewohnheiten. Neue Straßen, neue Vernetzungen in ihm anzulegen ist immer Schwerstarbeit.
Egal, welcher Nationalität wir angehören, alle sehnen wir uns nach Dauer in einer sich immer schneller veränderten Welt. Nach einer Heimat. Nach einem Zuhause.
Zuhause! Heimat! schrie einer draußen auf der Straße vor dem Kaffeehaus. Der Philosoph im Kaffeehaus fühlt sich angesprochen, als die Wahnsinnsschreie an sein Ohr drangen. „Zuhause ist, wo deine Geschichte beginnt. Wo dein Gehirn zu wachsen beginnt. Wo die vielen fremden Eindrücke, die aus deiner Umwelt stammen, Stück für Stück zu deinem eigenen Selbst vernetzt werden, bis in deinem Gehirn dein Geschichtenerzähler die für dich schlüssige Interpretation der Wirklichkeit liefert. Du suchst Orientierung, Halt im unendlichen Kosmos. Halt, eine Idee von Heimat, von Wiedererkennen, vom Geruch mütterlicher Geborgenheit.
Wir erschaffen uns aus unseren Bedürfnissen Realitäten, um uns zu beruhigen, (so wie es der Philosoph mit seinen Worten tut). Einen Hafen in der Zeit brauchen wir, damit unsere Lebensreisen halbwegs gelingen. Wenn Kinder keinen sicheren Ausgangspunkt hatten von dem aus sie aufbrechen konnten, keinen liebevollen Bezugspunkt, keinen Ort der Beruhigung, dann kann es auch keine gute Reise werden, denn alle unsere Reisen benötigen Mut und Neugier, Offenheit und Geist. Wir müssen dafür unsere Mutmaschine in Gang setzen und üben, üben, üben, täglich, um diese innere Gelassenheit zu erreichen, die für Reisende so lebensnotwendig ist. Der Kamin ist ein Synonym für Zuhause. Er bringt das wärmende Feuer mit der Erde zusammen, aus der wir alle gemacht sind und zu der wir alle wieder werden.
Für mich ist Zuhause die Höhle, das Zimmer, das Kaffeehaus, wo ich mich geborgen und sicher fühle, das Haus mit einer Gemeinschaft, eine Welt von bunten Gesprächen voll von Verständnis und Freundlichkeiten. Da meine Familie eine zerstrittene war, Angst eine häufige Begleiterin in meinem Leben, wurde die Idee einer häuslichen Geborgenheit zu etwas Elementar-Sehnsüchtigem in meinem Leben. Ich war ständig hin und her gerissen, ja zerrissen in Heimweh und Fernweh. Da mein kindliches Zuhause oder ein Heimatgefühl nie so in meinem inneren Fundus vorhanden war, musste ich diese Sehnsuchtsräume in meinem Leben ständig neu erfinden.
Endlich einen Platz in der Welt zu haben, ist Kern und Ausgangspunkt all meiner Betätigungen. Da die Natur kein Zuhause für uns Menschen bietet in der wir überleben können, muss ich es mir schaffen, muss ich es mir konstruieren. So begann ich langsam ein Kaffeehaus zu erfinden. Ich bin süchtig nach Orten, wo es keiner Sicherheit bedarf, weil es nichts gibt, vor dem ich mich fürchten oder verstecken muss. Mein Kaffeehaus oder meine Philosophie ist nichts anderes als ein großer Trick, mir eine verständliche, erklärbare und begreifbare Welt zu erschaffen. Das Kaffeehaus sind die Menschen, die ich verstehe und die mich verstehen. Mein Kaffeehaus ist kein Ort, es ist ein Gedanke der zu einem Gefühl wurde.“
„Herr Ober, bitte eine Melange.“
Bilder: Gerald Uhlig-Romero; Titelbild: unsplash